Zeitschrift für Rechtswissenschaft herausgegeben von der juristischen Facultät der Äeietrfitdt Dorpat. / / ' " • \ ,x J Dritt« Jahrgang. x 1 r> SV % Jtorjmt, 1871. Verlag von C. Mattiesen. (Leipzig: Ä. F. Köhler'sche Buchhandlung) Im Namen der juristischen Facultät der Universität Dorpat heraus­ gegeben. Dorpat, den 11. August 1871. C. v. Rummel, 109. d. Z. Decan. .' >i. #. N ̂ w Z a h a l t . Seite I. Zwangsenteignung und Provinzialrecht. Von D. L. . . . 1 II. Die Friedensrichter als Strafrichter nach russischem Recht. Vom Professor Dr. I. Engelmann 18 Iii Präjudicien der Rigaschen Stadtgerichte aus dem Gebiete des Civil- und des Handelsrechts. Vom Assessor V. Zwingmann in Riga. (Fortsetzung.) 69 IV. Läßt sich die für das Verfahren vor den friedensrichterlichen Be­ hörden geltende Civilproceßordnung vom 20. November 1864 aus die Ostseeprovinzen anwenden? 117 V. Vorschläge zur Reform des in Liv-, Est- und Curland gelten- den Civilprocesses. Von O. Schmidt 216 VI. Das „dingliche" Miethrecht der modernen Provinzialgesetz- gebung. Von Mag. C. Erdmann 240 VII. Existirt nach heutigem provinciellen Recht noch eine Injurien- klage-auf Abbitte? Von Oberhofgerichtsadvocat I. Schiemann 257 VIII. Präjudicien der Rigaschen Stadtgerichte aus dem Gebiete des Civi l - und des Handelsrechts. Vom Assessor V. Zwingmann in Riga. (Schluß.) 264 I. Zwangsenteigilllng und Provinzialrecht. (Balt. Monatsschr., Bd. 19, S. 267—285: Die Expro­ priation nach provinziellem Rechte.) Der Verfasser der diesen Gegenstand behandelnden Er- örterung im Mai- und Juni-Hefte der Baltischen Monatsschrift hat sich durch zeitgemäße Anregung der Expropriationsfrage und ihrer Stellung im Provinzialrechte ein nicht zu verkennendes Verdienst erworben. Die seinen Rechtsansführnngen voraus- geschickten Momente wirtschaftlicher Benachtheilignng, welche das r ei ch s r e ch tl i ch e Entfchädigungsv erfahren mit sich bringt, und die warme Verteidigung des provinziellen Stand­ punktes können nicht verfehlen, das specielle Interesse unserer Grundbesitzer und das höhere jedes Freundes einheimischer Ent- Wickelung in Anspruch zu nehmen. In der Presse wird indessen die practische Entscheidung dieser Frage, welche, wie verlautet, in den höheren Reichs- behörden vorbereitet wird, zumeist uur dadurch gefördert wer- den können, daß der RechtSpuuct völlig klar gelegt wird, ohne alle Beimischung. Die Betonung anderer als strenger Rechtsgründe könnte in den Augen mancher Leser sogar ein schwächendes Moment bilden und dürste überhaupt wohl nur dann von bedingendem Einfluß sein, wenn es sich de lege ferenda handelte. In diesem Falle würden freilich in Bezie- i 2 hung auf die Lehre von der Expropriation verschiedene Stand- punete, namentlich auch der rein staatsrechtliche, das bürger- liche Recht ganz beseitigende, sich einnehmen lassen. Der Ver- sasser steht nun aus dem Boden des geltenden Rechts; seine Erörterung handelt de lege lata; das geltende Recht ist ganz eigentlich der Inhalt des Artikels. Allein, wir gestehen es, wir hätten diesen Inhalt gerade zum Theil anders gewünscht. Die Darstellung leidet zunächst an Reticenzen und dies scheint uns ein Mangel; denn dadurch riskirt sie, indem sie den Ver- tretern der gegentheiligen Anschauung eine Waffe entwindet, ihnen eine andere gefährlichere in die Hand zu drücken. „Ein Gesetz, welches das Verfahren in Expropriations- fachen regelte — so heißt es auf S. 275 — haben wir aller- dings nicht, wir bekennen es, was uns aber nicht fehlt, ist ein Recht", für das wir eintreten müssen. Und weiter: „der Einwand, daß im (provinziellen) Civilproceß keine Regeln für das Zwangsenteignungsverfahren vorhanden und daß in Folge dessen die bezüglichen Bestimmungen des Reichs- rechtes in Anwendung zu bringen seien, ist, vom ju- ristischen Standpunct betrachtet, nicht statthaft." (S. 276.) Endlich ebendaselbst: „Zu verzeihen ist das Ver- fallen in derartige Jrrthümer vielleicht denjenigen, die kein Ver- ständniß haben für die Entstehung und Ausbildung des pro- vinziellen Rechts, für feine Quellen und historischen Grund- lagen, für feinen innigen Zusammenhang mit verwandten Rechtssystemen deutschen und römischen Ursprungs" u. s. w. Wir gestehen, daß wir beim Lesen dieser Sätze von vornher- ein uns eines Zweifels daran nicht haben erwehren können, ob der Verfasser in seiner Ausführung den nothwendigen For- derungen unserer Rechtsgeschichte vollständig Rechnung getra- gen hat. Wie? Ein Recht sollten wir haben, aber kein Ge- setz, welches dieses Recht begründete? Und doch soll dieses Recht ohne Gesetz genügen, um die, die es bisher nicht an­ 3 erkannten, vom juristischen Standpunct aus als Irrende zu bezeichnen? Befragen wir die Geschichte des Rechtsinstituts, so weit die einheimische Doctrin sich damit beschäftigt hat — wen finden wir unter den Irrenden? Keine Geringeren als F. G. v. Bunge und C. Neumann, Männer, von denen der Eine als der Nestor der baltischen Rechtswissenschaft gilt und der An- dere, zu früh dahin geschieden, in dem reichen Kranz der Ju- risten seines engeren Vaterlandes den unbestrittenen Ruhm des ersten genoß. In F. G. v. Bunge's Liv- und ehstl. Priv.- Recht, Ausg. 1847, heißt es, S. 203, Anmerk. b): „Im Uebri- gen (namentlich wenn die Abtretung zum Besten des Staates geschieht) müssen hier wohl die Bestim- mnugeu des neueren russischen Rechts über Expro­ priation und Entschädigung für dieselbe in Anwen- duitg treten." (Swod der bürgerl. Gesetze, B. X, Art. 488 —505, [Ausgab. 1842]). Und in dem v. Bunge'schen Kur- ländischen Privatrechte, dessen Darstellung von C. Neumann, was das praktische Recht betrifft, genau durchgesehen worden ist und als mit seinen Ansichten durchaus in Uebereinstim- muug angenommen werden darf (vgl. S. VIII, IX), lesen wir im 8 Hl, Anmerk. Folgendes: „Die Expropriation so- wohl, als die Entschädigung für dieselbe muß ge- genwärtig nach den Bestimmungen des russischen Reichsrechtes (Swod d. bürgert. Gesetze, B. X, Art. 488 — 505, Ausgab. 1842) beurtheilt werden." Dies aber ist, was der Verfasser der Erörterung in der Baltischen Monatsschrift verschweigt; wie wir glauben, mit Unrecht. Freilich wäre die Anführung der bestehenden älte- ren provinzialrechtlichen Vorschriften über die Zwangs- euteignnug, wie sie gleichfalls in dem v. Bnuge'scheu Livl. Priv.-Recht, S. 203 und dem Kurl. S. 206 sich finden, für unsere Frage kaum von Werth gewesen. Diese Vorschriften waren ganz vereinzelter Natur uud ihre verbindliche Kraft eine l* 4 beschränkte; sie bezogen sich ans Abtretung von Grund und Boden zu Straßen und öffentlichen Plätzen, sie hatten mithin in der Frage über die Expropriation nur dieselbe untergeord- nete Bedeutung, welche etwa die in älteren deutschen Partien- larrechten vorkommenden Einzelbestimmungen über die Zwangs- abtretung von Grundstücken zur Anlegung von Bergwerken dem neueren allgemeinen Expropriationsinstitut gegenüber be- sitzen. Sie enthalten keine allgemeine Rechtsregel und beru- hett noch nicht auf demjenigen Grundsatze, der sich allmälig, seit dem Erscheinen des allgemeinen preußischen Landrechtes und des code civil als Rechtsinstitut der Expropriation in den europäischen Gesetzgebungen Eingang und Geltung ver- schafft hat und auf welchem auch das russische Expropriations- gesetz vom 7. Juni 1833 ruht*). Um dieses Rechtsinstitut aber und dessen Anwendungsweise (das Entschädigungsverfah- reit) handelt es sich in unserem Fall allein; es war dem ein- heimischen Privatrechte als solches völlig fremd; die Ansicht v. Bunge's und Neumann's über dasselbe war also, da sie auf das sonst unbedingt unanwendbare auf jenes Institut gegrün- bete Reichsrecht recurrirte, in der Erörterung mit der citirten Quelle hervorzuheben unb ihrem damaligen und gegenwärtigen Werthe nach zu beleuchten. Was nun aber der Verfasser der Erörterung zum Beweise seiner eigenen, hiervon abweichenden Meinung anführt, nach welcher ein provinzielles Recht in die- fem allgemeinen Sinne bezüglich des Entschädigungsverfahrens dennoch existirt, trotz mangelnden Gesetzes, und nur practisch zu verwertheu ist, so beschränken sich die hierfür angeführten Gründe aus das Folgende. (Wir glauben die Frage wegen *) Die Nechtsregel lautet in dem code civil vom 21. März 1804 folgendermaßen: „Nul ne peilt etre contraint de ceder Li propriefce, si ce n'est ponv cause d'ntilite publique et moyemiant nne juste et prealable iudemnit6." Seinen gegenwärtigen Namen erhielt das neue Rechtsinstitut erst durch das französische Expropriationsgesetz v. *. März 1810. 5 dieses sogenannten Entschädigungsverfahrens allein ins Auge fassen zu dürfen, indem wir die wegen der Abtretung des Grundeigenthums, da sie immer durch Allerhöchste Special- gesetze entschieden wird und daher nur ganz ausnahmsweise streitig werden kann, bei Seite lassen.) „Der Entschädigungs- anspruch — heißt es S. 274 — unterscheidet sich, seinem Wesen nach in nichts von Entschädigungsansprüchen im All- gemeinen; die betreffende Klage gehört somit unzweifelhaft vor die Civilgerichte." Ferner, S. 275: Wenn daher das Provinzialrecht hinsichtlich des bei der Zwangsenteignung zu beobachtenden Verfahrens auf die Civi lproceßordnuug verweist, so ist dadurch unverkennbar ein gericht- l iches Verfahren mit gerichtl ichem Erkenntniß in- dient." Dies die beiden Hauptgründe des Verfassers. Daß Bestimmungen über das Verfahren zur Effectuirung eines Civilanspruches einen Theil des Civilproceßverfahrens bilden und in den bezüglichen Codex gehören, leuchtet olme Weiteres ein; die fernere Konsequenz aber, daß ein solches Verfahren unbedingt ein gerichtliches (richterliches) mit ge­ richtlichem Erkenntniß sein müsse, läßt sich mit den angeführ­ ten Sätzen, da diese im Grunde nur Behauptungen enthalten, schwerlich erweisen. Wie das Reichsrecht sein vor Behörden ad hoc, vor aus Organen der Verwaltung zusammengesetzten Commissionen auszuführendes Entschädigungsverfahren in das Civilproceßgesetz (Swod, B. X, Th. II, Art. 1919, 1920,1972 it. fg.) ausgenommen hat, ganz ebenso haben auch unsere einheinti- sehen Proceßrechtslehrer beispielsweise das Verfahren zur Es- fectuirung gewisser Civil-Ansprüche bei den Gouvernements- Regierungen in ihre Proceßhandbücher aufgenommen (Sam­ son, Institutionen § 1010). Es ist durchaus nicht abzusehen, warum in der vorbehaltenen Codification des baltischen Civil- proceßverfahrens die Entschädigungsprocedur bei der Zwangs- enteignung nicht auch administrativen Behörden würde zuge­ 6 wiesen werden können, sofern nur ein dieselbe diesen Behör- den zuweisendes positives baltisches Gesetz als existent und geltend angenommen wird. Ans die Existenz und Geltung ei- nes solchen positiven Gesetzes über die Zuweisung der Sachen dieser Art an die Justizbehörden wird es, wenn dieselbe nach- gewiesen werden soll, eben überall ankommen. Der Verfasser unserer Erörterung stützt sich auf ein Recht, für welches, wie er gesteht, das entsprechende Gesetz fehlt, die genannten Juri- stett auf ein Recht, dessen Quelle sie vitiren. Liegt es nun nicht, sobald man einfach bei dem codificirten Privatrechte ste­ hen bleibt, mindestens ebenso nahe, anzunehmen, daß, wenn der Art. 868, Anm. 1 des Prov.-R. Th. III das Verfahren in Sachen der Expropriation in den zu codificirenden Civil- proceß verweist, er nicht daS justizgerichtliche, sondern gerade das administrative des, nach dem Zengniß der genannten Ju­ risten hier bei der Zwangsenteignung zu Staatszwecken in An- Wendung zu bringenden (und allerdings auch zum Theil that- sächlich in Anwendung gekommenen) Reichrechtes tu das Civil- proceßversahren zu verweisen gemeint habe oder habe meinen können? — Dieses Bedenken hatte der Verfasser nur dadurch, daß er die neueste einheimische Geschichte des Rechtsinftituts in nähere Betrachtung zog, unserer Meinung nach erfolgreich zu beseitigen vermocht. Denn diese nähere Betrachtung hätte ihn eben jene Quelle entdecken lassen, die zur Unterstützung der von ihm vertrete- nett, in gegenwärtigem Augenblick, wie auch wir glau- ben, allerdings richtigen Rechtsanschauung ganz unentbehrlich ist. Die citirte Anmerkung des Art. 868 des Prov.-Rechts ist diese Quelle nicht, da sie, an und für sich betrachtet, ebenso- wohl die ältere, als die gegenwärtig angeregte Anschauung zuläßt; der Art. 868 selbst ist sie ebenso wenig. Wie lange besteht nun aber überhaupt die Expropriation als Rechtsinsti- tut in dem oberwähnten modernen Sinne in den Ostseeprovin­ 7 zen, und welcher legislatorische Act hat sie dort eingeführt? Das erwähnte Institut ist bekanntlich als praktisches Recht sehr neuen Datums in Europa; seine Väter sind die Verfasser des allgemeinen preußischen Landrechts; es ist daher cum omni causa den angestammten provinziellen Rechten, wie schon oben bemerkt, durchaus fremd. Wie und wann erschien es denn bei uns? — Auf diese Fragen muß man nun bekennen, daß das Institut der Expropriation in seiner neueren allgemeinen Be- deutung in den wenigen Fällen, in welchen es bis zur Her- ausgäbe der oben erwähnten Lehrbücher des eminentesten Dar- stellers unseres Privatrechtes Anwendung fand, eine andere Basis, als die einzelner, ihrerseits auf dem an sich hier nicht eingeführten Reichsexpropriationsgesetz vom 7. Juni 1833 fußen­ der Allerhöchster Befehle über die Zwangsenteignung gar nicht gehabt hat. Nach dem Erscheinen der letzten Auflage des v. Bunge- scheu Privatrechtes änderte sich aber dies Verhältniß. Es trat nämlich das neuere Rechtsinstitut der Expropiation — beach­ ten wir das wohl — selbst ständig und ganz unabhän- gig von dem Reichsrechte als integrirender Theil unseres Pri- vatrechtes in dasselbe ein und erst von diesem Augenblicke an war es um die weitere Applicabilität der älteren Rechts- anschauung geschehen. Es war die Livländische Agrar- und Bauer - Verordnung (ein Gesetz, das in mehrfacher Beziehung auch über das agrarische Gebiet hinaus Keime gepflanzt hat), welche in ihrer zweiten Ausgabe vom 13. November 1860 in den Art. 42—44 die bekannte Definition des neueren Rechts- instituts der Expropriation, freilich — wie wir zeigen werden — in räumlich und begrifflich beschränkter Application, aber in der Form einer principiellen privatrechtlichen Gesetzesbestim- mung und mit einer begleitenden positiven Vorschrift über das Verfahren zuerst aussprach und es darf angenommen wer- den, daß, da auch die dem erwähnten Gesetz nachgebildete 8 estländ. Bauerverordnung eine ähnliche Festsetzung brachte, das Privatrecht, wie wir es in dem codificirten III. Th. des Prov.- Rechts vom I. 1864 vor uns haben, einer Bezugnahme auf das Reichsrecht in seinen betreffenden Quellencitaten nunmehr erst ganz entrathen konnte. Die Definition ist denn auch in dem oft gedachten Art. 868 selbstständig und ohne alle Bezug- nähme aus das Reichsrecht, jedoch in wesentlicher Ueberein- stimmung mit diesem gegeben worden. Aber auch der Hin- weis aus daS Civilproceßverfahreu in der Anmerk. 1, 1. c., erhalt durch die vorausgegangene selbstständige Einführung des Zwangsenteignuugsiustiwts in das einheimische Privatrecht eine ganz andere Bedeutung, als er ohne dieselbe gehabt haben würde. Denn bei dem uualterirten Fortbestehen der einzigen bisherigen Rechtsbasis einzelner, auf ein lediglich dem Reichs- rechte eigentümliches Institut gegründeter Atterhöchster Be- fehle wäre eine Ansicht über das gleichfalls nur hierauf zu stützende Entfchädigungsverfahren, wie sie v. Bunge aussprach und C. Neumann getheilt hat, eine nicht zu umgehende Eon- sequenz gewesen; sie war es seit dem selbstständigen Auftreten des neuen Rechtsbegriffes aus dem Boden des provinziellen Privatrechtes nicht mehr. — Worin bestand nun aber die hier- durch bedingte besondere Bedeutung der Bezugnahme auf das baltische Proceßverfahren? Die Anmerkung war und ist ja nichts als ein einfacher Hinweis; sie enthält nicht die mindeste An- deutung über die Art des Verfahrens; wie kann sie dennoch die Kraft der Anordnung des einen (justizrichterlichen) und des Ausschlusses des anderen (administrativen) Verfahrens besitzen? Um diese Frage richtig zu beantworten, scheint unbedingt er- forderlich zu beachten, daß jene wichtige Regel der Livl. Bauer- Verordnung nicht nur das Dogma der Expropriation im Sinne des neuern Rechts definirte, sondern gleichzeitig auch die For- derung des richterlichen Entschädigungsverfahrens mit aus- drücklicher Beziehung aus dieses Institut aufstellte. Allerdings 9 Wird auch von unseren! Verfasser auf die erwähnten Bestim- mungen (S. 269) beiläufig aufmerksam gemacht; sie werden aber nicht als Quellen baltischen Privat- und Proceßrechtes in ihrem tieferen Zusammenhang mit der ganze»» vorliegenden Frage aufgefaßt; es wird ihnen namentlich nicht diejenige entscheidende Bedeutung zuerkannt, die ihnen, wie wir glau- ben, gebührt. Die mehrerwähnten Art. 42, 43 und 44 der Bauer-Verordnung vom 13. November 1860 lauten nun fol­ gendermaßen: Art. 42: „Dem Grundherrn verbleibt auf allen Grundstücken seines Gutes, sie mögen durch Verkauf oder Ver- Pachtung in definitiven oder zeitweiligen Posseß eines anderen Besitzers übergegangen sein, ohne Weiteres das Recht vorbe- halten, in Fällen der Notwendigkeit, zum Zwecke auszufüh- render Ent- und Bewässerungen, sowie Wege- und Wasser- Coiumunicationen, Eigenthumsablösung gegen Entschädigung (das ist Expropriation zum allgemeinen Besten für eine gewisse Ent­ schädigung) oder Einziehung von Ländereien vorzunehmen. Der Gutsbesitzer ist aber zuvor nachzuweisen verpflichtet, daß zur Ausführung seiner projectirten Maßregel die Expropriation resp. Einziehung des Landes nothwendig ist und namentlich nothwendig in dem projectirten Maße." Art. 43: „Nächst die­ sem muß vor der kompetenten Behörde die Nothwendigkeit und der Nutzen derjenigen Unternehmung nachgewiesen werden, zu welcher die Expropriation gefordert wird, und daß dieselbe sich nicht auf die Haupt- oder nothwendigsten Theile des Bauer­ landes erstreckt, sondern nur in der Durchführung von Kanä­ len, Straßen, Gräben oder dergleichen mehr besteht." Art. 44: „Ist der Nachweis der Nothwendigkeit geliefert, so kann der Inhaber des betreffenden Grundstücks die Expropriation od-.r Einziehung dieser Ländereien nicht verweigern, sondern tritt dieselbe, wo sich die Interessenten nicht gütlich hinsichtlich der dem Inhaber des zu expropriirendeu, resp. einzuziehenden Grundstücks zu entrichtenden Entschädigung vereinbaren kön- 10 nett, in Grundlage einer Abschätzung ein, die aus dem Wege Rechtens vor dem ordinaireu Richter zu exporti- reit ist." Diese Vorschrift ist nun freilich in ihrem gebietenden Theil nicht erschöpfend, ja nicht einmal den in ihr selbst und im Art. 868 des Prov.-R. Th. III definirten Rechtsbegriff voll­ ständig deckend; denn erstlich ist es zunächst nicht das Staats­ interesse, das Gemeinwohl, um das es sich hier handelt, sott- dem das wirtschaftliche Interesse eines verschwindend kleinen Theils des Staatsganzen; sodann ist es hier nicht ein Aller- höchstes Gesetz, das die Abtretrungspflicht festsetzen soll, son­ dern ein Dekret der Localbehörde. Dennoch aber ist der Rechts- grund hier und dort ein gleicher, indem die positive Vorschrift des Gesetzes lediglich auf den dem Provinzialrechte bisher ganz fremden modernen Rechtsbegriff der Expropriation bafirt wird, daher bei dem wirtschaftlichen Interesse des Grundstücks das Staatsinteresse wirtschaftlicher Verbesserung überhaupt als versirend gedacht werden muß. Eben daher ist denn auch das durch den Art. 42 der B.-V. vom 13. Nov. 1860 begründete Rechtsverhältniß ein dem provinzialrechtlichen des Art. 868 Th. III innerlich durchaus analoges und fast bis zur Jdenti- tät verwandtes. Dazu kommt endlich, daß die citirten Artikel der B.-V., obgleich einem Codex angehörig, dessen Charakter unzweifelhaft der eines Specialgesetzes für den Bauernstand ist und daher im Allgemeinen jegliche extensive Anwendung außerhalb der ihm gezogenen Grenzen ausschließt, dennoch ab- weichender Natur sind. Denn sie enthalten einmal eine an sich ganz allgemeine Rechtsregel und gebieten sodann deren Anwendung aus den ganzen Wirkungsbereich des Landrechtes — die aus Landgütern bestehenden Kreise Livlands — ganz unbedingt und ohne Beschränkung auf den Bauernstand, ja mit der aut.gesprochenen Absicht einer bindenden Vorschrift auch für den Stand der Gutsbesitzer, somit für die ganze hier 11 in Betracht kommende Bevölkerung des platten Landes. Un- verkennbar gewinneil sie dadurch (wie eine ganze Reihe ahn- lich gearteter Artikel der B.-V.; vgl. das Qnelleuregister zum III. Theil des Provinzialrechts, S. 104—106) den Charakter und die juristische Bedeutung allgemeiner landrechtlicher Quellen und es ist nur conseqnent und richtig, wenn das Landrecht selbst (Anmerk. 2 zu Art. 868 des Pr.-R., Th. III) ausdrücklich auf die erwähnten Artikel der B.-V. verweist, was es — die Ausschließlichkeit ihrer speciellen Natur als Vor- schriften des bloßen Bauerprivatrechtes vorausgesetzt — gar nicht thun durste. Wenn wir nun, bei dem solchergestalt in jüngster Zeit erst erfolgten Eintritt des allgemeinen Expropriationsinstitnts in das baltische Privatrecht und bei dem seitens des Verfassers der Erörterung eingestandenen Mangel eines baltischen, die Ordnung des dem neuen Rechtsinstitut entsprechenden Ent- schädiguugsverfahrens regelnden Gesetzes, nach einem Auswege aus dieser Verlegenheit suchen, so können sich — abgesehen ititd unabhäugig von der dem Ermessen der gesetzgebenden Gewalt vorzubehaltenden Emanirung eines etwaigen, speciell hierauf bezüglichen Gesetzes — nur noch die beiden, auch dem baltischen Rechte eigenthümlichen Wege des Gewohuheitsrech- tes und der Analogie zu diesem Zwecke darbieten. Was den ersteren betrifft, so ist er im vorliegendem Fall unbrauchbar; denn würde auch angenommen, daß die bisher in einzelnen Fällen tatsächlich zur Durchführung gekommene, dem Reichsrechte ent- sprechende Entschädigungsprocedur ein Gewohnheitsrecht habe erzeugen können (was indessen schon wegen des Ausnahme- charakters dieser Fälle, ihrer relativen Seltenheit und der in Folge der abweichenden LocalverHältnisse höchst ungleichförmi­ gen Praxis nicht angenommen werden kann), so dürfte doch dies Gewohnheitsrecht immer nur so lange als in der Bil- dung begriffen oder als ausgebildet gedacht werden, als das 12 moderne Rechtsinstitut der Expropriation selbst noch nicht ein baltisches, sondern ein lediglich durch Ausnahmegesetze appli- cirter, specifisch reichsrechtlicher Grundsatz war. Mit dem Mo- ment des Eintritts des Instituts selbst in das System des baltischen Privatrechtes würde die Bildung dieses Gewohn- heitsrechtes nothwendig unterbrochen werden müssen, weil die praktische Durchführung des nunmehr baltischen Rechtsgrund- satzes einschließlich des Entschädigungsversahrens vor allen Dingen innerhalb des Systems, in das er eingetreten, gesucht werden müßte. Nun ist aber jede Erzeugung gewohnheits- mäßigen Rechtes dort nicht mehr möglich, wo eine direete oder analogische, d. h. aus gleichem Rechtsgrunde beruhende positive Vorschrift vorliegt. Wir sind mithin beim Mangel des Ge- wohnheitsrechtes und der birecten gesetzlichen Vorschrift, hier nothwendig auf die Analogie beschränkt, wo aber diese einzig zu suchen sei, kann nach den obigen Andeutungen kaum mehr einem Zweifel unterliegen. Freilich haben wir es nur noch mit einem Satz des Proeeßrechtes zu thnn: die Frage lautet nicht mehr, was in einem bestimmten Streitfall Rechtens sei, denn dies entscheidet ausreichend das geltende Privatrecht, son- dern nur: welches Verfahren für die Erörterung unb Entschei­ dung bes gegebenen Falls Platz zu greifen habe? Allein ber bie Analogie betreffend, auch von unserem Verfasser gelegent- lieh (S. 282) nach beut officiellen deutschen Texte citirte Art. XXI bes Prov.-R., Th. III, ist so unbebingter Natur, baß er auch hier vollkommen ausreicht. Derselbe ist inbessen besser in seinem russischen Originaltexte ins Auge zu fassen, weil er in bem deutschen Texte als lediglich aus das eodificirte Privatrecht (den III. Th. des Prov.-R.) allein beschränkt aufgefaßt werden könnte, was er nach Maßgabe der gemein- rechtlichen Quellen, aus welchen er geschöpft ist, nicht sein kann. Denn im Allgemeinen ist zu sagen, daß „die Rechtsfindung durch Analogie sehr häufig dort vorkommt, wo in einem be­ 13 kannten Rechtsinstitut eine einzelne Rechtsfrage neu entsteht; und daß sie hier auch vorkommen kann als Anstoß zur Fort- bilduug des Rechts, in welchem Falle sie mit größerer Frei- heit gebraucht werden darf" (Savigny). In der That, wenn das gemeine römisch-deutsche Recht als Quelle nicht nur des einheimischen Privatrechtes, sondern anch des provinziellen Pro- eesses, als des Mittels zu seiner Effectuirung, anerkannt ist, wie könnte das wichtige Fortbildungsmittel des Rechts, die Analogie, dennoch nur der einen uud müßte nicht auch der andern dieser Rechtsdisciplinen angehören? „Dnrch die Analo- gie werden neue Rechtsregeln gewonnen und sie ist deshalb und weil das gemeine Recht sie ausdrücklich anerkennt, auch als Quelle des Civilproeesses zu betrachten" (Linde). Gehört aber die Anwendung der Analogie nothwendig auch dem Civilprocesse an, so ist anzunehmen, daß bei dem Vor- handensein eines, wie wir gesehen haben, wegen vollständiger Gleichheit des im Gesetze selbst ausgesprochenen Rechtsgrun- des durchaus analogen Verhältnisses (der Zwangsabtretung ge- wisser ländlicher Grundstücke zu Wasserleitungen und Straßen) in einem Theil des einheimischen Rechtes (dem Privatrechte) die dort gleichzeitig für dieses Verhättmß gegebene positive processualische Vorschrift, nach demselben Grundsatz der Ana- logie, auch in dem Theil deS Rechtes (dem Proceßrechte) und auch für das verwandte Verhältniß (die Expropriation zum öffentlichen Nutzen überhaupt) zur Anwendung gelangen muß, in welchem und für welches sie mangelt. — Dies ist das Recht aus das richterliche Eutschädiguugsversahreu, das wir haben; aber es ist ein Recht nicht ohne entsprechende Quelle, sondern es hat allerdings eine nachweisbare legisla- tive Grundlage. Wir haben, nach unserer Ueberzeugung, aller­ dings auch das Gesetz, das dem Rechte das Leben giebt. Der Verfasser stellt am Schlüsse seiner Erörterung einige praktische Vorschläge über das gerichtliche Verfahren in Sachen 14 der Entschädigung bei Expropriationen auf. Hierüber noch ein Paar Worte. Es wird bemerkt, daß diese Vorschläge nicht künstlich conftruirt seien, sondern ihre Begründung in den Quel­ len finden. Diese seien zunächst daL Land- und Stadtrecht, sodann die „Autonomie und Die rechtserzeugende Kraft der Gewohnheit." Indessen wird doch zugegeben, daß für die ein- zelnen Theile des proponirten „Vorverfahrens" (der Schätzung durch Sachverständige nnd der gerichtlichen Verfügung über die Besitznahme) „specielle Belege in den Quellen sich nicht entdecken lassen." Außer diesem „Vorverfahren" giebt der Ver-- fasser Andentungen über den Proceß selbst, dessen Zweck die „Feststellung des Entschädigungsanspruchs durch gerichtliches Erkenntniß" sein soll und für welchen er die Form des or- deutlichen Procefses in Vorschlag bringt. Die Nothwendigkeit gerade dieser Form wird dadurch motivirt, daß nur auf dem Wege unpassender Beweisführung dem Richter das Material zur Bestimmung deS Betrages der vom Gesetz erheischten „vol- len Entschädigung" geliefert werden kann. Wir unsererseits können nun nicht umhin zu glauben, daß durch diese praktischen Vorschläge die Sache an Klarheit kaum gewonnen hat. Klarheit —auch für die Proceßform — ist nur durch Reduction des wechselseitigen Verhältnisses zwi- schen dem Eigenthümer und dem Enteigner aus einen beste- henden positiven Rechtssatz zu ermöglichen und wir kom- men bei der absoluten Neuheit des Institutes auch hier ohne Beihülfe einer festen Analogie nicht zum Ziel. Freilich wird dieses RechtSverhältniß von dem Verfasser auf den Entfchädi- gungsanfpruch zurückgeführt (S. 274); allein es wird auch seinem Wesen nach eine Schuld genannt (ohne nähere Be- zeichnung des Schuldtitels (S. 277); endlich wird es auch als Kauf und die Entschädigung als Kaufpreis bezeichnet (S.285). Lassen wir die zweite dieser Annahmen, da sie keinerlei An- haltspuucte bietet, ganz aus dem Spiele, so bleiben der Scha­ 15 densersatzanspruch und der Kauf übrig. Wir meinen nun, daß, trotz des üblich gewordenen Ausdrucks „Entschädigung," dem vorliegenden Verhältniß die Voraussetzung jeder Scha- densersatzpflicht — die culpose oder dolose Schädigung — fehlt, daß daher diese Analogie hier als Rechtsbildungsmittel uu- brauchbar ist. In Uebereinstimmuug mit namhaften Rechts- lehrern (Häberl in, Beseler) halten wir den nothwendigen Verlans für das einzige, hier zum Grunde zu legeude Rechts- verhältniß. l Wobei wir indessen wiederholen, daß wir und mit uns der Verfasser der Erörterung nicht de lege ferenda reden. Wir kennen die Einwürfe sehr wohl, die der hier vertheidigten Rechtsansicht vom freien legislativen Stand- puucte aus und in Verbindung mit der rein staatsrechtlichen Expropriationstheorie entgegengesetzt werden können; wir hal- ten aber dafür, daß, so lange wir ein direktes Gesetz über die Organe für das Entschädigungsversahren überhaupt nicht, wohl aber ein analogisches besitzen, das uns auf die Gerichte verweist, wir die Möglichkeit gar nicht haben, jenen staats- rechtlichen Standpnnct einzunehmen, welcher alle Bedingungen des modernen Rechtsstaates als bestehend und thätig voraus- setzt und aus welchem dann allerdings für die Feststellung der Entschädigung die Function der Verwaltungsorgane und nicht der Richter, damit aber auch die Beseitigung der Rechts- gruudlage des nothwcndigen Verkaufes sich entwickeln läßt.) Es ist unserer Auffassung nach durchaus richtig, wenn der Verfasser am Schluß seiner Erörterung die Ansicht ausstellt, daß „als Rechtsgrund für die Erwerbung des zu expropriiren-- den Grundstücks füglich der Kauf angesehen werden könne, wobei die gütlich vereinbarte oder richterlich festgesetzte Ent- schädigungssumme als Kaufpreis gelte." Diese Ansicht hätte nur nicht beiläufig am Schlüsse und lediglich mit Bezie- HUNA auf die Corroboration des Eigenthumswechsels an- gedeutet, sondern als leitendes Princip an die Spitze der 16 praktischen Vorschläge gestellt werden sollen. Von diesem festen Rechtssatze, welcher weiter nichts ist, als eine analogi- sche Adoption der Lehre vom Kauf auf unseren Gegenstand, hätte der Verfasser, wie wir glauben, ausgehen müssen. Dies Princip hätte ihn zu der Auffassung geleitet, daß, da bei der Expropriation als einem notwendigen Verkaufe die freie Ver- einbarnng der (Kontrahenten über den Kaufpreis eventuell durch das Dekret des Richters ersetzt wird, dieses, um überhaupt eine zureichende Basis zu gewinnen, ohne den Beweis durch Sachverständige gar nicht auskommen kann, daß die Offen- Haltung, beziehentlich Anordnung des letzteren daher selbstver- ständlich ist, ebenso die allgemeinen Schätzungsgrundsätze des Privatrechtes. Es hätte der Sonderung, des Vorverfahrens von dem Hauptverfahren, des bedenklichen Zugeständnisses ab- soluten Quellenmangels für die einzelnen Theile jenes Vor- Verfahrens, und der subtilen Unterscheidung zwischen der ge- richtlichen Verfügung (als Schluß des den Streitgegenstand — den Kaufpreis und den Besitz betreffenden Verfahrens) und dem gerichtlichen Erkenntniß (wesentlich über denselben Gegenstand'), kaum bedurft. Ferner wäre der Verfasser dahin gelangt die Einheit des Processes zu wahren, d.h. die Werthermittelung seitens der amtlichen Sachverständigen und das den Besitzwech- sel anordnende richterl iche Urtheil als erst- instanzlich es Verfahren in einem und demselben Proceßgange zu betrachten, wofür gleichfalls die Analogie der Lehre vom Kauf (Prov.-R. Th. III, Art. 3522, 23) und zum Theil die gemein- rechtliche Doctrin spricht. Soll aber das Vorverfahren, wie der Verfasser will, anf den Fall beschränkt werden, wo beide Theile mit der Schätzung einverstanden sind, und nur den Besitzwechsel verfügen, so bleibt zu bedenken, daß ein gericht- liches Verfahren in diesem Fall überhaupt entbehrlich ist, weil die Feststellung des Kaufpreises schon durch jenes Einverständ- niß erzielt, der Besitzwechsel demnach ohne Weiteres erzwingbar 17 ist. „Das Entschädigungsversahren beruht dagegen wesentlich aus der amtlichen, d. h. im Austrage des Gerichts erfolgten Schätzung der abzutretenden Sachen oder Rechte durch beeidigte Taxatoren. Durch das Gutachten derselben muß das Gericht (wenn nämlich die Parteien dem Gutachten nicht beistimmen) in den Stand gesetzt werden, über dessen Richtigkeit zu urthei- len und dasselbe durch das Erkenntniß entweder zu bestätigen oder ein Superarbitrum: einzuholen" (Häberlin). Endlich hätte unter allen diesen Voraussetzungen einerseits die klare Er- kenntniß, die der Verfasser von der Nothwendigkeit hat, daß durch das neue Entschädigungsverfahren die Effectuirung der im Interesse des Staatswohles auszuführenden Unternehmuu- gen nicht aufgehalten werden dürfe (S. 277) und andererseits die Unerläßlichkeit der gleichen Proceßsorm in allen Instan­ zen, dahinführen müssen, die Anwendung nicht des ordentlichen, mit jener Erkenntniß und der Natur der Expropriationssachen nicht wohl vereinbaren, sondern des gerade für Sachen dringlicher Art bestehenden summarischen Proceßversahrens zu empfehlen. !>. 5 n. Die Friedensrichter als Strafrichter nach russischem Recht. (Schluß.) 3. Das Verfahre» vor den /riedensgerichten. Die russische Strasproceßordnuug vom 20. Novbr. 1864 spricht sich über die von ihr angenommene Form des Versah- rens nicht direet aus. Betrachtet man den Gang des Straf- Verfahrens in den allgemeinen Collegialgerichten, so überzeugt man sich bald, daß der äußeren Form des Verfahrens das Anklageprincip zn Grunde gelegt ist. Ueberall tritt dem An- geklagten ein Ankläger entgegen und das Gericht hat nur dar- über zu urtheileu, was ihm vom Ankläger einer- und dem Angeklagten andererseits vorgelegt ist. Das Verfahren vor dem Friedensrichter ist dagegen nicht in einer Weise organisirt, daß man dasselbe als ein Anklage- verfahren und den Friedensrichter als einen bloS urtheilenden Richter bezeichnen könnte. Freilich in vielen ja den meisten Fällen treten Ankläger und Angeklagter vor ihn und er hat zu urtheileu über das ihm vorgelegte Material. Allein es können auch Fälle zur Verhandlung vor den Friedensrichter kommen, ohne daß ein Ankläger vorhanden zu sein braucht. In solchen Fällen muß er nicht nur Richter im engeren Sinne, sondern auch Untersuchungsrichter, Inquirent, selbst Ankläger in einer Person sein. Es liegt auf der Hand, daß in Folge dessen seine Stellung eine proeessnalisch unklare werden 19 muß. Es wird kaum zu vermeiden sein, daß er seine Befug« nisse als Jnqnirent auch in Sachen, wo ihm diese Rolle nicht nothwendig zugewiesen ist, unwillkürlich auszudehnen suchen wird. Manchen wird das als wünschenswert!), ja nothwendig erscheinen. Ob das der Fall ist, ist eine andere Frage, die wir hier nicht erörtern wollen. Uns ist es zunächst um das Factum zu thun: festzustellen, daß und in welchem Umfang eine solche principielle Verschiedenartigkeit in der Stellung und der Thätigkeit des Friedensrichters besteht und in welcher Weise dieselbe auf das Verfahren von Einfluß sein muß. In der Strasproceßordnnng selbst ist ein solcher princi- pieller Gegensatz zwischen dem Versahren vor den allgemeinen Gerichten und dem vor den Friedensgerichten nicht hervorge- hoben, so wenig, daß vielmehr die Friedensgerichte angewiesen sind, die Fälle, in welchen sie über das einzuhaltende Versahren in Zweifel gerathen, nach Combination der für sie erlassenen Regeln mit denen für die allgemeinen Gerichte zu eutschei- den Auch in anderen Artikeln findet sich keine Berücksich- tigung dieser grundsätzlichen Verschiedenheit zwischen dem Ver- fahren vor den allgemeinen und dem vor den Friedensgerichten. Für die Frage über die Form des Verfahrens in Straf- fachen vor den Friedensgerichten sind zunächst entscheidend die Art. 3, 42, 47—52 der Str.-Pr.-Ordnnng. Nach Art. 3 soll offenbar auch vor dem Friedensrichter, das Anklageprincip als die Grundlage des Verfahres betrachtet werden. Art. 3 lautet: In Strafsachen, welche der Gerichtsbarkeit der Friedensgerichte unterl iegen, ist die Uebersührung der Augeschuldigten vor dem Gericht den durch die verbrecherischen Handlungen verletzten Personen überlassen, sowie Polizei-- und anderen Admini­ 1) Straf-Proceß-Ordnung Art. 118. 2* 20 strativ-Autoritäten, in den vom Gesetze festgestellt ten Grenzen. Es ist also beim Versahren vor dem Friedensgericht hier- nach zur Durchführung der Anklage ein Ankläger nothwendig: der Richter hat nur zu urtheileu, nicht anzuklagen. Es stimmt diese Auffassung vollkommen mit dem mehrfach in den Moti- ven zur Str.--Pr.-O. ausgesprochenen Grundsatz überein, daß es unzulässig sei, einer und derselben Person die Pflichten des Anklägers, Untersuchungsrichters und urtheilenden Richters zu übertragen, ebenso mit der Behauptung, daß in der Vermi- schung dieser so verschiedenartigen Pflichten ein Hauptfehler der früheren Proeeßgefetze zu suchen sei. Dagegen bestimmt aber Art. 42 der Str.-Pr.-O.: Der Friedensrichter schreitet zur Verhandlung der Sachen in Folge: 1) von Klagen verletzter Privatpersonen, 2) von Mittheilungen der Polizei und anderer Administrativbehörden, 3) eigener Wahrnehmung verbrecherischer Hand­ lungen, welche unabhängig von Klagen der Verletz- ten der Verfolgung unterliegen. Zu einer genauern Erläuterung dieses Art. ist es noth- wendig aus die Motive zur Str.-Pr.-O. und deren Auffassung der Grundsätze des Strafprocesses näher einzugehen. In den Motiven zur Strasproceßordnuug 2) ist ausein­ andergesetzt, bei der ursprünglichen Berathnng dieses Artikels sei festgestellt worden, daß ein Verfahren vor dem Friedens- richtet nur beginnen könne auf Grund einer Klage einer Pri- vatperson, deren Interesse irgendwie verletzt worden, oder eines Antrags einer Behörde, in Sachen deren Verfolgung und 2) CyfleÖHue VcTaBM ci> HS-iOiKeirieivi. paacyw^eHiu, »a KOIIXT» OHH OCHOBAUU. Th. II. S. 49. 50. 21 Bestrafung durch das öffentliche Interesse an der Aufrechter- Haltung öffentlicher Rechte oder der Ruhe und Ordnung gebo- ten sei. Außer diesen beiden Ursachen der Einleitung des Ver- fahrens dürfe keine weitere zugelassen werden. Anzeigen und Denunciationen (directe Anklagen) Unbetheiligter müßten an die Polizei oder sonstige Verwaltungsbehörden gerichtet werden. Dem Friedensrichter die Pflicht aufzuerlegen, sich von der Rich- tigkeit solcher Anzeigen durch weitläufige und zeitraubende Un- tersnchungen zu überzeugen, sei unmöglich, weil er dadurch zu einem einfachen Polizeibeamten herabsinken müsse. An einer anderen ©teile3) haben die Motive sich ausdrücklich dagegen verwahrt das Anklage- oder Untersnchuugsprincip zu acceptiren und aus einem derselben den Proceß zu constrniren. An einer dritten Stelle sprechen die Motive es dagegen direct aus, daß bei der Reorganisation es für uöthig erachtet worden sei, sich möglichst an das Anklageprincip zu halten. — Jene beiden zu- erst allein ins Ange gefaßten Punkte, wie sie im Art. 42 P. 1 und 2 ausgesprochen sind, zn deren alleiniger Annahme man sich zuerst nicht aus processualischen, sondern aus Nützlichkeits­ gründen entschieden hatte, sind übrigens unmittelbare und stricte Konsequenzen des Anklageprincips. Obwohl nun die Motive zugeben, daß außer den erwähnten Ursachen der Einleitung eines Verfahrens keine anderen zuge- lassen werden müßten, fahren dieselben fort: „Bei fernerer Berathung der erwähnten Fragen, wurde verfügt, zu den beiden Punkten hinzuzufügen, daß der Friedens- richtet zur Verhandlung schreite, nicht nur in Folge Klage des Verletzten oder Antrags einer Behörde, sondern auch un- mittelbar, zufolge eigener Wahrnehmung der Begehung ihm zuständiger Verbrechen und Vergehen, welche die öffentliche Ordnung und Sicherheit verletzen. Die Sachen deren Anre- gung Privatpersonen überlassen sei, dürften keinen Falls ohne 3) Cyfl. YCT. CI> H3J03K. paaeysfl. II. S. 26—28. 22 Klage verfolgt werden, alle andern wohl. Der Friedensrichter müsse gleicherweise zur Verantwortung ziehen den Dieb und Waldschädiger, den Händler der verdorbene Lebensmittel ver- kaufe, den der absichtlich Wege und Brücken beschädige, den Kaufmann der unrichtiges Maß und Gewicht brauche, den Bettler aus Faulheit, den Raufbold und Trunkenbold. Alle einzelnen Fälle könne man nicht aufzählen; aber der Grund der Verfolgung sei stets ein nnd derselbe: Schaden für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Das Einschreiten des Friedensrichter ohne Klage oder Mittheilung müsse jedoch be- schränkt bleiben auf die Fälle, wo der Friedensrichter nnmit- telbarer Zeuge der Begehung des Verbrechens gewesen sei, da er vom Gesetze nicht in die falsche Stellung versetzt werden dürfe, möglicherweise unthätiger Zeuge eines Verbrechens blei- ben zu müssen. Dagegen dürfe diese Ausnahme nicht auf Fälle ausgedehnt werden, bei denen der Friedensrichter nicht nnmit- telbar zugegen gewesen sei, sondern von anderen benachrichtigt worden, weil er sonst zum Polizeibeamten werde." Ans diesen Gründen ist also P. 3 des Art. 42 den bei­ den ersten hinzugefügt worden. Einer solchen Auffassung des P. 3 kann man seine Zu- stimmung nicht versagen; nur wäre es von Wichtigkeit, daß dieser ausnahmsweise Charakter der im P. 3 enthaltenen Be­ stimmung im Gesetze selbst einen deutlichen Ausdruck gefmtbeu hätte, etwa durch Verweisung dieses Punktes in eine Anmer- kung, in welcher gesagt wäre, daß P. 1 und 2 nicht so zn verstehen seien, als ob dadurch der Friedensrichter passiver Z u- schauer der Begehung im öffentlichen Interesse strafbarer Ver- gehen bleiben müsse. Es sollte also durch jenen Punkt das Anklageprincip keineswegs aufgegeben, sondern nur Rücksicht ge- nommen werden aus die wesentliche Verschiedenheit zwischen der factischen Stellung des Friedensrichters und des Gliedes eines ordentlichen Gerichts. Die Friedensrichter sind unendlich 23 viel zahlreicher als die Glieder der ordentlichen Gerichte, kom- men also viel häufiger in die Lage Zeugen von Vergehen sein zu müssen. Ferner, was das Wichtigste ist, befindet sich da, wo der Friedensrichter anwesend ist, nicht nur er als Privatper- son, sondern das ganze Friedensgericht, das er allein bildet. Bei den Gliedern der Collegialgerichte ist das nicht der Fall, einzeln können und dürfen sie gar nicht thättg werden, also der einzelne Richter erscheint wo er allein ist als Privatper- son, nicht als Richter. Bei den Friedensrichtern ist eine solche Trennung des Amtes von der Person gar nicht denkbar, schon weil der Friedensrichter bei der Ausübung seines Amtes weder an ein osficielles Local noch an die Gegenwart von Collegen, ja nicht einmal an die eines Gerichtsschreibers gebunden ist. In der Praxis der St. Petersburger Friedensrichter^) ist dieser P. 3 stets so aufgefaßt worden, daß der Friedens- richtet' befugt sei, aus eigener Machtvollkommenheit die Ver- folgung eines Vergehen zu beginnen, von dessen Begehung er sich bei Gelegenheit der Verhandlung einer anderen Sache überzeugt habe. Diese Auffassung wird bestätigt durch mehrere Cassationsentscheidungenä). Es ist das schon eine Ausdeh- nung des Punktes 3 und es liegt nahe, daß bei der jetzigen Fassung derselbe eine immer ausgedehntere Anwendung finden und dadurch leicht das herbeigeführt werden kann, was die Motive vermieden wissen wollen, daß nämlich der Friedens- richtet ein Polizeibeamter werde, dem die Verfolgung und schließlich die Aufspürung der Verbrechen zugeschoben wird. Fassen wir das bisher Angeführte zusammen, so sehen wir, daß durch den P. 3 des Art, 42 der Str.-Pr.-O. sitr gewisse Fälle ein strafrechtliches Verfahren durch den Friedensrichter angeordnet ist, ohne daß dabei ein besonderer Ankläger vor- 4) HcKJiroflOBTi, PyKOB. RJIH Miip. cy/jefi. I, S. 95—101. 5) HeÖMmeBt-^MHTpieB'B, PyccKoe yroaoBHoe cyRonponSBOficiBO. Cn6. 1869. S. 100. 24 Händen zu sein braucht, ja obwohl in diesen Fällen das Auf- treten eines Anklägers durch die Art und Weise der Einlei- tung des Verfahrens ausgeschlossen ist. Ferner daß in der Pra- xis die Neigung vorhanden ist, die Regel, über das Einschrei- teil der Friedensrichter von sich aus, möglichst umfangreich zu interpretiren und die Fälle solchen Einschreitens im Interesse der öffentlichen Sicherheit und des Rechtsschutzes zu vermehren. Die Untersuchungsmaxime und die Vermischung der Rollen des Anklägers, Verth eidig ers, Untersuchungsrichters und urtheilenden Richters hat denselben guten Zweck gehabt, sich aber als unpractisch erwiesen. Man betritt durch jenen Satz wiederum den alten Weg und überträgt dem Friedensrichter die, sonst für miteinander un- vereinbar erklärten, Rollen eines Anklägers (d. h. einer Parthei), eines Untersuchungsrichters und eines über das vorgelegte Ma- terial unparteiisch urtheilenden Richters. Bei dieser Anord- nnng hat übrigens die Gesetzgebung offenbar die Tragweite und die Consequenzen ihrer Anordnungen sich nicht genügend klar gemacht. Weder im Gesetze noch in den Motiven geschieht irgendwie dessen Erwähnung, daß in den Fällen des P. 3 der Friedensrichter zur Anwendung eines absolut anderen Versah- teils gezwungen ist. In ähnlichem Sinne wie P. 3 des Art. 42 ist Art. 47 der Str.-Pr.-O. abgefaßt. Derselbe berechtigt den Friedens- richtet zur Unterstützung der Klage einer Privatperson, über ein im öffentlichen Interesse strafbares Verbrechen, von der Po- lizei Untersuchungshandlungen vornehmen zu lassen. Wenn auch im Gesetze gesagt ist der Friedensrichter kann, so wird darunter wol eine Verpflichtung verstanden sein, denn die An- nähme der Motive, der Friedensrichter könnte eine Anklage einer Privatperson einfach als unbewiesen und grundlos abwei- sen, ist eben nicht stichhaltig: wenn solche Anklagen erhoben sind, muß er eine Verhandlung ansetzen^). Erweist sich die 6) Vgl. HeoroflOB-b, pyjt. äjh Miip. cyfl. I. S. 31—33. 25 Klage als frivol, so kann er den Kläger strafen, aber einfach die Klage ablehnen, weil sie ihm unbewiesen scheint, darf er nicht. In engem Zusammenhange mit Art. 47 steht Art. 48: Die durch das Verbrechen Verletzten können sich anch direkt an die örtl iche Polizeibehörde wenden, welche verpflichtet ist die Untersuchung anzustellen und über das Resultat dem Friedensrichter eine Vorstellung zu machen. Dieser Artikel entspricht in seinem ersten Theile vollkom- men der allgemeinen Richtung der Proc.-Ordn. und den Grund- sätzen des durch sie angebahnten Anklageverfahrens. Speciell ist er deswegen von großer Wichtigkeit, weil er allein die Po- lizei verpflichtet auf den Antrag von Privatpersonen Untersu- chungen zur Feststellung begangener Vergehen vorzunehmen. Nach den Motiven 7) ist diese Bestimmung blos erlassen, um das Mißverständniß zu beseitigen, als könnten ans Grund des Artikels 47 Untersuchungen nur durch den Friedensrichter an- geordnet, nicht auch durch die Verletzten selbst bei der Polizei beantragt werden. Es ist also dieser Artikel nur beiläufig zur Vermeidung von Mißverständnissen abgefaßt, während der Sache nach derselbe einer der für den Charakter des ganzen Versah- rens wesentlichsten ist. Wie man aber überhaupt die Bedeu- tung eines einheitlichen Gruudpriucips für den Criminalproceß bei Abfassung der Proceßordnung nicht anerkannte, so hat man die principielle Bedeutung dieses Artikels verkannt. Eine Folge davon ist die unrichtige Fassung der Schlußbestimmung dessel- ben. Nach dem ersten Theil dieses Artikels ist der Verletzte, wenn er die Bestrafung einer ihm zugefügten Verletzung bean- tragt und als Ankläger vor Gericht aufzutreten hat, berechtigt von der Polizei die Vornahme von Untersuchungshandlungen zu verlangen, deren er zur Erhebung oder Durchführung der Anklage bedarf. Dagegen bestimmt der zweite Theil dieses 7) Cyfl. ycT. CT> HSJIOZK. pascya^eiiiii. II. S. 52. 26 Art., daß die Polizei über das Resultat solcher Untersuchungen dem Friedensrichter zu berichten habe. Ein solcher Bericht ist der Polizei ganz allgemein vorgeschrieben. Er muß also in jedem Falle dem Friedensrichter erstattet werden, auch wenn das Resultat der von Privatpersonen beantragten Untersuchung ein negatives gewesen ist. Freilich hat in diesem Falle ein sol- cher Bericht gar keinen Sinn und in der Praxis wird er auch gar nicht abgestattet. Die unrichtige Fassung des Gesetzes wird also durch die Nichtbeachtung desselben corrigirt. Aber selbst wenn die Polizei eine Verletzung constatirt, es sich jedoch um ein Antragsvergehen handelt, so ist der Bericht an den Frie- densrichter zwecklos: denn ohne eine Klage kann ein Versahren in der Sache nicht beginnen. Dagegen kann diese Fassung des Art. dazu mißbraucht werden, daß die Polizei dem Kläger eine Mittheilung über das Resultat der angestellten Untersuchung verweigert: sie sei nur verpflichtet dem Friedensrichter zu be- richten. Dadurch würde die ganze Bedeutung des Art. 48 illusorisch gemacht. Der Kläger kann dann wohl eine Un- tersuchung beantragen, aber nicht er erfährt etwas über das Resultat desselben, sondern der Friedensrichter. Will der Klä- ger nicht die Klage fallen lassen, so sieht er sich genöthigt die Klage anzubringen ohne zu wissen, ob in Folge seines An- trags wirkliche Beweise ermittelt worden sind oder nicht. Seine Lage wäre dann um so schlimmer als er für leichtfertige Er- Hebung der Anklage straffällig werden könnte. Es kann also in Folge der Art und Weise der Fassung der Schlnßbemerkung die Bedeutung des ganzen Artikels illusorisch gemacht werden. Wir wollen zugeben, daß dergleichen in der Praxis sich ver- meiden lassen und man stets Mittel und Wege finden wird von der Polizei Kenntniß über das Resultat solcher Untersu- chungshandluugen zu erlangen — allein dadurch wird die un- richtige Fassung des Artikels keine richtige. Eine wirkliche Berechtigung hätte ein solcher Bericht nur, 27 wenn in Folge solcher auf den Antrag von Privatpersonen vorgenommener Untersuchungshandlung die Begehung eines im öffentlichen strafbaren Vergehens entdeckt worden wäre. Hier wird ein Bericht der Polizei an den Friedensrichter noth- wendig, weil ein solches Vergehen verfolgt werden muß, auch wenn die Privatperson die Erhebung der Klage unterließe. Aber auch in diesem Falle ist die Einführung dieser Verpflich- tung durch die Schlußbestimmung des Art. 48 zunächst über­ flüssig, dann aber auch sehr bedenklich. Ueberflüssig, weil die Polizei auch ohne diese Bestimmung des Art. 48 zu Mitthei- lungen solcher Fälle an den Friedensrichter verpflichtet ist. Be- deutlich, weil der Verletzte in Folge eigentümlicher Auffassung dieses Art. in eine für ihn möglicher Weise sehr unvortheil- hafte Lage gerathen kann. Unser Strafrecht verpflichtet jeden, fpeciell also auch den Verletzten, über im öffentlichen Interesse strafbare Vergehen Anzeige zu machen. Eine solche Anzeige zieht für den Anzeigenden keinerlei Verantwortung nach sich. Ferner berechtigt das Strafrecht den durch ein solches Vergehen Verletzten die förmliche Straftlage gegen den Thäter zu erhe­ ben, macht ihn jedoch verantwortlich, resp. straffällig, wegen leichtfertiger Erhebung der Anklage. Dcch jemand für die Geltendmachung seines Rechtes verantwortlich gemacht wird, ist vollkommen sachgemäß. Es muß aber das Gesetz dem Ver- letzten die Möglichkeit gewähren, sich über das Vorhandensein der nöthigen Beweismittel zu vergewissern. Diese Möglichkeit wird nun durch Art. 48 gewährt, kann aber auf Grund der Schlußbestimmung desselben entzogen werden. Nach der Praxis werden diejenigen, welche über eine ihnen zugefügte Verletzung der Polizei eine Anzeige machen, sofort als Ankläger betrachtet8) und können als solche zur Ausrechterhaltung und Durchführung 8) Cyfl. B'BCTU. 1857. M 155. — HCKJHOAOBI», pyK. I. S. 113. 114. — Entscheidung d. Crim.-Cass.-Dep. 1867. M 50. 28 der Anklage gezwungen werden®), ganz abgesehen davon ob sie dergleichen beabsichtigten oder nicht. Es wird also jemand der eine Untersuchung beantragte um sich zu überzeugen, ob die nöthigen Beweismittel zu beschaffen seien, wenn die Unter- suchung ergab, daß es sich um ein im öffentlichen Interesse strafbares Verbrechen handele, zur Vertretung einer Anklage gezwungen, die er noch gar nicht erhoben hat, deren Erhebung seinerseits erst vom Resultat der Untersuchung abhängen sollte. Dieses Resultat kann nun für die Führung des Beweises ein sehr zweifelhaftes sein, ja er kann nach Art. 48 nichts davon erfahren — er wird alb Ankläger betrachtet, obgleich er nicht einmal die Möglichkeit gehabt hat, sich von der Durchführbar- keit der Anklage zu überzeugen. Diese Seite der Frage ist bisher in der Praxis nicht berücksichtigt worden. Jene Ent- scheidung des Senats hatte zunächst nur den Zweck die For- malitätssucht eines Procureursgehülsen abzuweisen, daß aber aus jener Entscheidung solche Consequenzen gezogen werden können, dessen ist man sich offenbar gar nicht bewußt gewesen. Nichtsdestoweniger sind sie möglich. Auch in den theoretischen Arbeiten über die Proceßordnung hat man diese Consequenzen gar nicht berührt1 °). Nekljudow constatirt einfach, daß durch die Aufforderung an die Polizei, eine Untersuchungs- Handlung wegen im öffentlichen Interesse strafbaren Vergehens vorzunehmen, und den darauf folgenden Bericht der Polizei an den Friedensrichter, die Anklage als vor dem Friedensrich- ter erhoben zu betrachten sei. Das Bedenkliche, welches in dieser Präsumtion liegt, wird weiter gar nicht berücksichtigt. Ebensowenig die Sonderbarkeit, daß ein Verfahren vor dem Friedensrichter, obwohl ein Ankläger vorhanden ist, eröffnet 9) Str.-Pr.-O. Art. 135. 10) ^eÖHmeBT.-JjMUTpieBi«, Pyccnoe yrosoBHoe cyflonpoHS- BOFLCTBO. CN6. 1869. S. 221. — HCKJHOROB-B, pyKOBOflCTBO FLAU MN- poBHxi» cyfleß. I. S. 89—91. 29 wird, nicht durch eine Klage bei demselben, sondern durch eine Aufforderung an die Polizei eine Untersuchungshandlung vor- zunehmen. Endlich wird ganz außer Acht gelassen, daß in Folge dieser Auffassung Art. 48 seine eigentliche Bedeutung vollständig verliert. Art. 47 gestattet den Privatpersonen eine Klage wegen im öffentlichen Interesse strafbarer Vergehen beim Friedensrichter zu erheben, selbst wenn die zur Begrün- dung der Klage nöthigen Erhebungen nicht angestellt sind, und ermächtigt zugleich den Friedensrichter nötigenfalls Untersu­ chungshandlungen durch die Polizei vornehmen zu lassen. Art. 48 hat eine wirkliche Bedeutung nur, wenn er dem Verletzten es ermöglicht vor Erhebung der Anklage Untersuchungshand- lungen zu beantragen, um sich das zur Durchführung der An- klage nöthige Material zu verschaffen. Bei obiger Auffassung verliert Art. 48 diese seine eigentliche Bedeutung. Eine selb- ständige Bedeutung des Art. 48 könnte endlich noch darin ge- funden werden, daß die durch ein im öffentlichen Interesse strafbares Vergehen Verletzten durch Anzeige bei der Polizei sich von der Verpflichtung, die Begehung des Verbrechens zu erweisen, befreien können, welche Verpflichtung auf die Polizei über- ginge. Diese Auffassung ließe sich durch den Charakter eines im öffentlichen Interesse strafbaren Vergehens erklären, dessen Anzeige unterbleiben könnte, wenn der Verletzte stets die Be- weislast und die Verantwortung für die Anklage hätte. Die Praxis hat auch diese Auffassung völlig beseitigt — ob im In- teresse der öffentlichen Ordnung ist eine andere Frage. Von der Stellung und den Pflichten der Polizei- und anderer Administrativbehörden als Ankläger vor dem Friedens- richter handeln die Artt. 49 und 50. Art. 49 verpflichtet die­ selben, wegen der von ihnen innerhalb ihres amtlichen Wir- kungskreises entdeckten Vergehen, welche auch ohne Privatan- klage verfolgt werden müssen, dem Friedensrichter Mittheilung zu machen. Nach Art. 50 muß jedoch die Mittheilung den 30 Charakter einer förmlichen Anklage tragen und genaue Anga- ben enthalten, wann und wo das Verbrechen begangen worden, auf wen der Verdacht falle, durch welche Beweismittel solches erhärtet werde, ob ein Civilkläger, und ob Zeugen vorhanden seien, nebst der Angabe des Wohnortes aller bezeichneten Per- sonen. — In diesen beiden Artikeln sehen wir wiederum deut- lich und scharf den Grundsatz des Anklageverfahrens hervor- vortreten: der Friedensrichter ist nur urtheilender Richter und es ist Sache der Polizei oder der betreffenden Administrativ- behörde, die erhobene Anklage zn beweisen. Wir haben im Bisherigen den Sinn und die Tragweite derjenigen Artikel der Strafproceßordnnng zu ermitteln gesucht, aus welchen auf den Charakter des Verfahrens vor dem Frie­ densrichter geschlossen werden konnte. Fassen wir nun das Resultat dieser Erörterungen zusammen und vergleichen dasselbe mit der Auffassung des Verfahrens vor dem Friedensrichter in der Praxis, so ergiebt sich Folgendes: 1) Bei der Verhandlung wegen Antragsverbrechen vor dem Friedensrichter ist das Anklageprineip consequent durch- geführt. Anhängig kann die Sache nur gemacht werden durch die Anbringung einer Klage seitens des Verletzten beim Frie- densrichter gegen eine bestimmte Person. Die Sammlung des Stoffes ist vollständig den Partheien überlassen, der Friedens- richtet ist hier ausschließlich urtheilender Richter. Er hat nur darüber zu erkennen was ihm vorgelegt ist, nur auf die ihm vorgelegten Beweismittel hat er sein Urtheil zu gründen. Die Fortsetzung der Verhandlung hängt von dem Ankläger ab und die Sache kann jederzeit durch einen Vergleich beigelegt werden. Ebenso genügt der Rücktritt des Klägers von der Klage oder einfaches Wegbleiben um die Sache niederzuschlagen, falls nicht der Beklagte selbst auf Fällung eines Urtheils besteht''). 11) Vgl. Str..Pr..O. Artt. 5. 20. 46. 104. 135. 31 2) Die Grundsätze des Anklageverfahrens finden eine beschränkte Anwendung in Sachen wegen solcher Uebertretungen der Kronsverwaltnngsordnungen (ycTaBH Kaaeimaro ynpaB- jreirifl), z. B. der Zoll-, Forst-, Handels-, Accise-Ordnung u. a., Welche eine Beeinträchtigung der Einnahmen der Krone (des Kronsinteresse) in sich schließen, wofür Ersatz zu leisten ist, also bei Stenercontraventionen. In solchen Fällen sind die Beamten und Behörden der einzelnen Verwaltungszweige allein befugt Klage zu erheben und dieselbe vor dem Friedensrichter zu vertreten, dabei aber verpflichtet ihre Klage zu beweisen und verfährt der Friedensrichter ausschließlich als urtheilender Richter. Jedoch sind die Behörden nicht verpflichtet bei der Verhand- lung vertreten zu sein, sie können einen Vertreter senden, die Verhandlung muß ihnen angezeigt werden, ist aber ein Ver- treter nicht erschienen, so wird das Verfahren nicht ausgesetzt. Der schriftlich eingereichte und motivirte Strafantrag hat die Grundlage der Verhandlung des Friedensrichters mit dem An- geklagten zu bilden. Der Friedensrichter jedoch hat einzig aus Grund der Anklage und des ihm Vorgelegten zu erkennen und ist nicht verpflichtet weitere Ermittelungen anzustellen. Dage- gen muß er, wenn der Chef der Behörde nicht selbst an der Verhandlung Theil genommen hat, ihm von sich aus eine Copie des Urtheils zufertigen 12). Hier werden also materiell die Grundsätze des Anklageverfahrens angewandt, formell dagegen nicht, indem der Ankläger nicht zu erscheinen braucht, die Ver- Handlung trotzdem stattfindet und der Richter dafür zu sorgen hat, daß die Behörde Kenntniß vom Urtheil erhalte. 3) WaS sonstige Vergehen betrifft, die von Verwaltungs- behördeu oder der Polizei, selbständig in Ausübung ihres Am­ tes, entdeckt worden sind, so wird in Beziehung auf die An- 12) Vgl. UeGMraeBTb-^MHTPICBTI, S. 224 —225.— IICKJIIOHOBTJ, Pyh\ 1, S . 114 . 115 . — St r . -Pr . -O . Ar t . 1188 . — Entsch . d . Cr . -C . -D . 1867 . AQ 361. 302. 32 hängigmachung der Klage verlangt, daß die Behörden eine for- meß und materiell motivirte Klage einbringen, widrigenfalls der Friedensrichter die Klage angebrachtermaßen abweisen kann. Was die Verhandlung über die angebrachte Klage betrifft, so findet in der Praxis eine große Verschiedenheit in derselben statt, indem der Friedensrichter, bald als blos urtheilender Richter über die ihm vorgelegte Klage auf Grund vorgelegter Beweismittel aburtheilt, bald selbstthätig in die Verhandlung durch Stoffsammlung und Ermittelung von Beweismitteln als Untersuchungsrichter eingreift. Ob und in wie weit er in sol­ cher Weise thätig wird hängt eben von seinem Ermessen ab. Wo Verwaltungsbehörden irgend welche Uebertretungen ver- folgen, wird er meist als blos urtheilender Richter sich ver- halten. Eben dieselbe Rolle wird er einhalten, wo die Poli- zei wegen Uebertretungen bestimmter Verwaltungsverordnuu- gen auftritt 13). Die Polizei hat aber außerdem alle im öffentlichen Interesse strafbaren Vergehen zu verfolgen. Ihr fällt in diesen Sachen freilich die Anklagerolle zu, allein fol- che Vergehen hat der Friedensrichter ex officio zu bestrafen. Wenn die Thätigkeit des Anklägers ihm ungenügend erscheint, so kann er selbständig als Untersuchungsrichter thätig werden, die Polizei ist ihm dann untergeordnet und die ganze Rich- tung der Anklage kann von ihm abhängen, d. h. also der Friedensrichter kann Ankläger, Untersuchungsrichter, Vertheidi- ger und urtheilender Richter in einer Person sein. Materiell ist, wie wir gesehen haben, diese Bestimmung in der Proceß- Ordnung enthalten, wenn auch formell von der Notwendigkeit einer verschiedenartigen Behandlung dieser Sachen nicht gespro- chen wird. Ebenso ist in der Praxis auf diesen prineipiellen Unterschied in der Behandlung solcher Sachen gar kein Ge- wicht gelegt, ja derselbe kaum erwähnt worden. Nur in ganz 13) Entscheidung d. Erim. Gaff. D. 1867, M 14.— Cy«. B-BCT. 1866, M17. 5. 136. 33 äußerlicher Weise ist in den Cassationsentscheidungen des Se- nats die Stellung der Polizei, wo sie als Ankläger austritt, erörtert worden. Wo die Polizei ein Vergehen selbständig entdeckt hat und auf Bestrafung desselben anträgt, da geschieht eS, wenig­ stens in den wichtigsten Fällen, daß ein bestimmter Beamter mit der Durchführung der Klage betraut und dem Friedens- richtet als solcher signalisirt wird. Dieser Beamte genießt dann die Rechte des Anklägers ,4), d. h. er muß zu jeder Verhandlung geladen sein. Freilich ist damit nicht gesagt, daß bei seinem Nichterscheinen ohne ihn keine Verhandlung stattfinden könne, oder daß der Friedensrichter gehindert wäre seinerseits uuab- hängig vom Vertreter der Polizei Beweismittel in Beziehung auf die Sache geltend zu machen. Alles das hängt allein von seinem Ermessen ab. Hat die Polizei keinen Bevollmächtigten bezeichnet, so braucht sie von der Verhandlung gar nicht be- nachrichtigt zu werden. Die Verhandlung findet in solch einem Fall ohne Ankläger stattIS), auf Grund der Mittheilung der Polizei. 4) Wo wegen eines im öffentlichen Interesse strafbaren Vergehens von Seiten einer Privatperson mit Unterstützung der Polizei ein Verfahren beantragt ist, da wird in der Pra­ xis die Privatperson als Kläger betrachtet, in Folge dessen braucht die Polizei zur Verhandlung nicht geladen werden^), die Privatperson hingegen kann zur Ausrechterhaltung und Durchführung der Klage durch Geldstrafen gezwungen werden, das ganze Verfahren kann ohne eigentliche Klage begin- neit und als durch jene Anzeige bei der Polizei eingeleitet 14) OY*. BfeCT. 1866, M 20. 15) CYR. BFICT. 1857, M115. — HCÖMINEB'B-FLIIHTPIEB'L, PYCCK. YR. CYFLON., S. 224. 16) Entscheidung d. Stirn. Cass. D. 1867, M 30 u. a. — HeKJU0«0BT,, PYK. FLJIH AINP. CYFL. I, S. 89—91. 3 34 betrachtet werden. Hier haben wir ein Verfahren, das sogar auch in Beziehung auf die Einleitung an das Untersuchungs- verfahren erinnert. 5) Endlich in Sachen wo der Friedensrichter selbst un- mittelbar als Augenzeuge oder, nach Auffassung der Praxis, in amtlicher Thätigkeit sich von der Begehung eines Verbre- chens überzeugte, ist er selbst Ankläger, Untersuchungs- und ur- theilender Richter in einer Person. Hier findet die Unter- suchungsmaxime die vollständigste Anwendung. In den von uns unter 3 und 4 angeführten Fällen hängt der Charakter der Verhandlung von dem Ermessen des Frie- densrichter ab. In Beziehung aus die größte Zahl der Fälle läßt sich also gar nicht bestimmen, was für ein Verfahren vor dem Friedensrichter stattfindet. In dieser Beziehung sagt der Cassations-Senat charakteristisch^): „überhaupt besteht das Versahren vor dem Friedensrichter in mündlicher Untersuchungs- Verhandlung 18), die möglichst in einer Sitzung zu beendigen ist." Betrachten wir nun den Verlaus des Verfahrens vor dem Friedensrichter 19). Bei der Ordnung dieses Verfahrens hat der Gesetzgeber das Verfahren vor den ordentlichen Collegialgerichten im Auge gehabt und fich bestrebt, durch möglichste Vereinfachung der Formen, einen möglichst raschen Verlauf desselben herbeizu- führen. Wir haben bereits hervorgehoben, daß der Grundcha- rakter des Verfahrens nicht deutlich formulirt, daß dadurch vielfach Unklarheit verursacht worden ist, Unklarheit welche 17) PINN. YR. KACC. FF. 1867. M 50, 1868. M 368. 18) PasÖopi. — Auseinandernehmen um zu untersuchen — ein Wort das weder Untersuchung noch Verhandlung ausschließlich bezeichnet, sondern beides. 19) Nur eine allgemeine Ueberstcht des Verfahrens können wir hier geben; eine auf das Einzelne eingehende Darstellung würde mehr Raum beanspruchen, als dem Umfange dieser Zeitschrist nach eingeräumt werden könnte. 35 notwendiger Weise an Einzelheiten störend zu Tage treten und auf den Gang des Verfahrens und dessen Resultat ungün- stig einwirken muß. Die Vorbereitung der Anklage ist nur da, wo Verwaltungsbehörden oder die Polizei auftreten, diesen überlassen. Wo ein Privatankläger auftritt kann er, wenn eO sich um ein im öffentlichen Interesse strafbares Vergehen han- delt und eine Untersuchung überhaupt nöthig ist, wählen, ob er bei dem Friedensrichter oder bei der Polizei um eine Unter- suchung nachsuchen will. Im ersten Falle muß dieses Herein- ziehen der Untersuchung in das Verfahren, so sehr es auch im Interesse einer raschen Erledigung zu sein scheint, nothwen- big eine Formlosigkeit des Verfahrens nach sich ziehen, welche eine große Schnelligkeit bes Verfahrens ermöglicht, je- boch keineswegs in gleicher Weife die Gerechtigkeit bes Urtheils sichert. Noch weniger vereinbar mit einem festen geregelten Verfahren ist aber bic Auffassung der Praxis, nach der in dem zweiten der beiden angeführten Fälle, das Verfahren vor dem Friedensrichter ohne directe Klage bei ihm, einfach in Folge eines Antrags auf Untersuchung bei der Polizei und deren Bericht an den Richter, als eröffnet betrachtet wird. Man wird daher nicht sagen können, daß bei dem Verfahren vor dem Friedensrichter die wesentlichen Theile desselben aus der Klage, der Ladung und der mündlichen Verhandlung bestehen, denn es kann ja ein Verfahren auch ohne Anklage eingeleitet werden. Wir können also gar nicht von der Anklage als noth- wendigem Theile deS Verfahrens reden, sondern müssen von der Einleitung oder Anhängigmachung des Verfahrens sprechen. Die zunächstliegende Frage: wodurch wird ein Verfahren eingeleitet? — wird ferner nicht in jedem Falle mit Sicher- heit beantwortet werden können, weil in mehren Fällen es nicht genau festzustellen ist, wodurch und wann das Verfahren begonnen hat. Dem Wortlaute des Gesetzes nach wird das Versahren eingeleitet: 3* 36 1) Durch Anbringung einer Klage seitens des Verletzten (oder seiner gesetzlichen Vertreter oder Bevollmächtigten); 2) durch Einreichung einer Mitteilung von Seiten der Polizei oder einer Behörde; 3) in Folge eigner Wahrnehmung des Friedensrichters. Im ersten der oben angeführten Fälle kann die Einlei- tung des Verfahrens nur wegen mangelnder Zuständigkeit ab- gewiesen werden. Die Klage des Verletzten muß der Friedens- richtet annehmen, sie scheine auch noch so uumotivirt, er muß ein Verfahren einleiten, ein solches kann nur durch ein Urtheil beendigt werden. Im zweiten der obe rwähnten Fälle ist die Eröffnung des Verfahrens abhängig gemacht, von Einreichung einer derartig detaillirten und motivirten schriftlichen Mittheilung der Be- Hörde, daß aus Grund derselben die Verhandlung vor dem Friedensrichter sofort beginnen kann und auch in Abwesenheit eines Vertreters jener Behörde möglich ist. Entspricht die Mittheilung der Behörde den gesetzlichen Anforderungen nicht, so kann sie zurückgewiesen und die Einleitung eines Verfahrens abgelehnt werden. Wie wird es in dem Falle sein, wo von dem Verletzten die Untersuchung bei der Polizei beantragt worden ist und die Polizei über das Resultat dem Friedensrichter berichtet hat? Wenn dieser Bericht nicht den Anforderungen des Art. 50 ent­ spricht — so kann der Friedensrichter die Einleitung eines Versahrens ablebnen. Allein nach der Auffassung der Praxis soll ja in den Erwähnten Fällen nicht die Polizei, sondern der Verletzte als Kläger betrachtet werden, wenn er auch selbst beim Friedensrichter keine Klage eingereicht hat. Klagen des Verletzten müssen aber entschieden werden — also muß der Richter auch unvollständige Mittheilungen der Polizei entge- gennehmen, er kann sie vervollständigen lassen, aber er kann die Einleitung eines Verfahrens nicht ablehnen, denn das Ver­ 37 fahren gilt ja als eröffnet. Man kann in diesem Falle gar nicht genau bestimmen, wann und wodurch das Verfahren als ein- geleitet zu betrachten ist, eine Formlosigkeit die dem ganzen Charakter desselben nachtheilig sein muß. Formlos wird auch die Einleitung des Verfahrens sein, wo eine Sache dem Friedensrich- ter vom Untersuchungsrichter übergeben wird. Das Gesetz erwähnt dieser Art der Einleitung nicht. Eine solche Uebergabe findet aber notorisch statt, wenn auch Nekljudow sie als un- gesetzlich bezeichnet. Wo möglich noch formloser wird die Ein- leitung des Verfahrens sein, wo der Friedensrichter selbst Zeuge der Begehung eines im öffentlichen Interesse strafbaren Vergehens gewesen ist, oder wie die Praxis diesen Satz erwei- ternd interpretirt, in amtlicher Thätigkeit die Begehung eines solchen entdeckt hat. Am formlosesten wo er sich entschließt, die Verhandlung an Ort und Stelle einzuleiten. Wo nun die Einleitung des Versahrens durch die Erhe- bung einer Klage markirt ist, da hat der Friedensrichter zu- nächst seine Zuständigkeit zu prüfen, sowie ob ein gesetzlicher Grund zur Einleitung vorhanden ist. Glaubt er die VerHand- lung ablehnen zu müssen, so muß dies durch eine schriftlich ausgefertigte Verfügung geschehen, damit der Kläger die Mög- lichkeit habe, sie vor dem Oberrichter anzugreifen. Hält der Friedensrichter sich für zuständig und eine Verhandlung für zulässig, so trägt er die Sache in das Tischregister und den Na- men des Angeklagten in ein alphabetisches Verzeichniß ein. Durch diese Eintragung gilt das Verfahren als eröffnet. Da er auch außerhalb seines Amtslocals verfahren kann, so wird er ausnahmsweise auch ohne solche formelle Eröffnung ver- fahren können. Die Klage oder Mittheilung kann eine schrist- liche oder mündliche sein, die letztere muß zu Protocoll genom­ men und von den Betheiligten, wenn sie Schreibens kundig sind, unterschrieben werden. Nachdem der Richter die Klage oder Mittheilung angenommen hat, setzt er durch eine Verfügung 38 zu Protocoll den Verhandlungstermin an. Denjenigen welche zugegen sind ist die Verfügung sofort zu eröffnen, die anderen sind schriftlich unter genauer Angabe der Person, der Zeit, des Ortes, der Sache, der Folgen der Versäumniß zu laden; die Ladung ist vom Friedensrichter eigenhändig zu unterzeichnen. Findet der Friedensrichter es für möglich, so kann, wenn beide Parten erschienen sind, sofort verhandelt werden. Gewöhnlich setzen die Friedensrichter zur Entgegennahme von Bittschriften eine bestimmte Zeit an, sodaß vor dem nächsten Tage überhaupt nicht verhandelt werden kann. Bevor zur eigentlichen Verhandlung der Sache geschritten wird kann eine Sicherstellung der Klage erfolgen. Auf den Antrag des Klägers kann der Schadensersatz sicher gestellt werden. Es kann aber auch nothwendig erscheinen Maßregeln zu ergreifen, um das Erscheinen des Beklagten sicher zu stellen Zu diesem Zwecke kann der Friedensrichter bei Vergehen, für welche Gefäugnißstrafe gedroht ist, wo nöthig sofort oder nachdem der Angeschuldigte auf die erste Ladung nicht erschienen ist, einen Vorführungsbefehl erlassen 20). Dieses Recht den Ver- dächtigen zwangsweise vor Gericht zu bringen, steht auch der Polizei zu. Art. 51. Bei der Mittheilung an den Friedensrichter über ein Vergehen, kann der Angeschuldigte sofort vorgeführt werden: 1) wenn der bei der Begehung eines Vergehens Ergrif- fette der Polizei unbekannt ist und nicht den Nachweis seines Namens und Wohnortes führen kann; 2) wenn bei Vergehen, für welche Gefängniß oder eine schwerere Strafe verhängt ist, zu befürchten steht, daß der An- gefchuldigte sich verberge oder die Spuren der verbrecherischen Handlung verwische. 20) Str. Pr. O. Art. 61. 39 Der Regel nach muß der Angeschuldigte persönlich erschei- nen, in geringfügigeren Sachen (wo die Strafe höchstens Arrest beträgt) jedoch ist die Vertretung durch einen Bevollmächtigten zulässig, falls der Friedensrichter nicht die persönliche Anwe- senheit für nöthig hält. Ist der Aufenthaltsort des Verdächtigen nicht bekannt, so kann er zunächst durch die Polizei seiner Heimath requirirt werden; dann ertheilen die Friedensrichter den Klägern offene Vorführungsbefehle, laut welcher die Kläger die Hülfe der Polizei zur Vorführung oes Verdächtigen, wo sie ihn finden, in Anspruch zu nehmen berechtigt sind. Endlich kann der Frie- densrichter, nach dem Beispiele der Bezirksgerichte, eine öffent­ liche Ladung durch die Zeitungen erlassen. Die Ladung bezweckt, dem Wortlaute und der ganzen Tendenz der Proceßordnung nach, eine mündliche Verhandlung zwischen den Parteien, dem Kläger und dem Beklagten, herbeizu- führen. Die Notwendigkeit der Gegenwart des Verletzten als Klägers wird auch in der Praxis der Friedensrichter anerkannt. Die Proceßordnung weist ferner darauf hin, daß die Beamten, durch deren Mittheilung (Anklage) das Verfahren eingeleitet worden ist, vor Gericht erscheinen oder Bevollmächtigte senden. In den Motiven wird die Notwendigkeit, die Beamten als An- kläger zu laden, direct ausgesprochen'"). Die Praxis hinge­ gen befolgt die Regel, daß an Behörden und speciell die Po­ lizei nur dann eine Ladung zu erlassen sei, wenn dieselben ausdrücklich einen bestimmten Bevollmächtigten als solchen be- zeichnet haben, was aber nur in wichtigen Fällen geschieht. In Folge dessen findet für gewöhnlich eine wirkliche VerHand- lung der Parteien vor dem Friedensrichter nur statt, wo der Verletzte als Kläger auftritt. Wo die Polizei oder andere Behörden im öffentlichen Interesse klagbar werden, kommt es 21) Vgl. HeKanoROBi. a. a. O. S. 114. 40 nur in den wichtigsten Fällen zu einer wirklichen Verhandlung. Nekljudow'̂ ) schildert das Verfahren folgendermaßen: „Ob- wohl, nach den Motiven zur Proceßordnung, „mit der Einführung „des mündlichen Verfahrens, eine Verhandlung auf Grund von „Papieren allein unmöglich geworden ist, ebenso wie es un- „möglich ist den Angeklagten des Rechts zu berauben, seinem „Ankläger Auge in Auge gegenüber zu treten, oder die Pflich- „tm des letzteren auf den Richter zu übertragen, daher die Ladung „der Polizeibeamten, welche die Mittheilung über das Ver- „gehen gemacht haben, unvermeidlich ist," so zeigt doch die Pra- xis leider eine entschiedene Vernachlässigung dieser Regel. Der Friedensrichter begnügt sich gewöhnlich mit der einfachen „Mit- theihmg," verliest sie dem Angeklagten, hört seine Erklärungen und die der Zeugen, wenn solche vorhanden sind, an und fällt das Urtheil. Nachträglich sucht dann die Polizei um Aus- reichung einer Copie des Urtheils nach, um solches den Vor- gesetzten vorzustellen. In Folge dessen hat die anklagende Po- lizei fast niemals die Gelegenheit ihre Unzufriedenheit mit dem Urtheil rechtzeitig, innerhalb 24 Stunden, gerechnet von der Urtheilsfällung, anzumelden. Das Urtheil wird rechtskräftig und die Polizei klagt über Freisprechung Schuldiger und eine laxe Praxis. Die Grundsätze der Verhandlungsmaxime wer- den beseitigt, das Gericht geräth in eine sehr ungünstige Lage, der Angeklagte hält den Richter für den Ankläger; manches Vor- bringen der Angeklagten, da es unwiderlegt bleibt, kann der Richter nicht umhin zu berücksichtigen und in Folge dessen fällt das Urtheil milder ans als gut ist. Oder der Friedensrichter gewöhnt sich, in den Erklärungen des Angeklagten nur das Streben zu sehen sich der Strafe zu entziehen, hält sich ausschließ- lich an die Mittheilung und betrachtet dieselbe als unanstreit- bare Grundlage des Urtheils." Nekljudow meint, durch buch­ 22) A. a. O. S. 114. 115. 41 stäbliche Erfüllung des Gesetzes werde man mit der Zeit zu einer richtigen Handhabung des Gesetzes gelangen. Der letzte Grund dieser falschen Praxis ist jedoch, nach unserer Ansicht, die mißverständliche Auffassung des Grundsatzes des Anklage- Verfahrens und das Verkennen der Wichtigkeit, welche die Feststellung desselben für den Proceß hat. Man vermischte die Officialmaxime mit dem Untersuchungsversahren, betonte die Nothwendigkeit des letzteren, indem man die Official- maxime im Auge hatte. Dagegen meinte man den Grundsatz des Anklageverfahrens nicht ausstellen zu sollen. Weil man beim Friedensgericht den Apparat der Prokuratur für zu um- ständlich und kostspielig hielt, unterließ man es für die Fälle, wo die Polizei die Sache anhängig machte, die Notwendigkeit von Polizeianwälten festzustellen. Dazu kamen von Sei- ten der Polizei bureaukratisch-formalistische Prätensionen. Um diese abzuweisen, sprach der Senat in einzelnen Fällen der Polizei die Anklägerrolle ab, wo es genügend gewesen wäre die formalistischen Prätentionen abzuweisen. So hat die Scheu vor der Anerkennung eines festen Princips dazu geführt, in den frie- densrichterlichen Proceß den Krebsschaden der Vermengung der Attribute des Anklägers und Richters eindringen lassen. Da eine unklare Auffassung der Grundsätze des Versahrens die Ursache dieser falschen Richtung der Praxis gewesen ist, so ist offenbar das einzig wirksame Mittel dieselbe zu beseitigen, die ausdrückliche Feststellung des Grundsatzes, daß ein Verfahren nur in Gegenwart und auf Betrieb eines Anklägers möglich ist. In Beziehung aus die Einleitung des Verfahrens wegen Verletzung von Verordnungen der Kronsverwaltungsfachen ist zu bemerken, daß die Behörden und Beamten, denen die Auf- ficht über die Beobachtung der Verordnungen übertragen ist, ver- pflichtet sind, über die Verletzung ein Protokoll aufzunehmen. Ein solches Protokoll ist aber nur die Bedingung der Einlei- tung eines Verfahrens und hat keineswegs die Bedeutung eines 42 unumstößlichen Beweises. Die Bedeutung desselben als Be- Weismittel hat der Friedensrichter vollkommen selbständig zu beurtheilen, sowie er auch berechtigt ist zu prüfen, ob die Anord- nuug der Polizei, wegen deren Nichtbeobachtung sie aus Bestra- sung anträgt, eine gesetzlich begründete ist23). Die Ladung der Zeugen hat der Friedensrichter zu er- lassen, jedoch können auch die Parteien es selbst übernehmen die Zeugen ohne formelle Ladung zu stellen. Zur Sicherstellung der Jnstizpflege ist nach Art. 69 der Friedensrichter befugt, den Zeugen, wegen unrechtfertigen Ausbleibens aus die Ladung, zu einer Geldstrafe bis 25 Rbl. zu verurtheilen. Derselben Strafe wird der Zeuge unterzogen wegen nochmaligen unrechtfertigen Ausbleibens. Nach Nekljudows Ansicht24) soll mit dieser zweimaligen Geldstrafe die Befugniß des Richters erschöpft sein und derselbe nicht das Recht haben, einen Vorführungs- befehl gegen den Zeugen zu erlassen. Wenn in der Praxis diese Auffassung getheilt wird, und wir haben bei der großen Bekanntschaft Nekljudows mit derselben keinen Grund daran zu zweifeln, so muß dieselbe doch als eine entschieden unbe- rechtigte und falsche bezeichnet werden. Nekljndow begrün- det seine Ansicht, an deren allgemeiner Gültigkeit er übrigens so wenig zweifelt, daß er einer abweichenden Auffassung nicht einmal erwähnt, was er sonst gewöhnlich thut, damit daß in den Motiven gesagt sei: „Anfänglich sei in Aussicht genommen worden beim Aus- bleiben der Zeugen auf die zweite Ladung dieselben vorführen zu lassen. Jedoch wurde diese Bestimmung als zu streng betrachtet, um so mehr, als mit der Einführung eines Contumacialverfahreus, sogar die gewisser Vergehen Angeklagten nicht zum Erscheinen gezwungen werden tonnen as). Man muß zugeben, daß diese 23) Art. 29 d. Friedr. Strafgesetz. — Entsch. b. C.-C.-D. 1867. M14. 24) A. a. O. S. 117-118. 25) Cyfl. YCT. et H3i. paacyatR. I. S. 117. 43 Worte jene Auffassung zu bestätigen scheinen. Allein die Mo- tive eines Gesetzes haben doch nnr eine Bedeutung, sofern aus ihnen wirklich der logische Gedankengang des Gesetzgebers zu erkennen ist. Das kann man von dieser Stelle nicht behaupten. Durch das Contumacialversahren wird bem Angeschuldigten ge­ stattet, in gewissen geringfügigen Fällen aus bie Verteidigung zu verzichten unb bem Gericht zu überlassen, bie Klage allein auf Grunb ber vom Kläger vorgebrachten Beweismittel zu entscheiben, sei es baß ber Beklagte sich für schulbig hält, sei es baß er lieber ber Strafe sich unterwirft, als Zeit unb Geld auf die Führung des Processes zu verwenden. Diese Gründe haben aber keine Bedeutung für den Zeugen. Der Zeuge ist verpflichtet die Handhabung der Justiz zu unterstützen, indem er die ihm vorgelegten Fragen der Wahrheit gemäß beantwortet. Weigert er sich zu erscheinen, so legt er einmal ber Ausübung der Justiz Hindernisse in den Weg und verletzt sodann das Recht desjenigen, der sich auf ihn beruft. Dem Zeugen das Recht geben, nach Belieben sich der Pflicht vor Gericht zu er- scheinen zu entziehen, kann zur Folge haben, daß die Justizpflege unmöglich gemacht wird. Freilich wird in den meisten Fällen durch die zweimaligen Geldstrafen genügend vorgebeugt sein, allein es hat doch immer etwas mißliches einen solchen Satz aufzustellen. Dazu kommt aber, daß, selbst wenn man jene Auslassungen ihrem Wortlaute nach nimmt, man gar nicht berechtigt ist jene Consequenz zu ziehen. Denn wo die Spe- cialbestimmungen, wie hier über den Vorführungsbefehl, man- getn, hat der Friedensrichter die allgemeine Proceßordnung anzuwenden und die ordnet in Art. 438 Vorführung des reni­ tenten Zeugen an. Dazu kommt, daß in den Motiven Art. 438 ausdrücklich zum Art. 69 citirt ist. Abgesehen von diesem Widerspruche in den Motiven ist man nicht berechtigt sie in sol- chett Fällen als maßgebend für die Erläuterung eines Art. hin- zustellen, wo sie einer anderen gesetzlichen Bestimmung, dem 44 Art. 118 und in Folge dessen auch dem Art. 438 direct wider- sprechen. Natürlich wird der Friedensrichter nur in den sel- tensten Fällen von dem Vorführungsrecht Gebrauch zu machen haben, nämlich nur in den Fällen, wo wirklich die Aussage dieses Zeugen von Wichtigkeit ist. Auch bestimmt die Proceß- Ordnung ausdrücklich, daß wegen großer Entfernung der Zeuge durch den örtlichen Friedensrichter vernommen werden kann, ebenso im Falle anderweitiger Hindernisse. Von man- chem Friedensrichter wird es beobachtet und empfiehlt sich, daß zunächst blos die Parteien geladen werden und erst falls ein Ver- gleichsverfuch fehlschlägt und es feststeht, worüber die Zeugen zu vernehmen und wie weit ihre Aussagen vrn Wichtigkeit sind, ein besonderer Termin zur Verhandlung angesetzt werden, zu dem dann die Zeugen zu laden sind. Zwei Drittheil aller angebrachten Klagen sollen durch Vergleich oder in Folge Nichterscheinens des Klägers erledigt werden, in diesen Fällen würde eine sofortige Ladung der Zeugen überflüssig gewesen seilt'26). Ein Aussetzen der Verhandlung und Ansetzen eines neuen Termines ist auf den Antrag beider Parteien ohne Weiteres zulässig, kann aber vom Richter auch angeordnet werden auf Antrag einer Partei oder falls er Augenscheinaufnahme für nothweudig hält, oder die Parteien mit der Herbeischaffung oder die Polizei mit der Einziehung von Nachrichten beaus- tragt (Artt. 73. 74). Bei der Hauptverhandlung selbst, soll (Art 91), nachdem dem Angeschuldigten das Wesen und die Gründe der Anschul- dignng eröffnet worden, der Friedensrichter an ihn zunächst die Frage stellen: ob er sich der ihm vorgeworfenen Handlung für schuldig erkläre. Wird die Frage bejaht, so kann ohne weiteres zur Urtheilssällung geschritten werden. Falls der Angeklagte 26) HexjiH>AOBi>, a. a. O. S. 116. 45 leugnet, oder die Antwort weigert, soll ohne weiteres die Be- Weisaufnahme erfolgen -7). Die Verhandlung soll wo möglich in einer Sitzung erledigt werden (Art. 116). Nach Anhörung der Parteien und Erwägung al ler in der Sache vorl iegenden Beweise entscheidet der Friedensrichter die Frage über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten nach seiner, auf die Ge- fammtheit der bei der gerichtl ichen Verhandlung offenbar gewordenen Umstände gegründeten, innern Ueberzeugung (Art. 119.) Eine Folge des Charakters, welchen das Verfahren an- genommen hat, ist, daß Art. 119 nicht feinem ganzen Umfange nach erfüllt wird. Während der klare und deutliche Wortlaut desselben verlangt, daß der Friedensrichter beide Parteien gehört haben muß, begnügt man sich in der Praxis häufig mit Ver- lefung der Anzeige der Polizei und vernimmt blos den Ange- schuldigten. Der sonstige Inhalt des Artikels ist ohne weitere Erläuterung deutlich: der Friedensrichter ist an keine Beweis- theorie gebunden, und hat die Bedeutung der Beweismittel für jeden Fall in concreto festzustellen. Der Ausdruck „innere" Ueber- zeugung darf übrigens nicht so verstanden werden, als brauchte der Richter über seine Entscheidungsgründe keine Rechenschaft zu geben. Im Gegentheil muß der Friedensrichter fein Ur- 27) Auf weitere Tetails werden wir hier nicht eingehen, da in Bezug auf die Beweisaufnahme das Verfahren vor dem Friedensrichter keine cha* rakteristifchen Besonderheiten bietet. Zu erwähnen ist nur: daß die Zeugen nicht vereidigt werden, wenn beide Partheien sie vom Eide befreien; daß die Eidesleistung nur in Gegenwart eines Geist l ichen vorge­ nommen werden kann nnd der Friedensrichter nicht berechtigt ist, in Ab- Wesenheit eines Geistlichen den Eid abzunehmen; daß er aber in solchem Falle (der die Regel bildet) die Zeugen ohne vorhergehende Vereidigung ver­ hört, nachdem er sie an ihre Pflicht erinnert hat, nach bestem Gewissen alles ihnen Bewußte zu sagen und sie eine Erklärung unterschreiben läßt, daß sie bereit seien ihre Aussage, falls eine der Partheien es verlangen sollte, eidlich zu erhärten. — Augenscheinaufnahmen sollen nur ausnahmsweise der Polizei übertragen werden, in der Praxis ist das jedoch die Regel. 46 theil motiviren, indem er die Thatumstände auseinandersetzt, welche dem Urtheil zu Grunde liegen, mit Hinweisung auf die Gesetze, kraft deren er das Urtheil gefällt hat. Fehlt die Mo- tivirung des Urtheils, so kann dasselbe wegen Nichtigkeit an- gegriffen werden, jedochsnur materiell nicht formell, d. h. nur dann, wenn dem Cassationshof wirklich die Prüfung, ob das Urtheil begründet, unmöglich gemacht worden ist. So wird 28) ein sriedensrichterliches Urtheil cassirt, in welchem einfach be- hauptet worden, „aus der Sache habe das Gericht sich über- zeugt, daß Kläger Ursache zur Beleidigung gegeben habe." Da die Umstände nicht angeführt seien, aus denen das Ge- richt diese Ueberzeugung gewonnen habe, so sei durch diese Unterlassung der Senat in die Unmöglichkeit versetzt worden, die Richtigkeit der Anwendung des Gesetzes über die Oualifi- cation des Vergehens zu Prüfen. Ebenso ist Cassationsgruud Nichtanführung der Gesetze auf Grund deren eine Handlung als Vergehen bezeichnet wird (Entsch. d. C. C. D. v. 5. Juli 1867 M 279), besonders da der Angeschuldigte die Berechtigung seiner Handlung unter Anführung von Gründen behauptet und die friedensrichterliche Versammlung diese gar nicht ge- prüft habe. Dagegen bestimmt der Senat in einem anderen Falle 29), daß, obwohl die Motiviruug des Urtheils mangele, da aber im vorliegenden Falle „Kläger die Gesetze und Gründe nicht angeführt habe, auf welche hin er annimmt, daß das Vergehen anders aufzufassen wäre," als im Urtheil geschehen, das Urtheil nicht aufgehoben, vielmehr das Cassationsgesuch abgewiesen werde. Da wegen mangelnder Begründung des Cassa- tionsgesuches, der Senat gar keinen Grund habe das Urtheil einer Prüfung zu unterwerfen, so könne man nicht sagen, daß der Senat in die Unmöglichkeit versetzt worden, die Berechti- gnng des Cassationsgesuches zu prüfen. 28) Entsch. d. Cr. C. D. 1867 M 151. 29) Entsch. d. Cr. C. D. 1867 M 174. 47 Hält der Friedensrichter nun den Angeklagten für schul- dig, so hat er bei der Verhängung der Strafe sich strict nach den gesetzlichen Bestimmungen zu richten. Er kann also nur solche Handlungen strafen, die im Gesetze mit Strafen bedroht sind. Der Schuldige wird stets in die Kosten verurtheilt. Ebenso der Kläger, wenn dessen Klage nicht als eine in gutem Glauben erhobene sich herausgestellt hat. Auf Schadenersatz soll der Friedensrichter nur dann erkennen, wenn ein bezüglicher Antrag gestellt worden ist. — Zunächst wird das Urtheil ku<.z niedergeschrieben und den Parteien eröffnet (Art. 127), wobei der Friedensrichter verpflichtet ist den Beteiligten auseinan- zusetzen, in welcher Frist und in welcher Ordnung sie das Ur- theil angreifen können (Art. 128). Das motivirte Urtheil muß in 3 Tagen schriftlich ausgefertigt werden. Ein Contumacialverfahren kommt in der Proceßordnung nur im Verfahren vor dem Friedensrichter vor, und nur in geringfügigen Sachen, d. h. solchen in denen höchstens Arrest- strafe verhängt werden kann. Wenn der eines solchen Berge- hens Angeklagte zum festgesetzten Termine nicht erscheint und keinen Bevollmächtigten sendet, oder aber zwar einen Bevoll- mächtigten sendet, jedoch in einer Sache in der er persönlich ge- laden war, so soll der Friedensrichter ein Contumacialurtheil fällen. Weitere Regeln über das Verfahren uuv den Unter- schied zwischen einem solchen und einem gewöhnlichen enthält die Str.-Pr.-O. nicht. Aus der Praxis wissen wir, daß der Richter die vom Ankläger vorgestellten Beweismittel prüft und auf deren Grundlage das Urtheil fällt. Dieses Urtheil muß dem Verurtheilten schriftlich zugefertigt werden und vom Tage des Empfanges an ist er berechtigt innerhalb einer zweiwöchentli- chen Frist ein Gesuch (OTSBIBT.) um nochmalige Verhandlung einzureichen, dem stets nachzugeben ist. Bei nochmaligem Aus- bleiben verfällt der Verurtheilte in eine Geldstrafe und verliert das Recht das Urtheil weiter anzugreifen. Versäumt der Klä­ 48 ger den Termin, so wird kein Urtheil gefällt, vielmehr wird er als von der Klage zurückgetreten betrachtet und zwar sowohl in den Sachen, welche der Friedensrichter zu erledigen hat, als auch in solchen, welche ihm nur zum Vergleichsversuch zuge- wiesen sind. lieber das ganze Versahren muß der Friedensrichter ein Protocoll führen lassen oder selbst führen, in welchem die Vor- nähme sämmtlicher Handlungen nicht nur, sondern auch die Aussagen der Zeugen verschrieben und von ihnen unterschrieben sind. Nekljudow bemerkt dazu: eine genaue Einhaltung die- ser Regel würde die Thätigkeit der Richter geradezu lähmen. Die Rechtsmittel bezwecken wie im allgemeinen so auch im friedensrichterlichen Verfahren den Partheien die Möglich- feit zu gewähren, sich gegen ein Verfahren oder Entscheidungen des Richters, durch welche sie sich beschwert glauben, zu schützen, indem sie auf eine Prüfung der Beschwerde durch die höhere Instanz antragen. Bei den Rechtsmitteln unterscheidet man solche, durch welche die Parteien: 1) während des Verfahrens eine Prüfung der für sie beschwerlichen Verfügungen deS Richters oder seines ganzen Verhaltens veranlassen: Beschwerden UacT- HBIH aiajioßw); 2) sich gegen die Folgen der Contumaeialur- theile sicher stellen: Gesuch um Verhandlung (OTSHB-B O HO- BOMT> PA3CMOTPRBMH KFCJIA)) 3) ungünstig erscheinende Urtheite des Richters angreifen: Berufung (OTBBIB'B) und Cassations- gesuch (npoci>6a o Kaccaivu); 4) eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen InpocBÖa o BosoöiioBjicHiH ffti-ia). In Beziehung aus die Beschwerde (sacTHaa atajroöa) ist folgendes zu bemerken: Während der Verhandlung der Sache sind der Regel nach die Parteien nicht berechtigt, eine Be- fchwcrde über eine ihnen ungünstig erscheinende Handlung des Friedensrichters an die zweite Instanz zu bringen, sie sind viel- mehr mit allen solchen Beschwerden auf die Berufung verwie- 49 fen. Nur ausnahmsweise und in ganz bestimmten Fällen ist eilt außerordentliches Rechtsmittel, die Beschwerde (sacTHaa stazoöa), zulässig30): 1) wegen Verhaftung des Angeklagten; 2) wegen Verfügungen betreffend die Sicherstellung des Schadensersatzes; 3) wegen Nichtannahme der Klage oder eines ordentli- chen Rechtsmittels; 4) wegen Ungesetzlichkeiten bei Ausführung des Urtheils; 5) wegen Verzögerung im Verfahren. Für Geltendmachung dieser Beschwerden ist eine sieben- tägige Frist angesetzt, für Beschwerden wegen Verzögerung ist keine Frist angesetzt. Die Beschwerden werden beim ju­ dex a quo angebracht, mit Ausnahme der unter 3 und 5 erwähnten, welche direct bei der zweiten Instanz einzureichen sind. Die Einbringung der Beschwerde hält die Ausführung der beschwerlichen Verfügung nicht auf, falls nicht der Friedens­ richter selbst oder die zweite Instanz ein Aussetzen derselben anordnen sollte. Die gegen Urtheile gerichteten Rechtsmittel sind: Be­ rufung und Cassationsgesuch. Die Proceßordnung von 1864 stellt als Grundsatz auf, die Gewährung zweier Instanzen zur Verhandlung jeder Sache. Unter Berufung versteht man nun das Rechtsmittel, durch welches ein Urtheil erster Instanz zu nochmaliger Prüfung vor die zweite Instanz gebracht wird, ganz abgesehen davon, aus welchen Gründen es angegriffen wird. Diese Möglichkeit ist jeder Partei gegeben, benutzt sie sie nicht, so entsagt sie dem Recht, das Urtheil ans den etwa vor- handenen Mängeln anzugreifen. Der Zweck ist jedesmal Fin­ 30) Art. 152. Hier sind nur die unter 1, 3 und 5 enthaltenen Fälle ausgeführt, die übrigen folgen jedoch mit Notwendigkeit au? ihrer Be- beutung. — Ueber bie Rechtsmittel gegen bie Contuinacialurtheile siehe oben S. 47 u. 48. 4 50 dung eines richtigeren Urtheils, niemals bloße Vernichtung des angegriffenen. Im Verfahren vor den ordentlichen Colle- gialgerichten ist von der allgemeinen Regel, über die Zulässig- feit der Berufung, eine Ausnahme gemacht für die schwer- sten Fälle mit Rücksicht auf die besondere Bedeutung der Schwur- gerichte. Im friedensrichterlichen Verfahren bezieht sich die Ausnahme auf die leichtesten Fälle, bei deren Geringfügigkeit eine einmalige Verhandlung vor Gericht als genügend erscheint. Es sind das nach Art. 124 alle Sachen, in denen erkannt wird (onpeflfcjriieTCfl) auf: Verwarnung, Bemerkung, Verweis, Geld- strafe bis 15 Rbl., oder Arrest bis 3 Tagen, und in denen der Scha- densersatz 30 Rbl. nicht überschreitet. Durch mehrere Cassa- tionsentscheidungen ist der Sinn dieses Artikels dahin erläutert worden, daß im einzelnen Falle maßgebend sei nicht die zuerkannte Strafe, sondern die gedrohte, welche verhängt werden konnte, so daß ein Urtheil nur als allendlich gilt, wenn die oben be- zeichneten Strafen das Maximum waren, auf welches erkannt werden konnte. Beim Schadenersatz ist also zu berücksichtigen die geforderte Summe3 ' ) . Diejenigen Urtheile, gegen welche eine Berufung möglich ist, werden als Nicht-Endurtheile (HeoKOHiaTejhiiMe upuro- Bop&i) oder appellabele, die hingegen, gegen welche die Be- rusung unzulässig ist, als Endurtheile (oKOHqaxejihHLie npii- roBopu) oder inappellable Urtheile bezeichnet. Zu den End- urtheilen gehören außer den oben erwähnten Urtheile» der er­ sten Instanz, des Friedensrichters, noch alle Urtheile der zwei- teil, der Friedeusrichterversammlung. 31) Entsch. d. Cr.-C.-D. 1867, MJ® 12. 257. 525 u. a. — Vgl. Cyfl. B-fecTB. 1866, M 38. 1867, JW 147. — Nekljudow dagegen behauptet, für den Charakter eines Endurtheils sei maßgebend, nicht die gedrohte, son­ dern nur die concret verhängte Strafe, doch führt er keine Gründe für feilte Auffassung an, offenbar stützt er sich blos aus eine grammatische Interpre­ tation des Art. 124, welche wohl möglich aber nicht zwingend ist. 51 Endurtheile können nur durch Cassationsgesuche ange- griffen werden. Zunächst ist also das Cassationsgesuch das ordentliche Rechtsmittel gegen Endurtheile (oKoimaTeabHue iipnroBopH). Allein es unterscheidet sich von der Berufung außerdem noch durch seine beschränktere Anwendbarkeit und seinen Zweck. Die Berufung kann aus allen Ursachen er- griffen werden, sowohl wegen Überschreitung der Gerichtsbar­ keit oder Verletzung wesentlicher Proceßsormen, überhaupt we- gen Mängel des Verfahrens, als auch wegen unrichtiger Fest- stellung der tatsächlichen Umstände und unrichtiger Anwendung der Gesetze. Das Cassationsgesuch dagegen kann nur aus be- stimmten, gesetzlich bezeichneten Gründen eingewendet werden. Nach Art. 174 der Str.-Pr.-O. sind das folgende: 1) offenbare Verletzung des klaren Sinnes des Gesetzes und unrichtige Interpretation desselben bei der Feststellung der verbrecherischen Handlung und der Strafe; 2) Verletzung von Formen und processualischen Hand- lungen, die so wesentlich sind, daß in Folge ihrer Nichtbeob- achtung das Urtheil nicht als ein richterliches angesehen wer- den kann; 3) Überschreitung der Competenz. Was den Zweck betrifft, so geht derselbe nicht, wie bei der Berufung, unmittelbar auf die Findung eines richtigeren Urtheils, sondern zunächst bloß auf die Vernichtung des an- gegriffenen. In den Fällen unter P. 2 u. 3 ist dieses Resul­ tat, bloße Vernichtung des Urtheils, unmittelbar angezeigt: denn ist das Cassationsgesuch begründet, so hat überhaupt ein Urtheil gar nicht gefällt werden können, es muß also Vernich- tet werden, weil das Verfahren ein ungesetzliches war, oder vor dem nicht gesetzlichen Richter stattfand. Ob das der Fall ist, kann nach äußerlichen Merkmalen festgestellt werden, ohne daß es nöthig wäre auf den Inhalt der Sache einzugehen. In P. 1 dagegen wird das Urtheil angefochten wegen unrich- 4* 52 tiger Anwendung des Gesetzes. Diese Frage kann gründlich nur entschieden werden, Wenn der Richter sich darüber klar wird, welches das richtige Urtheil wäre, wobei ein genaues Ein- gehen aus die Sache selbst nothwendig ist. Hier ist also eine materielle Prüfung und Entscheidung der Sache durch dasselbe Gericht angezeigt. Nach der Proceßordnung findet jedoch auch hier bloß eine Vernichtung des Urtheils statt, die Findung des richtigen wird einem anderen Gericht übertragen. Da diese Bestimmung jedoch keine Besonderheit des sriedensrichter- lichen Verfahrens ist, so werden wir hier aus eine weitere Er- örterung dieser Frage nicht eingehen. Die Anwendung beider Rechtsmittel ist abhängig gemacht von ihrer Anmeldung (oö^aBjenie Heyfloiio.ifcCTBi/i) inner­ halb 24 Stunden, gerechnet von der 'öffentlichen Verkündigung des Urtheils am Schlüsse der Verhandlung 32). Für die mo- tivirte Einwendung des Rechtsmittels ist eine zweiwöchentliche Frist angesetzt, gleichfalls gerechnet vom oberwähnten Zeit- punkte33). Der Ablauf einer dieser Fristen bewirkt Ausschluß des Rechtsmittels. Restitution der Frist ist zunächst bei dem Richter nachzusuchen, gegen dessen Urtheil das Rechtsmittel eingewandt wird und dann erst durch eine Beschwerde bei der zweiten Instanz. Die Anmeldung und Einwendung geschieht mündlich oder schriftlich beim judex a quo. Die rechtzeitige Ein­ wendung jedes dieser Rechtsmittel hat die Wirkung, daß die Be- schreitung der Rechtskraft des Urtheils gehindert wird und dasselbe nicht ausgeführt werden kann. Der Gebrauch des Rechtsmittels steht jeder Partei zu, jedoch nur so weit sie sich verletzt glaubt. Es kann daher je- 32) Art. 128. 181. 33) Für Administrativbehörden ist in Kronsverwaltungssachen die An« Meldung nicht obligatorisch. Da ihnen die Entscheidungen der Friedensrich- ter in Copien zugefertigt werden müssen, so rechnet die zweiwöchentliche Frist zur Einwendung des Rechtsmittels vom Tage, wo ihnen die Entscheidung mitgetheilt wurde. 53 der nur wegen Beeinträchtigung seiner Rechte, nicht der seines Gegners sich beschwereiu Speciell kann ein Cassationsgesuch nicht daraus gestützt werden, daß dem Gegner die Ausübung processualischer Rechte verkürzt worden sei. Eine Ausnahme be- steht in Kronsverwaltungssachen zu Gunsten von Administra- tivbehörden, denen das Recht der Einwendung von Rechtsmit- teilt unbeschränkt zusteht. Die Polizei hingegen ist bei der Einwendung der Rechtsmittel beschränkt: sie ist nur berech- tigt dieselben anzumelden, die wirkliche Einwendung steht dem Procureur zu 34). Die zweite Instanz hat nur die Aufgabe, die Berechti- gung des eingewendeten Rechtsmittels zu prüfen, nur diejeni- gen Handlungen, diejenigen Theile des Urtheils einer Prü- fung in Beziehung auf ihre Rechtsbeständigkeit oder Gerech- tigkeit des Urtheils zu unterwerfen, welche durch die Eiltwen- dung des Rechtsmittels angegriffen sind. Nicht hat sie die Aufgabe, eine umfassende und gründliche nochmalige Unter- suchung der ganzen Sache und eine Prüfung des Urtheils nach allen Seiten hin anzustellen. Die Prüfung der Sache in der zweiten Instanz wird nicht als ein zur Erreichung ei- nes gerechten Urtheils notwendiges Moment betrachtet. Im Gegentheil der Gesetzgeber hält das Verfahren in erster In- stanz für die Erforschung der Wahrheit genügend, gestattet aber den Betheiligten auf nochmalige Prüfung der ganzen Sache oder einzelner Punkte anzutragen. Auf diese Prüfung hat sich denn auch der Richter in der zweiten Instanz zu beschränken. Hieraus folgt weiter mit Notwendigkeit, daß das ganze Ver- fahren in der zweiten Instanz nach der Verhandlungsmaxime geregelt werden muß. Es geschieht das in der russischen Pro- ceßordnung in der Weise, daß der Richter nur über das ihm 34) Vgl. hierüber wie über die ganze Stellung des Procureurs im friedensrichterlichen Verfahren, im I. Bande dieser Zeitschrift, S. 106 —110. 54 vorgelegte Material zu urthei len hat, aber die sonst ige Re- gelung des Verfahrens ist derartig, daß das vorgelegte Mate- rial sehr unvollständig sein kann. Wie dem nun auch sei, je- densalls kann der Richter, wo es sich um ein Cassationsgesuch handelt, das Urtheil nur aus solchen Gründen vernichten, auf welche im Gesuch hingewiesen wird, wo es sich um Berufung han- delt, das etwa zu fällende neue Urtheil nur in den Grenzen der Berufung fällen. „Also kann die Strafe ohne Antrag des Klägers niemals verschärft werden, wenn auch einer der Mit- schuldigen appellirt oder der Procureur in seinem Gutachten auf eine Erhöhung der Strafe angetragen hat, denn der er- ftere kann nur zu eigenen Gunsten appelliren, der Antrag des letzteren kann nur den Zweck haben, den richtigen Sinn des Gesetzes festzustellen, also für die Zukunft ähnliche Fehler in der Bestimmung der Strafe zu verhindern oder den Frie- densrichter zur Verantwortung zu ziehen, in keinem Falle aber eine Verschärfung der Strafe des Angeklagten nach sich ziehen"35). Wie die Grundsätze beider Rechtsmittel ähnlich, ja ihnen gemeinsam sind, so ist auch das Verfahren bei beiden ganz gleich. Beide werden bei dem judex a quo, also zunächst beim Friedensrichter eingewendet, der die rechtzeitige Einwen- dung bescheinigt und die ganze Sache im Laufe dreier Tage dem beständigen (Stiebe der Friedensrichterversammlnng zusen­ det. Cassationsgesuche gegen Urtheile ber letzteren werben von derselben bem Criminal - Cassations - Departement bes Senats zugesanbt. Der Gegner erhält aus seine Bitte eine Copie bes Gesuchs, burch welches bas Rechtsmittel eingewenbet werben ist unb kann seine Erklärung birect bei bem Obergericht einrei­ chen. Es ist seine Sache bafür zu sorgen, baß seine Erklä- rung rechtzeitig in bie Hänbe bes Richters gelangt. Nach ber 35) Entscheidung des Cr. C. D. 1867, M 290. ES geht übrigens aus dieser Sache hervor, daß in der Praxis die Stellung des Procureurs sich vielfach als eine unklare erweist. 55 Proceßordmmg sollen auch beim Verfahren vor der Friedens- richterversammlung die Regeln für das Verfahren vor dem Frie- densrichter maßgebend sein, jedoch mit folgenden Ausnahmen: 1) Die Gegenwart der Parteien oder ihrer Bevollmäch- tigten ist nicht erforderlich, in Folge dessen brauchen sie nicht geladen zu werden und kann das Verfahren in ihrer AbWesen- heit stattfinden. Jedoch sind sie berechtigt zu erscheinen, aber es ist ihre Sache, daß sie den Tag der Verhandlung ersah- reu36). Es kann also ein Verfahren und eine Entscheidung in der Sache gefällt werden, ohne daß eine Verhandlung statt- gefunden hat und doch soll das Versahren auch in der zwei- ten Instanz mündlich sein. 2) Die Beantwortung des Gesuchs, durch welches Be- rufung eingelegt oder der Antrag auf Cassation gestellt wurde, von Seiten des Gegners ist nicht nothwendig. Es kann also ein ordentliches processualisches Versahren stattfinden, bei der Berufung ein neues Urtheil gefällt werden, auf den einseitigen Antrag der einen Partei. In der ersten Instanz war das auch mög- lich, aber ein solches Verfahren erhielt eine besondere Bedeu- tung, wurde dem ordentlichen nicht gleichgestellt, wie das hier geschieht. Gerade wie bei»: Contumaeialversahren kann auch hier die Abwesenheit eine freiwillige und eine unfreiwillige sein. Im ersten Falle ist nichts weiter zu sagen: der Ausbleibende hat freiwillig aus sein Recht verzichtet. Im zweiten Falle da- gegen muß es entschieden als ein Mangel der Proceßordmmg bezeichnet werden, daß trotzdem das einseitige Verfahren zu Recht bestehen bleibt und eine Restitution unmöglich ist. Um die Übeln Folgen, die hieraus entstehen könnten, zu beseitigen, bestimmt die Proceßordmmg zwei Ausnahmen: a) in den Sachen, wo eS fich um Gefängnißstrafe han­ delt, muß der Angeklagte zugegen sein; 36) Entscheidung des Cr. C. D. 1867, M 210. 56 b) in allen anderen Sachen kann der Richter die Anwe- senheit beider Parteien verlangen. Eine Folge obiger Grundsätze ist, daß überall da, wo nicht beide Parten erschienen sind, eine eigentliche Verhandlung vor Gericht nicht stattfindet, noch weniger kann man von Münd- lichkeit des Verfahrens sprechen, wo keiner der Parten erschie- nett ist 37). 3) Noch auffallender, als die beiden erstgenannten Ne- geltt, ist eine weitere, die Begränzung des der zweiten Instanz vorzulegenden Materials betreffend. Sie ist enthalten im Art.1 50: 2)ieParteien können ihreBeweise vorstel len und sowohl diejenigen Zeugen aufführen, welche bei der ursprüngl ichen Verhandlung zugegen waren, als auch die, welchen es aus irgend welchen tr i f t i - gen Gründen nicht möglich gewesen vor dem Frie- densrichter zu erscheinen. Wenn jedoch Beweise und Zeugen zur Zeit des Vortrags der Sache nicht vorgestel l t worden, so wird die Verhandlung nicht aufgeschoben, es fei denn daß die Parteien um die Vorladung ausgebliebener Zeugen gebeten, und die Versammlung für die Gewährung dieser Bit te kein Hinderniß erbl ickt. Dieser Artikel wird in der Praxis folgendermaßen ange- wandt: a) die Parteien haben das unbeschränkte Recht, nicht nur ihre bisher in erster Instanz vorgebrachten Beweismittel, sondern auch neue der zweiten Instanz vorzulegen, resp. Zett- gen mitzubringen. Solche Beweismittel muß das Gericht be- rücksichtigen, resp. die Aussagen der Zeugen anhören, wenn die Vorlage der Beweismittel, das Erscheinen der Zeugen aus beachtenswerten Gründen beim ursprünglichen Verfahren nicht 37) Art. 156 verlangt jedoch Mündlichkeit des Verfahrens. _ 57 stattfinden tonnte38). Wenn dagegen der Parte die verspätete Produktion nicht rechtfertigen kann, so hängt die Zulassung der Zeugen von dem Ermessen der Friedensrichterversammlung ab3 9). In einer andern Entscheidung wird jedoch bestimmt, daß eine solche Ablehnung stets eine motivirte sein müsse40). b) Das Gericht hat das unbeschränkte Recht, wenn die Parteien um Ladung von Zeugen oder Beweisaufnahme bit- ten, solches zu gewähren oder zu verweigern. Die Gewährung dieses Gesuchs ist völlig in das Ermessen des Gerichts ge- stellt4'). Nekljudow fügt hinzu4'2): „das Gericht sei be- rechtigt, die Zeugen einer Partei laden zu lassen und der ctitdctit Partei die Ladung ihrer Zeugen zu verweigern. Die Parteien hätten kein Recht, Aussetzung der Verhandlung zu verlangen, wenn es ihnen auch unmöglich wäre, die Beweismittel zum Ter- min zu beschaffen." Der Richter ist, nach dem Wortlaute des Gesetzes, nicht nur berechtigt die Aussetzung zu verweigern, weil er die Beweismittel für irrelevant hält, sondern er braucht die Aussetzung nur zu gestatten, wenn er kein Hinderniß für dieselbe findet. Durch solche Formuliruug des Gesetzes wird das Ermessen als einzig entscheidend hingestellt, nicht das Jnter- esse der Sache. Wenn ein Zeuge böswillig ausbleibt, um eine Partei zu chicanireu, so braucht der Richter trotzdem ihn nicht laden zu lassen und der Partei kann so die Möglichkeit, den Beweis zu führen, genommen werden! c) Nur wenn der Friedensrichter wider das Gesetz einen Zeugen nicht angehört hat, ist die Friedensrichterversammlung verpflichtet, einen solchen Zeugen zu laden und zu verhören 43). 38) Entscheidung des Cr. C. D. 1867, M 445. 1868, MM 74 282. 39) Entscheidung des Cr. C. D. 1868, MM 146. 148. 40) Entscheidung des Cr. C. D. 1868, MM 2. 71. 41) Entscheidung des Cr. C. D. 1866, M 9.80. 1867, MM 25.52. 67. 42) a. a. O. 1., S. 236. 43) Entscheidung des Cr. C. D. 1867, MM 2.4. 371. 58 d) Dagegen soll die Friedensrichterversammlung in sol- chen Fällen, wo es sich um Vergehen handelt, die im öffentli- chen Interesse strafbar sind, berechtigt sein Zeugen zu laden und also Beweismittel anzuwenden, die von keiner Seite bean- tragt worden sind 44). In diesen Regeln treten uns wieder die Folgen der un- klaren Auffassung der Grundregeln des Processes und der unkla- ren Formnlirung einzelner Artikel entgegen. In Folge dessen zeigt sich ein vollkommen regelloses Verfahren: die Parten mögen zusehen wie sie die zur Verhandlung notwendigen Zeu­ gen mitbringen, irgend welche Unterstützung braucht das Ge- ficht ihnen nicht zu gewähren, wenn es ein Hinderniß der Ge- Währung findet. Dagegen braucht auch das Gericht fich um die Parten nicht zu kümmern, es kann Zeugen laden, deren Ladung von selbigen gar nicht beantragt ist. Ein solches Ver- fahren wird, wie wir oben sahen, durch eine große Anzahl von Cassationsentscheiduugen bezeugt 4&). Allein es finden sich auch Entscheidungen, die von entgegengesetztem Standpunkte ausgehen. So entscheidet der Senat einmal46): „Nach dem genauen Sinne des Art. 168 ist es der Friedensrichterversamm­ lung nicht freigestellt, eine Ladung und Befragung von Zeu- gen vorzunehmen, wenn der Appellant nicht darauf angetra- gen hat, um so weniger als die Zeugen von den Parten zu stellen find und nur renitente Zeugen auf Antrag der Par- teil durch das Gericht zu laden sind." Hier wird die Stel- tuug des Gerichts klar und deutlich aufgefaßt. Es hat bloß darüber zu urtheilen, was die Parteien ihm vorlegen. Wer- den dem Verfahren böswillige Hindernisse in den Weg gelegt, so können die Parten dieselben mit Hülfe der richterlichen Au- torität beseitigen. Man kann die Aufgabe des Gerichts nicht 44) Entscheidung des Cr. C. D. 1867, M 416. 45) Vgl. auch HeMtoflOBT,, pyK. I., S. 235—237. 46) Entscheidung des Cr. C. D. 1867, J\S 16. 59 deutlicher und klarer sormuliren. Leider scheint diese Auf- fassung in den Cassationsentscheidungen und der Praxis nur aus- nahmsweise zur Geltung zu kommen, uns ist nur eine in die- sem Sinne abgefaßte Entscheidung aufgestoßen. Die entgegen- gesetzte obbezeichnete Auffassung tritt in zahllosen Entscheidun- gen des Senats als die herrschende entgegen und auch Ne- kljudow in seinem Handbuche vertritt sie, indem er ein fast unbeschränktes Ermessen des Richters als nothwendig und in der Praxis acceptirt darstellt. Das Verfahren vor der Friedensrichterversammlung be- ginnt mit der Verlesung des angegriffenen Urtheils. Ist kei- ner von den Parten erschienen, so wird das Appellations- oder Cassationsgesuch verlesen und, wenn eine solche bis zum Tage vor der Sitzung eingegangen ist, auch die Erwiderung ans die- selbe. Dann giebt der Procureur sein Gutachten ab, die Rich- ter ziehen sich zurück und fällen das Urtheil, das sofort bekannt gemacht wird. Sind beide Parteien erschienen, so kann außer der Ver- lesung ihrer Eingaben, oder an Stelle derselben (das Gesetz ist nicht ganz deutlich) eine mündliche Verhandlung stattfinden, es kann zu einem Zeugenverhör und sonstiger Beweisaufnahme und Schlußverhandlungen zwischen den Parteien kommen. Nach Schluß der Verhandlung folgt stets das Gutachten des Procureurs, welches in allen Fällen abgegeben werden muß 47). 47) Nekljudow meint freilich (et. a. O. I., S. 239- 241), es sei das ein Abusus und sucht zu beweisen, daß ein solches Begutachten aller Fälle, auch derer welche durch Vergleich beigelegt werden könnten, unvereinbar sei mit der Stellung eines öffentlichen Anklägers. Er befindet sich bier offenbar in einem Zrrthum. Die Thätigkeit des Procureurs vor der Friedensrichter- Versammlung kann gar nicht als die eines Anklägers aufgefaßt werden: der Procureur soll sich über die Bedeutung der vorgebrachten Beweismittel und der auf die Sache bezüglichen Gesetze äußern. Nekljudow sagt selbst, daß der Procureur vor dem Friedensrichter gar nicht als Ankläger zu sungiren habe, beurtheilt aber seine Thätigkeit in der Friedensrichterversammluug den- noch von dem Standpunkte einer beschränkten Anklägerrolle. Allein nicht 60 Der Angeklagte oder sein Vertreter soll jedoch stets das letzte Wort haben. Diese Bestimmung giebt zu vielfachen Streitig- leiten Anlaß. Der Angeklagte soll tatsächlich unrichtige Be­ hauptungen des Procureurs zurechtstellen können, aber nicht gegen seine Darstellung Polemisiren. Wie sich eine solche Tren- mtng überall wird durchführen lassen, ist nicht recht einzusehen. Ist endlich nur eine der beiden Parteien erschienen, so ist sie berechtigt Alles, was sie zur Unterstützung ihrer Sache vorzubringen für nöthig hält, mündlich auseinander zu setzen. Nachdem in der einen oder anderen Weise das Verfahren beendet ist, findet die Urtheilssälluug statt unb muß das Ur­ theil sofort eröffnet werben. Liegt eine Caffationssache vor, so wirb burch bie Ent- scheibnng bes Gerichts bas Gesuch entweber abgelehnt ober bemselben wirb nachgegeben, unb bann wirb bas angegriffene Urtheil vernichtet unb bie Sache zu nochmaliger Verhanblung bemselben Friebensrichter ober einem anberen übergeben. Ge- gen bie Entscheibnng über Vernichtung bes Urtheils ist ein Rechtsmittel nicht zulässig, gegen bas Urtheil bes zweiten Rich- ters nur so weit von ihm selbst Nullitäten begangen worben sinb. nur aus den Motiven, sondern aus der Proceßordmmg geht dircct hervor, daß der Procureur vor dem Friedensgericht nie Ankläger ist, sondern als Vertreter des Gesetzes auftritt, speciell daß sein Gutachten vor der Friedens- richterversammlung, die aus Nichtjuristen bestehen kann, nur die Bedeutung einer juristischen Beleuchtung einer Sache hat, die bereits Anlaß zu Be­ schwerden gegeben bat. Daß dieser Charakter im Gesetz nicht consequent durchgeführt ist, müssen wir zugeben. So z. B. in der Bestimmung, daß wo die Polizei Ankläger ist nicht sie, sondern nur der Procureur die Berufung einlegen kann. Hier wird dem Procureur geradezu für einen Augenblick die Anklägerrolle übertragen. Tagegen ist sein Recht, gegen Entscheidungen des Friedensrichters zu protestiren, oder Entscheidungen der Friedensrichter- Versammlung durch seinen Protest an das Cassations-Departement zur Prü­ fung ihrer Rechtsbeständigkeit zu bringen, mit jener Auffassung wohl ver­ einbar. Endlich wollen wir noch zugeben, daß in der Praxis möglicherweise die Thätigkeit des Procureurs in der Friedensrichterversammlung den Anklage- Charakter tragen mag und sich daraus Nekljudow s Auffassung erklären lasse. 61 Ist das Urtheil in einer Appellationssache ergangen, so ist gegen dasselbe noch ein Cassationsgesuch zulässig, zunächst wegen Nullitäten, die von der Friedensrichterversammlung be- gangen worden sind, dagegen wegen Nullitäten im Verfahren erster Instanz nur, wenn dieselben bereits bei der Appellation geltend gemacht, aber von der zweiten Instanz nicht beseitigt worden sind. Die Protokolle über die Verhandlung in der sriedens- richterlichen Versammlung sollen nach denselben Regeln geführt werden, wie bei den Friedensrichtern 48). Streng genommen bezieht sich diese Regel jedoch nur aus die Verzeichnung des formellen Ganges der Verhandlung 49). Ist dagegen die Auf- nähme des Materiellen der Verhandlung eine unvollständige, sind z. B. die Aussagen der Zeugen gar nicht oder unvoll- ständig eingetragen, so ist das kein Cassationsgrund, da die Regel über die Protokollirung der Zeugenaussagen nur die Bedeutung hat, beim Appellationsverfahren in der zweiten In- stanz eine genaue Feststellung der Zeugenaussagen zu ermöglichen. Da beim Senat eine Verhandlung über die Sache selbst un­ zulässig ist, so ist auch die Nichtbeobachtung dieser Regel nicht als Cassationsgrund anzusehen. In Beziehung auf die Be- dentung der Protokolle ist die Auffassung des Senats eine sehr schwankende. Obwohl auch im friedensrichterlichen Verfahren. Art. 845 der Str.-Pr.-O.: Formen und Handlungen, deren Beobachtung durch dasProtokol l nicht bezeugt ist, werden als verletzt angesehen — anzuwenden wäre, so entscheidet der Senat diese Sachen doch in sehr verschiede- ner Weise. Einmal werden diejenigen Handlungen, über deren Beobachtung im Protokoll nichts verschrieben ist, als verletzt angesehen80). Ein anderes Mal dagegen werden nur die Vor- 48) Str.-Pr.-O. Art. 170. 49) Entscheidung des Cr. C. O. 1867, M 504. 50) Entscheidungen des Cr. C. D. 1867, MM 88. 90. 1868, M 723. 62 schristen, über deren Verletzung auf Antrag der Parteien im Protokoll verschrieben worden, als verletzt angesehen, wenn eine solche Eintragung in das Protokoll nicht stattgesunden hat, wird ein Beweis auf anderer Grundlage nicht gestattet und daS Cassationsgesuch abgewiesen8'). In anderen Fällen da- gegen wird der Beweis gegen das Protokoll durch Zeugen gestattet52). Was endlich die Wied er ausnähme der Untersuchung betrifft, so erscheint dieselbe als außerordentliches Rechtsmittel gegen rechtskräftige Urtheile. Nach Art. 180 kann die Wie­ deraufnahme erfolgen, im Falle der Entdeckung neuer Umstände, welche die Unschuld des Verurtheilten beweisen oder die Fälschung der Beweismittel, ans welchen das rechtskräftige Urtheil ba- sirt, jedoch nicht anders als mit Genehmigung des Senats. lieber das in solchem Falle einzuschlagende Verfahren findet sich nichts weiter. In der Str.-Pr.-O. Art. 934 ist gesagt: Vorstellungen der Proeureure und Bitten der Verurtheil- ten, um Wiederaufnahme der Untersuchung in solchen Sachen, wo die Urtheile bereits rechtskräftig geworden sind, werden an das Cassations-Departement des Senats gerichtet (oöpamaroTCfi BT, KaccaitioHHBift flen. CenaTa). Im Art. 936 ist gesagt: Der Senat überzeugt sich jedenfalls vorläufig von der Wich- tigkeit der Thatsachen (Umstände), auf welche die Bitte um Wiederaufnahme der Sache sich stützt, und übergiebt (oopa- maeTi.), wenn er das Gesuch begründet findet, die Sache dem kompetenten Gerichte. In der Praxis ift das einzuschlagende Verfahren durch eine Entscheidung der Cr.-C.-D. vom 23. Nov. 1866 Nr. 56 festgestellt worden: „Die Wiederaufnahme einer entschiedenen Sache kann nicht anders als mit Genehmigung (C-B pasp-fc- 51) Entscheidungen des Cr. C. D. 1867, MM 3. 127. 160. 393. 512. 1868, MM 745. 849. 52) Entscheidung des Cr. C. D. 1867, M 241. 63 meHia) des Senats erfolgen. Die wirkliche Bedeutung (der Geist, TO'IHMÜ pasyarf») dieses Gesetzes, wie aus dem buch- stäblichen Sinn der letzten Worte desselben hervorgeht, besteht darin, daß wegen der Wichtigkeit dieser Maßregel, dieselbe von der competenten Behörde nicht anders als mit Genehmigung des Senats ergriffen werden kann. Das Wort Genehmigung setzt eine Vorstellung um Gestattung irgend wessen voraus, diese Vorstellung muß nicht von den Parten ausgehen, die nicht selbst Richter in eigener Sache sein können, sondern von der Behörde, von der die erbetene Maßregel vorgenommen werden kann. Der dirigirende Senat hat keine Möglichkeit alle Bitten um Wiederaufnahme von Sachen, welche durch die Friedensgerichte entschieden sind, durchzusehen und die nöthi- gen Data einzusammeln. Der Entscheidung des Senats haben daher nicht die Bitten der Parten zu unterliegen — diese Bit- ten müssen von der betreffenden Instanz geprüft werden — sondern nur die Vorstellungen der Instanz, welche das End- urtheil gefällt hat, ob diese Bitte zu berücksichtigen sei. Eine solche Bitte muß dem Friedensrichter, der das Urtheil gefällt hat, übergeben werden, von diesem werde es abhängen, wenn seine Entscheidung nicht vor der Friedensrichterversammlung beklagt wird, die Genehmigung zur Wiederaufnahme der Sache zu erbitten." Die friedensrichterlichen Urtheile werden rechtskräftig: 1) in Folge ausdrücklicher Erklärung beider Parteien, daß sie sich dem Urtheile unterwerfen oder der Einwendung der Rechtsmittel entsagen; 2) wenn im Laufe von 24 Stunden, gerechnet von der mündlichen Verkündigung des Urtheils, von keiner Seite Un- Zufriedenheit gegen dasselbe erklärt, d. h. angemeldet worden ist. ES genügt also die rechtzeitige Anmeldung eines Rechts- mittels von Seiten einer Partei, um die Beschreitung der Rechtskraft durch das Urtheil zu hindern. Ein solches Urtheil 64 kann auch in Beziehung aus die andere Partei nicht als rechts- kräftig geworden betrachtet werden 63); 3) wenn nach rechtzeitiger Anmeldung des oroentlichen Rechtsmittels dasselbe innerhalb der zweiwöchentlichen Frist nicht eingewendet worden ist; 4) wenn dem Cassationsgesuch nicht nachgegeben wor- den ist5 4); 5) Contumacial-Urtheile werden rechtskräftig durch Ver- säumniß der zur Einlegung der Rechtsmittel (Protest und Appellation; Cassationsgesuch ist unzulässig) bestimmten Fristen, von einer Anmeldungsfrist ist bei denselben keine Rede55). Die im zweiten Punkt erwähnte Anmeldung ist jedoch nicht obligatorisch für Administrativbehörden in Kronsverwal­ tungssachen, da für diese die Appellationsfrist von dem Tage läuft, an welchem die Behörde die schriftliche Ausfertigung des Urtheils entgegennahm. Dagegen ist die Beobachtung der Anmeldungsfrist bindend für die Polizei und auch für den Procureur, obwohl letzterer in den vor den Friedensgerichten verhandelten Sachen niemals als Partei, sondern stets als Vertreter des Gesetzes auftritt. Die Anmeldung muß im Protokoll verschrieben werden. Der Anmeldende hat selbst dafür zu sorgen, daß solches ge- schieht, da er berechtigt ist das Protokoll zu unterschreiben, und etwaige Mängel sofort zu rügen. Daher müßte, wenn im Protokoll nichts verschrieben ist, die Frist als versäumt betrach- tet werden. Allein die Anmeldung kann auch außer der Sitzungs­ 53) Entscheidung des Cr. C. D. 1867, Jtä 481. 54) Durch Abweisung der Berufung und Bestätigung der friedens- richterlichen Entscheidung in der zweiten Instanz wird dasselbe dagegen nicht sofort rechtskräftig, da diese letztere Entscheidung durch ein Cassationsgesuch angegriffen werden kann und die bestätigende Entscheidung zweiter Instanz erst durch Ablauf der Anmeldung?- resp'. Einwendungssrist des Cassations- gesuchs unanfechtbar wird. 55) Str.-Pr.-O. Art. 181. 65 zeit geschehen (im Laufe von 24 Stunden) durch Uebersendung einer schriftlichen Notiz, ja durch mündliches Vorbringen. In solchen Fällen wird häufig die sofortige Aufnahme eines Pro- tokolls unmöglich sein. Die Praxis ist eine sehr schwankende, bald wird das Protokoll als absolut beweisend angesehen, bald wird es gestattet den Beweis rechtzeitiger Anmeldung durch Zeugen zu führen, auch wenn im Protokoll nichts verschrieben ist und der Friedensrichter in seinem Berichte an das Ober- gericht erklärt hat, die Anmeldung habe nicht statt gesunden 56). Eine Besonderheit des friedensrichterlichen Verfahrens ist die erwähnte Anmeldung ordentlicher Rechtsmittel. Die fonsti- gen Bestimmungen über die Beschreitung der Rechtskrast sind dieselben wie in dem ordentlichen Verfahren vor den Colle- gialgerichten. Da die Anmeldung und Einwendung der Rechtsmittel die Beschreitung der Rechtskraft durch das Urtheil hindert, so kann dasselbe in solchen Fällen auch nicht ausgeführt werden. Die Rechtsmittel können nun sowohl gegen das ganze Urtheil als auch gegen einzelne Theile desselben gerichtet sein; sie können von beiden Parteien oder von einer und wenn dieselbe aus mehreren Personen besteht, nur von Seiten eines oder einiger eingelegt sein. In solchen Fällen kann das Urtheil in Bezug auf die nicht angegriffenen Theile oder die Betheiligten, welche das Rechtsmittel nicht ergriffen haben, rechtskräftig und in Folge dessen, wenn eine theilweise Ausführung möglich ist, auch theilweise vollstreckt werden. So kann das Urtheil, wenn ge- gen die Bestimmung über den Schadenersatz appellirt oder von der Civilpartei ein Cassationsgesuch eingereicht ist, als Strafurtheil rechtskräftig und ausgeführt werden und umgekehrt. Oder wenn von mehreren Theilnehmeni der Begehung eines Vergehens nur einige das Rechtsmittel eingewandt haben an­ 56) Vgl. HeKJnoflOB-b, a. a. O. S. 275—277. 5 66 dere nicht, so wird das Urtheil in Bezug auf letztere rechts- kräftig und bleibt es, selbst wenn es in Bezug auf erstere ab- geändert oder aufgehoben wird. Die Gründe, welche die Ausführung eines rechtskräftigen Urtheils hindern, wie z. B. Tod deS Verurtheilten, Vergleich bei Antragsverbrechen, sind dieselben wie im allgemeinen Ver­ fahren, das friedensrichterliche Versahren bietet hier kaum Ei- genthümlichkeiten. Durch den Tod des Verurtheilten wird die Vollziehung des schon vorher rechtskräftigen Urtheils unmög- lich, soweit es sich um persönliche Strafe handelt, nicht aber in Bezug auf Geldstrafe oder gar Schadenersatz, welche aus dem Nachlaß des Verstorbenen beigetrieben werden. Vergleich ist bei Antragsverbrechen zulässig vor Vollzie- hung des Urtheils, durch einen solchen wird das Urtheil aufgeho- ben. Unter Vollziehung ist die wirkliche Vollstreckung des Ur- theils zu verstehen, nicht die schriftliche Aufforderung des Frie- densrichters an die betreffenden Behörden oder Beamten zur Ausführung des Urtheils zu schreiten87). Charakteristisch für die formalistische Richtung der Praxis und Einseitigkeit, mit der Gesetze interpret ir t und angewendet werden, ist, daß, wie Ne- kljudow bezeugt, bis zum 8. Dec. 1867, wo jene in der An­ merkung citirte Cassationsentscheidung erging, die Friedensrich- ter den Vergleich nicht mehr zuließen, sobald nur die Aussüh- rung des Urtheils schriftlich angeordnet war, abgesehen von seiner wirklichen Vollstreckung. Nekljudow motivirt diese Pra- xis durch eine enge, einseitige Auffassung des Art. 157 des Strafgesetzbuches und übersieht Art. 20 it. 22 des Friedens­ richterstrafgesetzes, in welchen letzteren zu einer beschränkenden, das Vergleichsrecht einengenden Interpretation, gar kein Anhalts- Punkt gegeben wird. 57) Entscheidung des Cr. C. D. 1867, M 580. 67 Ausgesetzt kann die Vollstreckung werden in Folge von Krankheit bis zur Genesung, in Folge der Flucht bis zur Hab- hastwerdung, in Folge der Einleitung eines Verfahrens wegen eines anderen Vergehens oder Verbrechens zum Zweck gemein- samer Vollstreckung beider Urtheile. Die Vollstreckung der Urtheile soll durch den Friedens- richtet* selbst stattfinden. Er hat daher die Aufforderungsschrei- ben an die Behörden, deren Mitwirkung dazu erforderlich ist lz. B. Chefs der Gesängnißanstalten), selbst zu erlassen. Eine Ausnahme findet für Geistliche und Militärpersonen statt: hier werden die Vorgesetzten zur Vollstreckung des Urtheils vom Friedensrichter requirirt. Urtheile der friedensrichterlichen Ver- sammlung werden entweder durch den Friedensrichter vollstreckt, bei dem die Sache entstand, oder auf Anordnung des Vorsitzenden. Die Vollstreckung soll ungesäumt nach Beschreitung der Rechts- kraft erfolgen. Für Zahlung von Geldstrafen und etwaigen Schadenersatz hat der Friedensrichter mit Rücksicht auf die facti- scheu Verhältnisse besondere Fristen für Zahlung der ganzen Summe oder Teilzahlungen anzusetzen. Sind dergleichen an die Krone zu zahlen, so hat der Verurtheilte stets eine zwei- monatliche Frist. Erst nach Ablauf dieser Fristen kann eine zwangs- weise Beitreibung erfolgen. Erwähnen wir zum Schluß noch der Gerichtskosten, so ist in Bezug auf dieselben Folgendes zu bemerken. Wie das Verfahren in Strafsachen überhaupt, so ist auch das vor dem Friedensgericht von Stempelgebühren befreit. Die Parteien haben an Kosten nur zu tragen: 1) die Vergütung, welche die Zeugen und Sachverständigen für etwaige Reise­ kosten beanspruchen können (3 Kop. für die Werst und 25 Kop. für den Tag); 2) die Kosten für Aufbewahrung, Versendung, chemische Untersuchung u. s. w., materieller Beweisstücke; 3) die Kosten für Publikationen in den Zeitungen. Diese Kosten hat der Verurtheilte zu tragen. Im Falle 5* 68 der Freisprechung, wenn die Klage eine böswillige gewesen ist, der Kläger, sonst, sowie falls der Verurtheilte zahlungsunfähig ist, der Staat. Kosten, welche durch Aussetzung von VerHand- lungen und Terminen entstehen, hat der zu tragen, welcher die Aussetzung verursacht hat; er ist auch im Falle er siegen sollte nicht berechtigt Ersatz solcher Kosten vom Gegner zu verlangen. Für Ausfertigungen werden nur Schreibegebühren erho- ben; Verurtheilte, welche arm sind müssen Copieen des Urtheils gratis erhalten. Nur bei Cassationsgesnchen an den Senat ist neuerdings durch ein am 1. Juni 1868 Allerhöchst bestätigtes Reichsraths­ gutachten die Erlegung eines Succumbenzgeldes von 10 Rbl. vorgeschrieben worden, offenbar als Mittel, um die ungeheure Zahl unbegründeter Cassationsgesuche über Urtheile der Frie- deusrichterversammlungen, mit denen der Senat überschwemmt wurde, in etwas zu beschränken. Von der Hinterlegung des Succumbenzgeldes sind übrigens befreit: 1) alle Personen, die sich in Hast befinden oder zu Gefängnißstrase verurtheilt sind, 2) die Procureure, 3) alle Kronsbehörden. Wird das Gesuch als begründet befunden, so wird das deponirte Geld zurück- gezahlt, im entgegengesetzten Falle verfällt es der Krone. Je- doch kann der Senat, wenn Petent sich in einer Lage befin- det, welche die Anwendung des Armenrechtes absolut recht- fertigt und das abgewiesene Gesuch nicht jeder Begründung entbehrte, die Rückgabe der Succumbenzgelder verfügen. Bei solchen Beschränkungen kann die Erlegung eines Succumbenz- geldes in keiner Weise als drückend erscheinen und muß als sehr zweckentsprechend bezeichnet werden. «3. Engelmanu. in. Präjudieien des Rigaschen Stadtrechts aus dem Gebiet des Civil- und Handelsrechts. (Fortsetzung.) 35. Die Rechte aus einem Kauf- oder Lieferungsgeschäfte können von dem einen Contrahenten ohne Zuziehung und Genehmigung des anderen an einen Dritten mit der Wirkung abgetreten werden, daß derselbe gegen Leistung der entsprechenden Verbindlichkeit des Ceden- ten die Erfüllung des Vertrages von Seiten des an- deren Contrahenten zu verlangen und darauf zu klagen berechtigt ift*). (Art. 3467, 3470 und 3487 des Prov.-Rechts Th. 3.) Die Handlung N. hatte von Ch. 500 Tonnen Krön« Säeleinsaat zum Preise von 11 ̂ Rbl. per Tonne, bis späte­ stens den 31. October 1867 zu liefern und nach geschehener Lieferung zu bezahlen, gekaust und dem Ch. einen bezüglichen Schein ausgereicht. Ch. übertrug seine Rechte aus dem Kauf­ vertrage durch Cessionsvermerk auf der von der Handlung N. ausgestellten Kaufbescheinigung auf den Kaufmann F., welcher bei dem Wettgerichte wider die Handlung N. auf Empfang der derselben verkauften 500 Tonnen Säefaat und Bezahlung *) Vgl. das Erk. des O.--A.-G. zu Darmstadt, im pract. Arch. it. F. VII, S. 96 und 97. 70 des Kaufpreises klagte. An dieser Klage rügte die beklagte Handlung den Mangel der Sachlegitimation des Klägers, in- dem sie behauptete, daß Ch. ohne ihre Zustimmung seine Lie- serungsverbindlichkeit nicht auf den Kläger habe übertragen dürfen, weil der Schuldner nicht ohne Einwilligung des Gläu- bigers einen Anderen an seine Stelle als Schuldner substi- tuiren yirfe und es nur eine (Session von Rechten, nicht aber von Verbindlichkeiten gebe. Die Einrede der mangelnden Sachlegitimation wurde je- doch sowohl in dem Erkenntniß v. 25. Januar 1868 M 55 als in dem Querelbescheide des Rigaschen Raths v. 17. Januar 1869 M 376 übereinstimmend verworfen. Wir lassen die Entschei- dungsgründe beider Instanzen, soweit sie hier interessiren, folgen: 1) Motive des wettgericht l ichen Erkenntnisses: „Ein Lieferungscontract gehört zu den zweiseitigen Verträgen (Prov.-Recht Th. 3, Art. 3106), bei welchem jeder Contra- hent gleichzeitig berechtigt wie verpflichtet, Gläubiger und Schuldner ist, und zwar erscheint der Lieferant insofern als creditor, als er von dem Empfänger die Zahlung des be- dungenen Kaufpreises für die verkaufte Waare zu verlangen berechtigt ist, weshalb ihm denn auch zweifellos die Befugniß zustehen muß dieses Recht zu cediren. Von der allge- meinen Regel, daß Forderungsrechte jeder Art cedirt werden können (4367 1. c.), hinsichtlich der Bilateralcontracte deshalb eine Ausnahme zu statuiren, weil hier die Geltendmachung des vertragsmäßigen Rechtes durch die Übernahme der resp. Verbindlichkeit bedingt ist, also Recht und Verbindlichkeit mit einander verbunden sind, — liegt nach der richtigen und ge- genwärtig herrschenden Ansicht *) kein Grund vor. Denn wirk- lich „cedirt" wird immer nur das durch die Klage zu realisi- *) Vgl. Seuffert, Pandekten, § 299 Note 9. Sintenis, Civil- recht, II § 128 sub III. Windscheid, Pandecten, II § 335 Note 14. 71 rende Recht, nicht das Obligationsverhältniß als solches (Art. «3470 1. c.). Deswegen erscheint aber keineswegs ausgeschlos- fett und unstatthaft, daß der Cessionar, welchem das Recht cum onere abgetreten wird, sich zugleich seinem Cedenten ge- genüber verpflichtet, die letzterem obliegende, zur Realisirung des cedirten Rechtes erforderliche Erfüllung des Contractes selbst vorzunehmen, weil es ein nicht zu bestreitender Rechts- satz ist (Art. 3487 1. c.), daß der Schuldner, falls nicht das Gegentheil ausdrücklich verabredet ist oder aus der Natur der Sache sich ergiebt, die Obligation nicht in Person zu erfüllen braucht, sondern die Erfüllung auch durch einen Dritten be- Werkstelligen kann, vorausgesetzt natürlich, daß die Erfüllung in bedungener Art erfolge." „In solchem Falle kann aber nicht gesagt werden, daß der Lieferant „an seiner Stelle einen Anderen als Schuldner snbstituire." Denn es wird nicht der ursprüngliche Schuldner von seiner Verbindlichkeit gegenüber dem Gläubiger liberirt und der Verantwortung für die gehörige Erfüllung des Vertrages überhoben, sondern er bleibt vielmehr nach wie vor seinem Contrahenten persönlich dafür verhaftet, daß derselbe seine vertragsmäßige Befriedigung wirk- lich erhalte, und das neben und unbeschadet der bestehenden Obligation zwischen dem Schuldner und dem Dritten, welcher für jenen zu liefern sich verpflichtet, neubegründete Schuld- verhältniß äußert auf den Gläubiger nur insofern einen Ein- fluß, als dieser — falls ihn nicht etwa besondere Umstände im concreten Falle hierzu berechtigen — die gehörig an­ gebotene Erfüllung abseiten des Dritten nicht zu- rückweisen darf und durch gehörige Ausführung der- selben der ursprüngliche Schuldner in der That be- freit wird. (Art. 3483 u. 3487 1. c.) Wenn Solchem nach schon nach den Grundsätzen des allgemeinen bürgerlichen Rechts die Cessibilität der aus eiuem zweiseitigen Vertrage entsprin­ 72 genden Rechte unter gleichzeitiger Uebernahme der entsprechen- den Verbindlichkeiten nicht zu bezweifeln ist, so kann dies vom Standpunkte des, eine möglichst freie Bewegung des Verkehrs und prompte Effectnirung der Handelsgeschäfte erstrebenden Handelsrechtes noch weniger der Fall sein: auch nach den Grundsätzen des letzteren steht es fest *), daß der Gläubiger, wenn er anders nicht ein besonderes Interesse an der Persön- lichkeit des Leistenden hat, es dem Schuldner nicht verwehren kann, sich beliebig der Stellvertretung durch dritte Personen zu bedienen und die tägliche Erfahrung lehrt, daß auch am hiesigen Handelsplatze in der That die aus einem Lieferungs- geschäste dem Lieferanten erwachsenden Rechte von diesem ohne Weiteres auf andere Personen in der Weise übertragen wer- den, daß letztere gleichzeitig die entsprechenden Verbindlichkei- ten auf sich nehmen." 2) Entscheidungsgründe der Appellat ionsin­ stanz: „Es ist der Rechtssatz: daß auch die Rechte aus einem Kauf- oder Lie- ferungsgeschäste von dem einen.Contrahenten ohne Zuziehung und Genehmigung des andern an einen Drit ten mit der Wirkung abgetreten werden kön- nett, daß derselbe gegen Leistung der entsprechen- den Verbindl ichkeit des Cedenten die Erfül lung des Vertrages von Seiten des anderen Contrahenten zu verlangen und darauf zu klagen berechtigt ist, sowohl in der Theorie begründet, als durch die Praxis auch d s hiesigen Ortes anerkannt und festgestellt." „Es unterliegt keinem Zweifel, daß schon nach röm. Recht Klagen aus dem Kaufcontracte abgetreten werden konnten, und damit stimmt auch das Prov.-Recht überein, wenn es im Art. 3467 1. c. besagt: Forderungsrechte jeder Art, sie *) Vgl. Endemann, Handelsrecht, § 97 Note 13. 73 mögen aus Verträgen oder aus unerlaubten Handlungen ent- sprungen sein, können Gegenstand der Abtretung sein Wenn sonach die Forderung auf Bezahlung des Kauf- Preises abgetreten ist und von dem Cessionar durch Klage gel- teud gemacht wird, so ist es natürlich und selbstverständlich, daß er zur Begegnung der exceptio non adimpleti contractus sich zugleich zur Erfüllung der dem Cedenten obliegenden Ver- pflichtung erbietet, und es kann nur die Frage entstehen, ob der andere Kontrahent sich die Erfüllung von Seiten des Cef- sionars anstatt des Cedenten gefallen zu lassen braucht. Die Beantwortung dieser Frage kann aber in allen den Fällen nicht zweifelhaft sein, wo die Leistung nicht an die Person des Schuld- ners gebunden ist, was überall da eintritt, wo es sich um Lie­ ferung einer Waare handelt. Dies wird auch von dem Prov.- Recht Art. 3487 1. c. deutlich ausgesprochen, indem es da- selbst heißt: Ist eine Forderung auf eine Leistung deS Ver- pflichteten in Person beschränkt, so muß dieser selbst erfüllen. In allen anderen Fällen kann die Erfüllung für den Schuld- ner, selbst ohne dessen Wissen und wider dessen Willen, von einem Dritten geschehen. Bei dieser Bestimmung des Gesetzes kann es keinem Zweifel unterl iegen, daß auch der andere Kontrahent — ausgenommen in den Fällen, wo es auf die Persönl ichkeit des Leistenden ankommt — für verpfl ichtet angesehen werden muß, auch die von einem Drit ten angebotene Erfül lung entgegenzunehmen." „Für den Handelsverkehr ist der oben aufgestellte Rechts- satz eine unentbehrliche Notwendigkeit, da er eine möglichst freie Bewegung zu seinem Gedeihen erfordert; diese würde aber beschränkt sein, wenn die Forderung aufgestellt würde, daß die Erfüllung eines Kaufgeschäfts immer durch die Eon- trahenten selbst zu realisiren sei. Der obige Grundsatz ist daher im täglichen Verkehr auch unseres Orts von der Han- delswelt anerkannt und in fortwährender Übung." 74 36) Zur Auslegung des Art. 3480 des Prov.-Rechts Th. 3. Beklagter, welcher dem Michail S. über den letzterem annoch geschuldeten Kaufpreis eines Jmmobils eine Obliga- tion ausgestellt hatte, opponirte der wider ihn von dem Cessiona- ren des Michail S. am 6. Juli 1868 erhobenen Klage auf Bezahlung des Obligationscapitales die Einrede der Litispen- denz aus Grund dessen, daß er am 7. Mai 1868 wider den Cedenten des Klägers eine Klage auf Refcisston des Kauf- Vertrages und Rückgabe der fraglichen Obligation angestellt habe und Kläger sich diese Einrede aus der Person seines Ce- denten gefallen lassen müsse, weil er, Beklagter, erst durch die Anstellung der Klage am 6. Juni 1868 Kenntniß von der Cessio» erlangt habe. Kläger berief sich hiergegen auf den Art. 3480 des Prov.-Rechts Th. 3, nach welchem der Schulo- ner dem Cesstonaren nur solche Einreden entgegensetzen dürfe, welche ihm gegen den Cedenten vor der Abtretung und zur Zeit derselben bereits zustanden (eine Regel, von der nur hinsichtl ich der Gegenforderungen eine Ausnahme zugelassen werde), während in casu die Cession am 23. April, die Klageanstellung abseiten des Beklagten wider den Ceden- ten Michail S. erst am 7. Mai stattgefunden habe. Über diesen Streitpunkt äußern sich die Motive des Erk. der I. Section des Landvogteigerichts vom 26. Novbr. 1868 M 251 folgendermaßen: „Mit Rücksicht auf die Vorschrift des Art. 3474 1. c.: „Der bisherige Gläubiger gilt, ungeachtet der Abtretung, noch so lange als Gläubiger, bis der Cessionar vom Schuld- ner Befriedigung erhalten, oder denselben gerichtlich belangt oder ihn wenigstens von der Abtretung gehörig in Kenntniß gesetzt hat ..." kann der Art. 3480 1. c., wenn man nicht anders die nach Art. XIV u. XX der Einleitung 1. c. unzulässige Annahme unterstel len wi l l , daß zwischen beiden Gesetzesstellen ein Widerspruch obwalte, und wenn 75 man andererseits nicht voraussetzt, daß'der letztere Artikel eine sowohl den als Quelle und Beleg zn ihm al legirten Pan- dectenstel len, als auch dem bisher geltenden Rechte zuwiderlaufende Vorschrift habe geben wollen, — nur so aufgefaßt werden, daß für die Geltendmachung von Einreden gegen die cedirte Forderung gegenüber dem Cessionar für den Cefsus ganz al lgemein nicht der Zeitpunkt der Cession, sondern der der Benach- r icht igung des Schuldners von derselben entscheidend i st *), und würde daher, da die Wandelungsklage vom Beklagten schon am 7. Mai 1868 angestellt worden ist und Kläger die Be- hauptung des Beklagten, er habe erst durch die gegenwärtige am 6. Juli 1868 wider ihn verlautbarte Klage von der Cession Kunde erhalten, unwidersprochen gelassen hat, — die Einrede der Litispendenz an und für sich dem Kläger wohl entgegenstehen." 37) Der solutionis causa adjecfcus hat kein selbständiges Klagerecht wider den Schuldner. (Art. 3491 des Prov.-Rechts Th. 3.) Beklagter hatte urkundlich versprochen den Kaufpreis für eine von B. in Segewolde gekaufte Partie Vieh mit 575 Rbl. „dem B. aus Segewolde, refp. der Handlung Z. & Co." am 16. December 1867 zu bezahlen. Die auf Grund dieses Versprechens von der Handlung Z. & Co. erhobene Klage wurde von dem Wettgerichte durch Erkenntniß vom 24. Fe­ bruar 1868 M 134 wegen mangelnder Legitimation zur Sache abgewiesen, in dessen Motiven es heißt: „Die der Klage zu Grunde liegende Bescheinigung be- sagt, daß Beklagter sich verpflichtet hat „die Schuldforderung B. aus Segewolde, refp. der Handlung Z. & Co." zu ent- *) Vgl. Seuffert, Pandekten, § 302 Note 6. Arndts, Pandecten, § 266. Windscheid, Pandecten, II § 332 sub 1. Sintenis, Civil- recht, II § 128 nach Note 93. Vangerow, Pandecten, III § 575 Anm. 1. 76 richten, d. h. Einem oder dem Anderen Zahlung zu leisten. Ein solches Versprechen, das der ursprüngliche Gläubiger sich geben läßt, hat zur Folge, daß der Schuldner dem Dritten (solutionis causa adjectus) mit vollkommenem Rechtsesfect Zahlung zu leisten berechtigt ist; eine Verpflichtung zur Zahlung an diesen Dritten begründet es aber nicht, ebenso- wenig als daraus dem Letzteren ein Klagerecht in eigenem Namen erwächst. (Prov.-Recht Art. 3491. lex. 10 Dig. de solut. et Uber. XLVI, 3. vgl. Sintenis, Civilrecht, II § 103 Anmerkg. 51 u. 64). Bei dieser durch den Wortlaut der Be- scheinigung gerechtfertigten Auffassung unterliegt es keinem Zweifel, daß aus ihr ein selbständiges Klagerecht der klä- gerischen Handlung nicht herzuleiten ist." • 38) Die Beweiskraft einer mehr als 30 Tage alten Quittung ist nach Art. 3678 des Prov.-Rechts Th. 3 zu beurtheilen. Der Art. 3534 des Prov.-Rechts Th. 3 besagt, daß eine einfache Quittung erst nach Ablauf von 30 Tagen feit ihrer Ausstellung Beweiskraft erhält, bis dahin aber durch die Einrede der nicht empfangenen Zahlung beseitigt werden kann, insofern letztere nicht durch eine später erfolgte Anerkennung der Quittung ausgeschlossen ist. Ungewiß bleibt dabei, welche Wirkung die bereits in Beweiskraft überge- gangene Quittung habe; die Entscheidung dieser Frage muß daher gemäß Art. XXI der Einleitung 1. c. in den Vor­ schriften über die Beweiskraft der Schuldverschreibungen, welche gleichfalls hauptsächlich auf der zu dem Art. 3534 cit. als Belegstelle allegirten lex. 14 Cod. de non num. pec. IV, 30 beruhen, gesucht werden und wird in dem Art. 3678 1. c. in Übereinstimmung mit der in der gemeinrechtlichen Doctrin vorherrschenden Anficht *) dahin gegeben, daß die Urkunde nach *) Vgl. Sintenis, Civilrecht, II § 96 Note 45. Seufsert, Pan­ decten, II § 284 Nute*12. Wetzell, System, § 22 Note 35. 77 Ablauf der für die Anfechtung bestehenden Frist zwar voll- kommenen Beweis liefert, der Gegenbeweis wider dieselbe in- dessen nicht ausgeschlossen, sondern lediglich in soweit beschränkt ist, als er nicht durch Eidesdelation geführt werden darf." (Aus den Motiven eines Bescheides der I . Section des Landvogteigerichts vom 22. Februar 186.9 M 89). 39) Die Rechtswohlthat der Competenz auf Grund des Art. 3526 Punkt 8 des Prov.-Rechts Th. 3 steht dem Schuldner gegenüber denjenigen Forderungen, welche erst nach dessen Jnsolvenzerklärnng entstanden sind, nicht zu. „Die unter den Parteien streitige Frage, ob der Schuld- ner, welcher bonis cedirte, das beneücium competentiae auch denjenigen Gläubigern gegenüber geltend machen kann, denen er erst nach der Güterabtretung schuldig geworden ist, muß un- bedingt verneint werden. Wenn schon der subjective Beweg- grund des Insolventen zur Güterabtretung in der Regel dar- in zu sehen ist, daß er sich auf die Dauer gegen den Andrang seiner zur Zeit der Jnsolvenzerklärung bereits existirenden Gläubiger schützen wolle und daher, gemäß seiner eigenen In- tention, die Güterabtretung gegen die Letzteren, nicht aber auch gegen später etwa hinzukommende Creditoren rechtliche Wir- kuugeu äußern solle; wenn ferner die Ausdehnung der in Rede stehenden Rechtswohlthat, als eines nur gewissen Personen ver- liehenen Privilegs, nach der Bestimmung des Privatrechts, Einleitung Punkt XIX, im Zweifel in dem Sinne aufgefaßt werden muß, welcher am wenigsten von dem für die übrigen Personen geltenden Rechte abweicht, so werden die etwanigen Bedenken, welche gegen die Verneinung der oben aufgeworfe- nen Frage entstehen könnten, durch die deutliche Vorschrift der als Quelle des Art. 3526 des Prov.-Rechts Th. 3 in der Note h. ibid. verzeichneten 1. 3. C. de bonis auctor. judicis poss. VII, 72 vollends gehoben. Diese Gesetzesstelle hat in 78 Übereinstimmung mit dem § ult. J. de actionibus IV, 6 Fol­ gendes zum Inhalte: Ex contractu, qui cessionem rerum antecessit, debi- torem contra juris rationem convenies, quum eum aequitas auxilio exceptionis muniat; d. h. mit Unrecht wirst du den Schuldner aus einem Contracte, welcher der Güterabtretung vorausging, in Anspruch neh- men, da ihn die Billigkeit mit Hilfe einer Einrede schützt. „Erleidet es mithin keinen Zweifel, daß die Rechts wohl- that der Competenz nur auf Vertragsverhältnisse, welche vor der Güterabtretung bereits existent ge- Wesen, zu beschränken ist*), so muß, da Beklagter nicht geleugnet hat, daß die gegenwärtig ausgeklagte Forderung erst nach seiner Jnsolvenzerklärung entstanden ist, die von ihm vor- geschützte Competenzeinrede für hinfällig erachtet werden." (Aus den Entscheidungsgründen eines Erkenntnisses des Vogtei- gerichts vom 8. Juni 1868 M 48). 40) Die Rechtswohlthat der Competenz auf Grund des Art. 3526 Punkt 8 des Prov.-Rechts Th. 3 setzt eine förmliche, unter Mitwirkung des Gerichtes und an die Gesammtheit der Gläubiger erfolgte Güterabtretung voraus. Im Gegensatze zu der Entscheidung des Vogteigerichts vom 6. Juli 1868 M 53, welches dem Schuldner K. das benef. compet. auf Grund dessen einräumte, daß derselbe im sactischeu Zustande der Zahlungsunfähigkeit sein *) Die auf lex 4 § 1 Dig. de cess. bon. 42,3 gegründete entgegen­ gesetzte Ansicht, welche noch von Thibaut, civilist. Abhandlungen, M 16, S. 350 ff. vertheidigt wurde, ist von der neueren Doctrin durchgängig auf- gegeben worden. Vgl. darüber Vangerow, Pandecten, I § 174 Anmerkg 2 sub 8. Holzschuh er, Theorie u. Casuistik, III S. 242 sub 10 u. S. 243. Wind scheid, Pandecten, II § 267 Note 8. 79 Vermögen mit Zustimmung seines Hauptgläubigers A. einem anderen Gläubiger S. abgetreten hatte, wurde in dem App.- Erk. des Rigaschen Rathes vom 18. Juni 1869 M 4420 angenommen: „Wenn nun auch dem Appellaten K. darin beizustimmen ist, daß sich aus den Acten sehr wohl entnehmen läßt, daß er sich im Zustande der Insolvenz befindet, so geht doch aus den- selben zugleich hervor, daß eine formelle Jnsolvenzerklärung und eine Abtretung seines Vermögens an die Gesammtheit seiner Gläubiger nicht stattgefunden hat. Denn eine solche Abtretung kann, wenn sie rechtliche Wirkungen mit sich führen sol l , nur vor Gericht und an die Gesammt- heit der Gläubiger geschehen, in welchem Falle sie dann Veranlassung zur Konkurseröffnung wird. Eine solche Abtre- tung und daher auch eine Concurseröffnung über das K.'sche Vermögen hat aber nicht stattgefunden. Das von Seiten des Appellaten K., wenn auch mit Zustimmung einer seiner Haupt- gläubiger A. mit einem anderen Hauptgläubiger S. getroffene Arrangement, demzufolge er diesem sein sämmtliches Vermö- gen zur Realisiruug desselben und zur Abwickelung seines Hau- delsgeschäfts übergeben hat, kann somit als eine mit Rechts- Wirksamkeit für feine sämmtlichen Gläubiger verbundene cessio bonorum nicht angesehen werden. Daher k an n A p p el l a t K. auch auf die nur mit der cessio bonorum verbun­ dene Rechtswohlthat der Competenz, nach welcher ihm in Ansehung feines späteren Erwerbes soviel, als zu seinem Unterhalt unumgänglich nöthig ist, von seinen Gläubigern ge- lassen werden muß, einen Anspruch nicht erheben." 41) Wen trifft die Beweislast, wenn über den Rechte bestand der einer Expromission zu Grunde liegenden Forderung Streit entsteht? (Art. 3585 des Prov.-Rechts Th. 3.) 80 In den Motiven eines Beweisinterlocnts der I. Section des Landvogteigerichts vom 6. November 1869 M 220 kommt hierüber vor: „Die Expromission hat zu ihrer Voraussetzung nach Art. 3585 des Prov.-Rechts Th. 3 allerdings das wirksame Beste- hett der Forderung, in Bezug auf welche sie stattfand, und ist ungültig, wenn diese der Rechtsbeständigkeit ermangelte. Gleich- wohl ist es nicht die Ausgabe des klagenden Gläubigers, außer den die behauptete Novation begründenden Thatsachen, welche die allgemeinen Voraussetzungen seines Anspruchs enthalten, auch noch die frühere Existenz der mittelst Novation umgewandelten Schuld zu beweisen. Vielmehr hat der Gegner, wenn er glaubt wegen mangelnder causa die Gültigkeit der Novation bestreiten zu können, die Nichtexistenz der alten Schuld zu be- haupten und erforderlichen Falls in Erweis zu setzen." 42) Haftung des früheren Inhabers einer Handlungsfirma für die zur Zeit der Veräußerung bereits bestehenden und die nachher von dem Erwerber der Handlungs- firma contrahirten Schulden. Die Handlung M. & S. hatte mit dem Beklagten, wel- cher in Riga ein Geschäft unter der Firma H. R. I. etablirt hatte, seit Jahren im Contocourent-Verhältniß gestanden, in- dem sie Beklagtem Mannsacturwaaren auf Credit verabfolgte und von demselben successive Zahlungen empfing. Nach dem unter ihnen geführten Contobuche war Beklagter am Schlüsse des Jahres 1866 der Handlung M. & S. ein Saldo von 1237 Rbl. 96 Kop. schuldig geblieben nnd machte darauf am 4. Januar 1867 bei dem Wettgerichte die Anzeige, daß er sei- nett Handel aufgegeben und seine Firma H. R. I. aus seinen Sohn Gustav Leopold I. übertragen habe, während letzterer gleichzeitig bei dem Weltgerichte die Eröffnung eines Manu- factur- und Kurzwaarengeschäfts unter der Firma H. R. I. 81 anzeigte. Nachdem der Gustav Leopold I. in Concurs ge- rathen war, erhob die Handlung M. & S. am 29. Februar 1868 wider den Beklagten Klage auf Bezahlung eines am 1. Febr. 1868 aus dem Conto-Courent mit der Firma H. R.I . zu ihren Gunsten verbliebenen Saldo's im Betrage von 964 Rbl. 78 Stop, nebst Weilrenten, zu deren Begründung sie anführte, Beklagter sei zur Bezahlung dieses Guthabens deshalb ver- pflichtet, weil er sie von der Übertragung seiner Handlung nebst allen Passiven ans seinen Sohn Gustav Leopold I. weder be- nachrichtigt, noch sie jemals in den Übergang ihrer Forderung an Beklagten auf dessen Sohn gewilligt habe. Beklagter setzte dieser Klage die Einrede der mangelnden passiven Sachlegiti- mation entgegen und machte namentlich geltend, daß das am Schlüsse des Jahres 1866 verbliebene Saldo der klägerischen Handlung von seinem Sohne, der ja die Geschäftsverbindung mit derselben fortgesetzt habe, bereits im Juni 1867 bezahlt worden sei, und daß für den während der Folgezeit gewähr- teil Credit klägerische Handlung sich nur an seinen Sohn, als damaligen Inhaber der Firma, halten könne. Durch Er- kenntniß der I. Section des Landvogteigerichts vom 22. Februar M 26 wurde indessen diese Einrede znrückgewie- sen und dabei ausgeführt: „An die Spitze seiner Vertheidigung stellt Beklagter den Satz, daß für. die Verbindlichkeiten einer Handlung nur de- ren wirklicher Inhaber zu haften habe, — ein Satz, der in der ihm vom Beklagten beigelegten Bedeutung, nach welcher unter dem „wirklichen" der jeweilige factische Inhaber zu verste- hen ist, als unbedingt unrichtig bezeichnet werden muß. Da- hingestellt kann es hier bleiben, in wieweit es theoretisch rich- tig ist von Verbindlichkeiten „einer Handlung" als solcher zu sprechen, da in dem hier einzig interessirenden practischen Re- sultate die Doctrin wie die Praxis des Handelsrechts dahin übereinstimmen, daß für die im Handelsbetriebe contrahirten 6 82 Handlungsschulden nicht blos das etwa ausgesetzte besondere Handelskapital, sondern das gesammte Vermögen des Geschäftsinhabers, gleichviel, od dieser eine einzelne Per- son oder eine offene Handelsgesellschaft ist, verhaftet bleibt. Insofern wird also eine Schuldverbindlichkeit nicht blos „der Handlung" als solcher, sondern stets auch eine persönliche des Handlungsinhabers durch die unter der Handlungsfirma eingegangenen Handelsgeschäfte erzeugt. Wenn aber nicht al- lein die Handlung, sondern auch die Person ihres Inhabers als Obligationsschuldner erscheint, so folgt gemäß der allge- meinen Rechtsregel, daß der Schuldner nicht ohne Einwilli- guug seines Gläubigers sich seiner Schuldverpflichtung entledi- gen und statt seiner einen Andern als Schuldner stellen kann (vgl. P.-R. III Art. 3388 Punkt 2), hieraus, daß durch den Übergang der Handlung auf einen neuen Inhaber der bisherige keineswegs von der Haftung für die von ihm contrahirten Schulden l iberirt wird, selbst wenn der erstere ausdrücklich und öffentl ich erklärt, er habe die Handlung mit allen Activen und Pafsi- ven übernommen, sondern daß die gedachte Befreiung des ursprünglichen Schuldners erst dadurch eintritt, daß der betreffende Gläubiger seiner Einwil l igung in die stattgehabte Delegation einen bestimmten und deutlichen Ausdruck verleiht. Ohne eine diesbe? zügliche Willensäußerung braucht der Crcditor sich hinsicht­ lich seiner Befriedigung nicht an den neuen Inhaber des Geschäftes verweisen zu lassen, sondern ist befugt, sich an den ehemaligen Geschäftsinhaber zu halten, gleich als ob eine Übertragung des Geschäftes überhaupt nicht stattgesunden hätte *). *) cf. Brinckmann, Handelsrecht, S. 189 bei Note 6. Thöl, Handelsrecht, § 39 sub III. Endemann, Handelsrecht, § 17 sab II. 83 Hieraus ergiebt sich denn die UnHaltbarkeit des obigen Satzes und mit diesem zugleich fallen auch sämmtliche vom Beklagten daraus gezogenen Consequenzen, welche der von ihm opponirten Einrede der mangelnden passiven Sachlegitimation zur rechtlichen Grundlage dienen. Der Umstand, daß Beklag- ter bei dem Wettgerichte die Anzeige machte, wie er seinen Handel aufgegeben und seine Firma auf seinen Sohn über- tragen habe, konnte an dem zwischen ihm und seinen Credi- toren, speciell der klägerischen Handlung, bestehenden Rechts- Verhältnisse Nichts ändern: er blieb nach wie vor für die von ihm contrahirten Schulden verantwortlich. Ja dies müßte selbst dann behauptet werden, wenn er durch eine öffentliche Be- kanntmachnng oder durch ein Circulair den Übergang seiner Firma mit Active« und Passiven auf seineu Sohn zur Kennt- niß der klägerischen Handlung gebracht, sein Sohn die Über- nähme der Passiva ausdrücklich erklärt und letztere auf diese Notifikation geschwiegen hätte, indem ein solches Schweigen keineswegs rechtlich als eine Zustimmung zu betrachten (P.-R. Th. III Art. 2941) und demselben mithin auch feine rechtliche Wirkung beizulegen wäre. Und ebensowenig läge eine Ein- willignng der klägerischcn Handlung, Beklagten von seiner Zahlnngbpflicht zu entlassen und dafür seinen Sohn als allei- nigen Schuldner anzunehmen, schon darin, wenn dieselbe, mit dem Übergange der Firma bekannt, die Geschäftsverbindung mit dem Gustav Leopold I. fortgesetzt und denselben um Be­ zahlung des am Schluß? 1866 verbliebenen Saldo gemahnt, sowie Zahlungsversprechen von demselben entgegengenommen hätte, weil der animus novandi nicht zu vermnthen, sondern allein dort als vorhanden anzunehmen ist, wo er sich aus den Umständen unzweifelhaft ergiebt, während in dem gedachten Falle die Auslegung näher liegt, daß klägerische Handlung neben dem Beklagten, als ursprünglichen (Kontrahenten, auch noch dessen Sohn, als Handlnngsübernehmer, als Schuldner 6* 84 ansehen wollte, wozu sie im Falle einer feinerfeitigen Erklä- rnng über die Übernahme der Passiva zweifelsohne befugt gewesen wäre*). „Wenn Vorstehendem zufolge also die Verpflichtung des Beklagten, den nach Hingabe der oberwähnten Obligation über 700 Rbl. an Zahlungsstatt verbliebenen Rest des am Schlüsse des Jahres 1866 sich ergeben habenden Saldos der klägeri- schen Handlung zu bezahlen, auch in dem Falle nicht als er- loschen anzusehen wäre, daß letztere in der That von der Übertragung der Firma H. R. I. auf den Gustav Leopold I. eine gehörige Benachrichtigung erhalten hätte, so kann dies um so weniger jetzt gelten, wo Beklagter seine Behauptung, daß klägerische Handlung von der fraglichen Thatfache Wissen- schaft habe, gänzlich unerwiesen gelassen hat. Vielmehr knüpft sich hieran die weitere Rechtsfolge, daß Beklagter der klägeri- schen Handlung die Berufung auf die stattgehabte Übertragung seines Handlungsgeschäftes überhaupt gar nicht entgegensetzen darf, sondern ihr gegenüber noch gegenwärtig als Inhaber des Geschäfts zu gelten und für den seiner Firma gewährten Credit einzustehen hat. Zwar ist Beklagtem zuzugeben, daß nach den hierorts geltenden Rechten nicht, wie dies in den Gesetzgebungen aus- wärtiger Staaten und insbesondere in dem A. D. Handels- gesetzbuch (Art. 25) geschehen, für die Übertragung einer kauf- männischen Firma die Beobachtung bestimmter Formen vorge- schrieben ist. Eben deshalb kann aber eine Beantwortung der Frage, unter welchen Voraussetzungen derjenige, welcher die betreffende Übertragung vorgenommen hat, diese Thatsache den interessirten Personen gegenüber geltend machen darf, lediglich aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen hergeleitet *) Vgl. die bereits angeführten Schriftsteller. Prov.-R. IU Art. 3586 —3588. Gold schmidt's Zeitschr. für Handelsrecht, IV S. 138—140 u. VI 0.588—590. Auerbach, das Gesellschaftswesen, 1861, ©.110. 85 werden. Hiernach erscheint Solches nun, da eine allgemeine Rechtspflicht, von der Veränderung der Inhaber einer Firma Notiz zu nehmen, nicht existirt, ledigl ich dort statthast, wo die fragliche Veränderung dem betheil igten Dritten gehörig angezeigt oder aber der Beweis geführt wird, daß er auf anderem Wege Kenntniß von der- selben erlangt habe, welche Voraussetzungen, wie schon erwähnt, auf Seiten des Beklagten beide nicht zutreffen. Auch kann es Beklagtem nicht zu Statten kommen, daß klägerische Handlung durch eine bezügliche Erkundigung bei dem Wettgerichte sich über die in Rede stehende Thatsache Aus- fünft hätte erholen können, weil einestheils eine Verpflichtung zu einer solchen Erkundigung für sie nicht bestand, sie viel- mehr dem Handelsbrauche zufolge erwarten durfte, daß sie von einer Abtretung der beklagtischen Firma an einen Dritten Seitens dcS Beklagten auf die in der Handelswelt übliche Weise benachrichtigt werden würde, und weil anderentheils zu einer solchen Erkundigung es auch an einer Veranlassung des- halb mangelte, weil der Gustav Leopold I. nach der beklag- terseits unwidersprochen gelassenen Behauptung der klägerischen Handlung schon längere Zeit als Procuraut dessen Firma ge- zeichnet und unter derselben Geschäfte abgeschlossen hatte. Eben- sowenig bestand aber für klägerische Handlung eine Pflicht zur Keuntnißnahme von dem alljährlich erscheinenden gedruck- ten Verzeichnisse der zur Gilde steuernden Kaufleute, weil dieses des amtlichen Charakters entbehrt, es somit Sache jedes Einzelnen ist, ob er Einsicht von demselben nehmen will oder nicht. Als Resultat obiger Ausführung ergiebt sich, daß Be- klagter zur Bezahlung nicht blos des nach Berichtigung von 700 Rbl. verbliebenen Saldorestes aus dem Jahre 1866, son­ dern auch des aus dem nachher seiner ehemaligen Firma ge- währten Credit entstandenen Guthabens der klägerischen Hand­ 86 lung gegenüber verbunden, also auch mit Recht von dersel- ben dieserhalb belangt und die von ihm vorgebrachte Einrede der mangelnden passiven Sachlegitimation daher verwerflich ist." „Zugleich wird durch obige Ausführungen aber auch die, das Fundament der zweiten beklagtischen Einrede bildende Be- hauptuug widerlegt, es sei das am Schlüsse des Jähes 1866 sich ergeben habende Guthaben der klägerischen Handlung durch die von dem Gustav Leopold I. im Laufe des Jahres 1867 gemachten Abzahlungen bereits vollständig getilgt worden und sei deshalb für das geklagte Saldo lediglich jener G. L. I. verantwortlich. Denn wenngleich es richtig ist, daß der Schuld- ner regelmäßig auch ohne sein Wissen durch die Seitens eines Dritten an seinen Gläubiger erfolgte Erfüllung der Obliga- tion befreit wird (Art. 3487 1. e.), so wird hierbei doch die stillschweigende Voraussetzung unterstellt, daß jener Dritte im Namen und für den eigentlichen Schuldner und nicht für sich selbst erfülle, was nach der Darstellung des Beklagten in casu. nicht der Fall gewesen ist, weil er ja den Gustav Leopold I. als selbständigen Inhaber der Firma ansieht, so daß dieser also durch die von ihm geleisteten Zahlungen nur seine Schulden an klägerische Handlung berichtigt hätte. Allein wie bereits ge- zeigt worden, ist der klägerischen Handlung gegenüber immer noch Beklagter als Inhaber der Firma H. R. I. zu betrach- ten und zu behandeln, weshalb zwar das Saldo aus dem Jahre 1866 bereits gedeckt erscheint, Beklagter aber auch für die Bezahlung des am 1. Februar 1868 verbliebenen und ge­ genwärtig zur Klage gebrachten Saldo's zu haften hat." Auf beklagtische Appellation hat der Rigasche Rath mittelst App.-Erk. vom 29. October 1869 M 7687 die Ent­ scheidung erster Instanz bestätigt: „Den obigen vom Unterrichter aus den einschlägigen all- gemeinen und handelsrechtlichen Grundsätzen (vgl. Prov.-Recht Th. III Art 3586—98 u.' 2941. Brinckmann, Handelsrrcht, 87 S. 189. Endemann, Handelsrecht, § 17, II. Thöl, Han­ delsrecht, § 39, III) hergeleiteten Ausführungen gegenüber weist Appellant darauf hin, daß die Anwendung jener Grundsätze zu der größten Rechtsunsicherheit führen müßte. Appellant giebt zu, daß der Inhaber einer Firma durch den Übergang derselben auf eine andere Person von der Verhaftung für die von ihm contrahirten Verbindlichkeiten nicht ohne EinWilli- gung der Gläubiger liberirt werde. Er findet aber, der Be- weis der gehörigen Bekanntmachung des Firmaüberganges werde in den meisten Fällen geradezu unmöglich sein, es müsse daher ein Zeitpunkt existiren, von wo ab die Verpflichtung des frühern Eigners der Firma aufhöre und wenn eine öffent- liehe Bekanntmachung, wie sie das allgemeine Handelsgesetz- buch fordere, hierorts nicht vorgeschrieben sei, so müsse das bloße Factum des Übergangs der Firma genügen, um den früheren Inhaber von seinen Verbindlichkeiten zu befreien. Der neue Inhaber der Firma müsse dem Wettgericht von seinem Eigenthume an der Firma Anzeige machen und das von ihm ausgestellte Reversal gelte gesetzlich als genügender Beweis dafür, daß kein Anderer Theil an der Firma habe. Die Hand- delsangabe vertrete die Stelle einer privaten Mittheilung und dürfe keinem Kaufmanne unbekannt sein. Da nun die vor- schristsmäßige Anzeige des Firmaübergangs (bei dem Wett- gertchte) im vorliegenden Falle geschehen, so sei er vollkom- men befugt gewesen der klagenden Handlung die Einrede der mangelnden Legitimation zur Sache entgegen zu stellen. In dieser Einrede sei implicite auch die Einrede der Zahlung ent- halten gewesen, welche nur vorgeschützt worden sei, um der kägerischen Handlung eine möglicher Weise aus dem Jahre 1866 zu formirende Forderung abzuschneiden, und vollkommen begründet erscheine, da das Saldo von 1866 durch die im Jahre 1867 geleisteten Zahlungen ausgeglichen sei." „Gegen die appellantische Deduction ist zunächst zu be­ 88 merken, daß sie ihren wesentlichen Stützpunkt in der Vorbeu- gnng vermeintlicher Rechtsunsicherheit, also in Rücksichten der Zweckmäßigkeit sucht und hieraus Grundsätze entwickelt, denen mit vollem Recht der Vorwurf gemacht werden kann, daß sie dem Inhaber eines Handelsgeschäfts zwar einen be- qnemen Weg, um sich seiner Verbindlichkeiten gegen seine Gläubiger zu entledigen, eröffnen, für die Letzteren aber eine Rechtsunsicherheit herbeiführen würden, die von den weitgrei- fendsten nachtheiligen Folgen für den Credit des Handelsstan- des wäre. Es ist jedoch hierauf nicht näher einzugehen, da die richterliche Beurtheilung sich auf die Frage zu beschränken hat, ob die appellantische Auffassung den unterrichterlichen Ent- scheiduugsgründen gegenüber rechtlich begründet ist." „Der al lgemeine Satz, daß kein Schuldner sei- nein Gläubiger gegen dessen Wil len einen anderen Schuldner substituireu dürfe, daß mithin auch der Inhaber eines Handelsgeschäfts bei Übertragung desselben an einen Dritten nicht ohne Einwil l igung der Gläubiger von seinen Verbindlichkeiten gegen letztere liberirt wird, ist so allseitig und auch von dem Appellanten selbst anerkannt, daß es in dieser Hinsicht mir der Verweisung auf die eben referirten Entscheidnngsgründe des untergerichtlichen Erkenntnisses bedarf. Ob, wie in dem Erkennwisse ausgeführt wird, auch in dem Umstände, daß der Gläubiger auf eine an ihn gelangende Notifikation des Ge­ schäftsüberganges stillschweigt und die Geschäftsverbindung mit dem neuen Inhaber der Firma fortsetzt, eine Einwilligung des Gläubigers in die Übertragung seines Forderungsrechts nicht zu finden sei, kann hier, da diese Frage noch nicht vorliegt, füglich dahingestellt bleiben. Die Vorbedingung für die zu erlangende Einwilligung des Gläubigers ist, daß er von der Übertragung des Geschäfts auf eine andere Person in Kennt- niß gesetzt worden sei, und hierauf ist denn auch das Beweis­ 89 verfahren in der Unterinstanz gerichtet gewesen. Appellant giebt nun zwar zu, daß die von ihm in der Erklärung auf die Klage behauptete Notifikation nicht erwiesen sei; er will aber dieselbe ersetzt wissen durch die von ihm dem Wettgericht gemachte Anzeige. „Hierbei geht er jedoch von der unrichtigen Voraus- setzung aus, daß der ganze Handelsstand verpflichtet sei von derartigen an das Wettgericht gelangenden Anzeigen Kenntniß zu nehmen. Die Handelsangaben dienen hauptsächlich hau- delspolizeilichen Zwecken: sie enthalten Daten, die dem Wettgericht bei der ihm obliegenden Beaufsichtigung des Han- dels von Wichtigkeit sind. Sie sind insofern allerdings maß- gebend, als sie den actenmäßigen Nachweis dessen erhalten, wer der Behörde gegenüber als verantwortlicher Jnha- ber oder Theilnehmer des Geschäfts anzusehen sei, zu welcher Art von Handelsgeschäften derselbe gehöre ic. Daß aber diese Angaben einer öffentl ichen Bekanntmachung über den Firmenübergang gleichzustel len und eine Veränderung in den Rechtsverhältnissen zwischen dem bisherigen Inhaber und seinen bisherigen Gläubigern herbeizuführen geeignet seien, entbehrt jeder Begründung. Abgesehen davon, daß es für den Ein- zelnen kaum möglich erscheint, von den zum Archiv des Wett- gerichtS gehörigen und der öffentlichen Benutzung nicht an- heimgestellten Handelsangaben zu jeder Zeit Kenntniß zu neh-- men, ist eine gesetzliche Verpflichtung hiezu nirgends festgestellt und kann daher aus dem Umstände, daß hierorts eine öffent- liche Bekanntmachung über den Firmenübergang nicht vorge- schrieben ist, keineswegs, wie Appellant vermeint, die Ersetzung derselben durch die Handelsangaben, sondern nur das gefol- gert werden, daß der bisherige Inhaber einer Firma, wenn er seine Verbindlichkeiten aus einen anderen übertragen wil l , seinen Gläubigern hiervon in geeig­ 90 neter Weise, wie solches z. B. hier und an anderen Orten durch Erlaß eines Circulairs zu gescheben pflegt, Kenntniß zu geben und deren Einwil l igung herbeizuführen hat." „Die Ausstellung des Appellanten ergiebt sich sonach als unbegründet und kann dem untergerichtlichen Erkenntnisse dar- in nur beigepflichtet werden, daß Appellant auch nach der beim Wettgericht gemachten Anzeige der klägerischen Handlung ge- genüber für den seiner Firma gewährten Credit verantwortlich geblieben, mithin mit seiner Einrede der mangelnden passiven Legitimation zur Sache zurückzuweisen sei. Daraus folgt aber auch die Hinfälligkeit der zweiten Einrede, die einestheils nicht zur Sache gehört, weil sie sich auf die Bezahlung des gar nicht zur Klage gebrachten Saldo's vom I. 1866 bezieht, anderen- theils aber, sofern nämlich darin die Nichtverhaftuug des Be- klagten für den nach dem 1. Jan. 1867 seiner Firma gewähr­ ten Credit behauptet wird, mit der bereits als hinfällig er- kannten ersten Einrede zusammenfällt." 43) Zur Auslegung des Art. 3612 des Prov.-Rechts Th. 3. Die erste Section des Landvogteigerichts hatte in einem Bescheide vom 14. December 1868 M 272 ausgesprochen: „Der Art. 3612 cit. besagt keineswegs, daß alle Ge- ständnisse, welche gelegentlich obschwebender Vergleichsverhand- lungen von dem einen oder anderen Theile abgelegt werden, keine Beweiskraft haben; er enthält vielmehr nur die, der in Betreff außergerichtlicher Geständnisse überhaupt gelten- den Regel, daß solchen nur Beweiskraft beiwohnt, sofern der animus confltendi dargethan ist, — durchaus conforme Be­ stimmung, daß diejenigen Geständnisse nicht verbindlich seien, welche nur in der Hoffnung und Absicht, die Ab- schließung des Vergleichs herbeizuführen, erfolgt sind, bei denen also der animus conti tendi nur bedingt. 91 d. h. für den Fall des Zustandekommens des Vergleiches, als vorhanden sich annehmen läßt." In Übereinstimmung mit dieser Ansicht besagen die Ent- scheidnngsgründe eines Querelbescheides des Rigaschen Rath es vom 15. Januar 1869 M 305: „Es ist keineswegs richtig, daß alle bei Gelegenheit von Vergleichsverhandlungen außergerichtlich gemachten Geständnisse der Beweiskraft entbehren, sondern es sollen nach Art. 3612 cit. nur diejenigen Zugeständnisse gegen denjenigen, welcher sie gemacht hat, keine Beweiskraft haben, welche in der Hoffnung und in der Absicht geschehen sind, den beabsichtigten Vergleich zu Stande zu bringen. Es ist daher die Thatsache, daß klägerische Handlung die betres- senden Posten außergerichtlich als richtig eingeräumt hat, keines- Wegs irrelevant und daher auch der darauf gerichtete Beweis keines- wegS unstatthaft. Wenn klägerische Handlung behaupten will, daß diese Einwendungen nur zu dem Zweck geschehen sind, um den beabsichtigten Vergleich zu Stande zu bringen, ihr Zugeständ- niß also nur ein bedingungsweises gewesen ist, so ist es ihre Sache dieses gegenbeweislich darzuthun." 44) a. Die Einrede des nicht empfangenen Geldes (exc. non num. pec.) kann einer im Conenrfe angemelde- ten Darlehensforderung von dem Contradictor, bzw. dem dessen Function versehenden Concurscurator, auch ohne Einwilligung des Cridaren, als Darlehensschuld- ners, entgegengesetzt werden. b. Eine von dem Cridaren nach bereits eröffnetem Eon- curse abgegebene Erklärung, daß eine im Concnrse an- gemeldete Darlehensforderung ihre Richtigkeit habe, enthält nicht eine die exc. non num. pec. ausschlie­ ßende Schuldanerkennung. (Art. 3674 u. 3676 P.1 u . 2 d. Prov.-Rechts Th. 3.) 92 Einer im Generalconcurse des Kaufmanns S. von der Mutter desselben, der Wittwe S., auf den Grund einer von bem Cridaren zu ihren Gunsten am 1. Juni 1866 ausgestell- ten Schulb- unb Psanbverschreibung angemelbeten Darlehens- forbernng im Betrage von 5000 Rbl. S. gegenüber hatte ber Concurscurator bie exc. non num. pec. gelteub gemacht, wie­ wohl ber Cribar biese Forberung im Concurse als richtig an- erkannt hatte. In ber gegen bas Erkenntniß bes Vogtei- gerichts vom 5. Nov. 1868 M 92, welches bie vorbenannte Forberung aus bem Concurse zurückwies, gerichteten Appella- tionsschrift suchte bie Wittwe S. barzulegen, baß ber Concurs- curator gegen ben Willen bes Cribars zur Anstellung ber que- rela non num. pec. überhaupt nicht befugt unb baß letztere im vorliegenden Falle schon beshalb ausgeschlossen sei, weil ber Cribar bie fragliche Darlehensforderung in ber Erklärung auf bie Angaben im Concurse nachträglich nochmals anerkannt habe. Diese Ansicht würbe in bem Appellationsbescheibe d. d. 13. August 1869 M 5715 oberrichterlich verworfen unb lauten bie betreffenben Entscheibuugsgrünbe wie folgt: „Anlangenb ben gemeinen Proceß, so steht bort, so we- nig es bie Doctrin zu einer Einhelligkeit ber Auffassungen in Bezug auf bas burch bie Concurseröffnung entstehenbe Rechts- verhältniß ber Gcsammtheit ber Gläubiger gebracht hat, als un- streitig boch so viel fest, baß mit ber gerichtlichen Bekanntmachung bes decreturn de aperiundo concursu ber Cribar bie Deten­ tion unb Verwaltung bes zur Concursmasse gehörigen Ver- mögens, ben Bezug ber Einkünfte aus denselben, sowie die Dispositionsbesugniß und insbesondere das Recht der Proceß- führung bezüglich desselben verliert und die Ausübung dieser Befugnisse theils auf den Concurscurator, theils aus den ge- richtlich bestellten Contradictor übergeht, welchem letzteren spe- ciell die Function anheimfällt die angemeldeten Forderungen der Concursgläubiger zu prüfen und nötigenfalls zu bestrei­ 93 ten. Die theoretische Streitsrage, wen der Contradictor hier- bei vertrete, ob den Cridaren oder die Gesammtheit der Gläubiger oder beide, ist praktisch unerheblich, da fast alle divergirenden Ansichten in dem Resultate zusammen- treffen, daß der Contradictor in dem Liquidationsverfahren formell die Rolle des Beklagten zu übernehmen, im Übrigen aber weder etwaige Instructionen der Creditoren schlechthin zu befolgen, noch die Erklärungen des Gemeinschuldners als für sein Verhalten maßgebend anzusehen, sondern für die Beschaffung des zu seiner Information notwendigen Materials von sich aus Sorge zu tragen und die Ansprüche der Concurs- gläubiger selbständig, nach eigenem gewissenhaften Ermessen zn prüfen hat und daß (von einem schuldvollen Verhalten desselben abgesehen) der Cridar und im Allgemeinen auch die Gläubiger an die Proceßsührung des Contradictor, sowie de- ren Ergebnisse gebunden sind, während es jedem der Gläubi- ger freisteht, mittelst accessorischer Intervention in einem Li- quidationsprocesse sein specielles Interesse an dem Ausgange desselben zweckdienlich wahrzunehmen. Alles dies führt zu dem Schlüsse, daß der Contraoictor weder blos als Vertreter des Cridaren, noch blos im Interesse der Concursgläubiger thätig wird, weshalb denn die neueste Darstellung des Concursver- fahrens (Endemann, Civilproceßrecht, S. 1148) wohl am richtigsten seine Stellung dahin charakterisirt, daß er „ähnlich wie der Concurscurator, gleichsam als ein unpartei ischer Functionär zur Prüfung und Abwehr unbegründeter Präten- sionen der Coucurstheilnehmer" auftritt. Mit der im Obigen geschilderten Stellung des Coutradictors, zufolge welcher der- selbe bei Führung der Liquidationsprocesse formell an Stelle des Cridars als Proceßpartei handelt, materiell aber von dem Willen des letzteren durchaus unabhängig ist, steht es voll- ständig im Einklang, wenn ihm auf der einen Seite zur Pflicht gemacht wird begründete Ansprüche ausdrücklich zuzugestehen, 94 auf der anderen hingegen zur Bestreitung ungerechtfertigter Forderungen alle Rechtsmittel eingeräumt werden, Welche dem Cridaren selbst oder dessen Gläubigern zu solchem BeHufe zu Gebote stehen, wozu namentlich die exceptio Pauliana und die exceptio non num. pec. gehören")." „Die vorstehend entwickelten Grundsätze des gemeinen Processes müssen beim Mangel bezüglicher provinzieller Ge- setzesbestimmungen nach Lib. II Cap. 4 der Stadtrechte auch auf das örtliche Concursverfahren im Wesentlichen angewen- det werden. Denn wenngleich das letztere die ursprüngliche Gestalt, welche der Gantproceß im 16. u. 17. Jahrhundert in Deutschland gewonnen hatte, auch noch heute zum größten Theile bewahrt und das der neueren Zeit angehörige Rechts- mftitut des Contradictors nicht in sich aufgenommen hat, so hat der Umstand, dessen Erwägung im gemeinen Processe zur Bestellung eines Contradictors Veranlassung geworden ist, nämlich die nahe liegende Befürchtung, daß der Cridar, falls ihm die Durchführung der Liquidationen überlassen bleibt, seine Befugnisse leicht zu Kollusionen mit nicht berechtigten Liquidanten mißbrauchen könnte, begreiflicher Weise auch bei uns nicht unbeachtet bleiben können." „Dem Einflüsse dessen ist es zuzuschreiben, daß die Heu- tige Praxis, wiewohl sie den Gemeinschuldner persönlich über die Richtigkeit der im Concurse angemeldeten Forderungen hört, die Führung der Liquidationsprocesse nicht mehr ihm überweist, sondern dieselben zu den Amtsobliegenheiten des Coneurscurators zählt, welcher mithin in dieser Beziehung die Function des gemeinrechtl ichen Contradictors versieht, und daß sie die Erklärungen des Cridars über die angemeldeten Forderungen nicht als rechtl iche Disposi- *) Bezugnahme auf 1. 15 Cod. de n. n. p. IV, 30. Holzschuher, Theorie u.' Casuistik, III § 264 sub 1. Bayer, Concursproceß, § 61 Note 3. Endemann, 1. c. S. 1149 sub IV. t ionsacte desselben betrachtet, sondern blos als unmaßgeb- liche Instructionen für den Concurscurator, welchem es freisteht ihnen beizupflichten oder von denselben abzusehen und die Beibringung genügender Beweise für die Richtigkeit eines von ihm für unrechtfertig erachteten Anspruchs zu verlangen." „Nur als eine sich von selbst ergebende Consequenz eben dieser in dem neueren Gerichtsgebrauche zur Geltung gelang- ten Ansicht, daß der Gemeinschuldner zur selbststän- digen Führung der Liquidationsprocesse nicht be- fugt ist, erscheint es aber, wenn dem Concurscurator zur Abwehr unbegründeter Prätensionen, wie im gemeinen Pro- cesse, der Gebrauch der nach Lage der Sache geeigneten Rechts- mittel gewährt wird und ist deshalb in Übereinstimmung mit dem ersten Richter dahin zu erkennen, daß der appellati- sche Concurscu ra to r zu r Ans te l l ung de r q u e r e l a non num. pec. gegenüber der qu. Darlehensforde- rnng allerdings berechtigt gewesen ist. Namentlich kann dawider aus dem Art. 3674 1. c. kein Argument ent­ nommen werden, weil zu demselben die lex 15 Cod. IV, 30 sich ausdrücklich als Belegstelle allegirt findet, welche — wie be- bereits erwähnt — auch den Gläubigern des Ausstellers einer Urkunde jenes Rechtsmittel zuspricht und der Concurs- curator von letzterem eben im Interesse der Gläubiger des Cridaren Anwendung macht." „Aus dem Vorstehenden ergiebt sich gleichfalls die Hin- fälligkeit des zweiten von der Appellantin wider die Statt- haftigkeit der exc. non num. pec. im vorliegenden Falle gel- tend gemachten Einwandes, daß dieses Rechtsmittel durch die Seitens des Cridaren geschehene Anerken- nung der in Rede stehenden Obligationsforderung ausgeschlossen worden sei. Zwar ist es richtig, daß die exc. non num. pec. cesstrt, sobald der Empfang des Darlehens anch Ausstellung des Schuldscheins vom Schuldner ausdrück­ 96 lich oder stillschweigend anerkannt worden ist. Allein der von dem Cridaren abgegebenen Erklärung, daß die qu. Forderung ihre Richtigkeit habe, kann nicht der Cha- rakter einer rechtsgil t igen Anerkennung oder eines gerichtlichen Geständnisses vindicirt werden, denn die wesentliche Voraussetzung für die Existenz der Rechtsgil- tigkeit eines solchen Actes bildet die Dispositionsbefugniß des Bekennenden (Art. 2912 1. c.), d. h. hier die Besugniß dessel- ben, den in dem Geständnisse liegenden Verzicht aus ein ihm zuständiges Recht wirksam vorzunehmen. Diese ist aber — wie vorhin bemerkt worden — dem Cridaren hinsichtlich des zur Concursmasse gehörigen Vermögens entzogen"). Aus diesem Grunde kann also von einer nach decretirter Concurseröffnung erfolgten Anerkennung oder einem gerichtlichen Geständnisse des Cridaren nicht die Rede sein und es besteht zwischen dem gemeinen und dem hiesigen particularen Concursprocesfe nur der Unterschied, daß dort im Liquidationsverfahren ab- gelegte gerichtliche Geständnisse des Cridaren überhaupt nicht vorkommen können, weil derselbe nicht als Partei an dem Liquidationsprocesse Theil nimmt, während das hier formell allerdings mögliche Geständniß des Gemeinschuldners erst rechts- giltig wird, sofern der Concurscurator es als solches gelten läßt. Zur Bestreitung desselben bedarf es jedoch keineswegs der Führung eines Gegenbeweises, sondern es genügt dazu eine motivirte Äußerung des Concurscurators, welche die Erklärung des Gemeinschuldners ihrer Qualification als eines „gerichtlichen Geständnisses" entkleidet und zu einem bloßen Beweismittel herabdrückt, dessen Beweiskraft der Richter, je nach den concreten Umständen zu bemessen hat**). Die *) Bezugnahme auf ein App.-Erk. des Rigaschen Raths V. 12. Februar 1864 vti 1062. **) Bezugnahme auf Bayer, Concursproceß § 61. Fuchs, Eon- cursverfahren, S. 111. Endemann, 1. c., S. 1155. 97 appellantische Behauptung, daß in casu der Concurscurator, sosern er die querela non nuin. pec. anstellen wollte, den Nachweis der fälschlich erfolgten Anerkennung der streitigen Forderung durch den Cridar habe liefern müssen, kann daher nicht Billigung finden, sondern es kann jene Anerkennung nur als ein außergerichtliches Geständniß, d. h. als Beweismittel für die Richtigkeit des appellantischen Anspruchs, in Frage kommen." 45) Die querela non num. pec. gegenüber einem noch nicht zwei Jahre alten Schuldschein ist nach provin- ziellem Recht nicht an die Voraussetzung geknüpft, daß der von ihr Gebrauch machende Schuldner antici- pirte, d. h. in der Voraussetzung, das verab- redete Darlehen zu erhalten, geschehene Aus- stellung des Schuldscheines beweist; vielmehr wird durch die bloße Anstellung der Querel der Gläubi- ger genöthigt den Beweis der geschehenen Auszahlung des Darlehens zu führen. (Art. 3672 des Prov.-Rechts Th. 3.) In dem in der vorigen M mitgetheilten Rechtsfalle hatte die Wittwe S. das Erkenntniß erster Instanz, welches die Zu- rückWeisung der von ihr angemeldeten Darlehensforderung auf das Mißlingen des — von der Wittwe S. freiwillig angetre- tenen — Beweises der erfolgten Auszahlung des Darlehens gestützt hatte, noch aus dem Grunde angefochten, weil der Eon- curscurator zur Begründung der exc. non num. pec. gemäß dem Art. 3672 1. c. den Beweis habe liefern müssen, daß die Schuldverschreibung in der Voraussetzung das Darlehen zu erhalten, ausgestellt worden sei. In Betreff dieser An­ sicht heißt es in den Motiven des Erkenntnisses zweiter Instanz vom 13. August 1869 M 5715: „Von der gemeinrechtl ichen Theorie ist trotz der überaus zahlreichen Controversen, welche sich in Bezug auf das Detail 7 98 dieser Materie ausgebildet haben, bis auf die neueste Zeit fast einstimmig angenommen worden, daß einer noch nicht zwei Jahre alten Schuldurkunde gegenüber der Aussteller derselben sich einfach durch die Behauptung schützen kann, das in der Urkunde bezeichnete Darlehen in Wirklichkeit nicht empfangen zu haben, indem der Gläubiger durch diese Behauptung, welche querela non num. pec. heißt*), genöthigt wird, die Auszahlung des Darlehens und zwar durch andere Beweismittel, als die an- gestrittene Schuldurkunde, zu beweisen. In dieser Hinsicht findet nämlich nicht blos unter den Vertretern der gemeinen Meinung, welche in der exc. non num. pec. ein Ableugnen des Klagegrundes, verbunden mit einer gegen die Beweiskraft des Schuldscheins gerichteten Beweiseinrede, sieht, Überein- stimmung statt, sondern es schließen sich der obigen Auffassung auch diejenigen Schriftstel ler an, welche (wie z. B. Cropp, in Heise's und Cropp's jurist. Abhandlungen, I S. 325—45) die exc. non num. pec. für eine wahre Einrede halten die der Klage aus der der Urkunde inserirten Stipulations- clausel (actio ex stipulatu), bzw. der Klage aus dem nach der Ansicht dieser Schriftsteller einen Formalcontract (litte- rarum obligatio) repräfentirenden Schuldscheine (condictio certi e cliirographo) opponirt wird, indem jene es als aus- drückliche Besonderheit dieser Einrede hervorheben, daß sie vom Excipienten nicht erwiesen zu werden braucht (Cropp, c. 1. S. 329. a)." „Die communis opinio der gemeinrechtlichen Doctrin, welche vor der Publication des 3. Theiles des Prov.- Rechts auch in der localen Praxis znr Geltung gelangt war**), ist indessen nenerdings im Sinne der appellantischen Ausführun- gen bekämpft worden von Schlesinger, *) Bezugnahme auf Windscheid, Pandecten, II § 372 Note 3. **) Verweisung auf ein App.-Erk. des Rigaschen Raths v. 9. Septbr. 1864 M 6546. 99 Zur Lehre von den Formalcontracten und der querela non num. pec. 1859 S. 180 ff., dem im Resultate vollkommen beipflichtet Wetzell, System, § 17 Note 22 ff. und § 22 Note 25 ff., (wiewohl letzterer (§ 17 Note 23) nicht sowohl auf jene, als aus Bähr, „die Anerkennung als Verpflichtungsgrund", 1855, Bezug nimmt, welcher letztere eine von der Schlesingerschen durchaus abweichende selbstständige Auffassung der querela non num. pec. entwickelt hat.) Schlesinger lehrt: die exc. non num. pec. sei im Formularprocesse diejenige der con­ dictio causa data causa non secuta entsprechende, gegen eilte Stipulatiousklage vorgeschützte Exception gewesen, welche sich darauf stütze, daß der Kläger die eingeklagte Summe sich von dem Beklagten unter der Voraussetzung, er werde sie vom Kläger ausgezahlt erhalten, habe versprechen lassen, aber nachher nicht gezahlt erhalten habe. Diese Voraus- setzuug der Stipulation habe der Beklagte, die Zahlung, wenn er sie behaupte, der Kläger zu beweisen (S. 220). Im späteren römischen Rechte sei die exceptio non numeratae pecuniae an eilte bestimmte Verjährungsfrist geknüpft und dann mit der letzteren auch auf die Anfechtung einfacher schriftlicher Schuldbekenntnisse angewendet worden, bei bereit Ausstellung das verschriebene Object noch erst habe hin- gegeben werben sollen, aber sobann nicht hingegeben worben sei. Hier sei sie aber nicht mit ber gemeinen Meinung als eine bloße, ohne Beweis wirkenbe Behauptung aufzufassen, sonbern als eine nach Analogie ber bei ber condictio c. d. c. n. s . geltenden Grundsätze vom Excipienten zu be- weisende Beweisetnrede, deren Wirkung darin bestehe, daß nun der Gläubiger seinerseits die nachträglich er- folgte Auszahlung des Darlehens barzuthun habe. Der Be- weis, baß bie vorausgesetzte causa bes Empfangsbekenntnisses nicht eingetreten, d. h. die Leistung, in deren Erwartung die 7* 100 Urkunde ausgestellt wurde, nicht erfolgt sei, sei von einem di- recten Gegenbeweise Wohl zu unterscheiden. Das in der Ur- fluide enthaltene Gestänbniß werde durch den Beweis der causa weder widerlegt, noch die ihm an sich zukommende Beweiskraft erschüttert. Es erscheine nur unerlaubt, daß der angeb- liche Gläubiger sich, ohne daß jene causa objectiv ein­ getreten sei, zum Beweise der betreffenden Thatsache des Geständnisses bediene (S. 240). Mit dem Ablaufe der von Justinian aus zwei Jahre festgesetzten Verjährungsfrist ver- liere der Aussteller das Recht die exc. non num. pec. gel­ tend zu machen, d. h. zu behaupten, daß die Urkunde lediglich in Erwartung künftiger Zahlung ausgestellt worden, keines- Wegs aber das Recht des Gegenbeweises, daß die Zahlung an ihn überhaupt nicht geschehen sei, weil der mit der exc. non num. pec. nicht mehr anfechtbare Schuldschein immerhin nur Beweism it- tel bleibe, nicht aber zum selbstständigen Schuldgrunde werde. „Die eben dargestellte Ansicht Schlesingers von der exc. non num. pec., welche vielfach als in den Quellen nicht be- gründet und im Resultate verfehlt bezeichnet worden ist*), auch in der civilistischen Literatur, wie bereits bemerkt, fast ganz- lich vereinzelt dasteht, soll nun nach der Meinung der Appel- lantin von der Codif ication des Provinzialrechts adop- tirt worden sein und man könnte zu dieser Annahme im Hinblicke auf den Wortlaut des Art. 3672 1. c. allerdings veranlaßt werden. Der Artikel lautet: „Stellte Jemand, in der Voraussetzung, das verabre- „bete Darlehn zu erhalten, schon im voraus ein schrift- „liches Schulb- lutb Empfangsbekenntniß aus, so ist „er berechtigt, basselbe anzufechten itttb bie Rückgabe „bes Schulbscheins zu verlangen: beut Gegner liegt „dann ber Beweis wirklich geleisteter Zahlung ob." * ) Windscheid, Pandecten, I I § 372 Note 15 . S intenis , Civ i l - recht, 3. Aufl. II § 96 Note 28 a. E. 101 Hieraus ließe sich folgern, daß die anticipirte Ausstel- lung des Schuldscheines die Vorbedingung und Voraus- setzung für die Anwendbarkeit des Rechtsmittels wegen Nicht- empsanges bilde, welche mithin im Streitsalle nach dem all- gemeinen processualischen Grundsatze, daß jede Partei die zur Begründung ihres Klage- oder Einredeantrags gehörigen That- fachen zu bewahrheiten hat, von dem excipirenden Aussteller der Urkunde zu beweisen sei. Allein dieser Folgerung stehen bei näherer Erwägung folgende erhebliche Gründe entgegen. Zunächst hat der appellantische Concurscurator mit Recht hervorgehoben, daß der Beweis der anticipirten Ausstellung der Urkunde im Grunde mit dem Gegenbeweise, daß das in der Urkunde erwähnte Darlehen nicht ausgezahlt worden sei, zusammenfällt, weil jener doch nichts Anderes zu con- ftatiren bezweckt, als daß der Schuldner bei Ausstellung der Urkunde das Geld nicht empfangen habe, dieser aber der Natur der Sache nach nicht wohl ganz allgemein daraus ge- richtet werden kann, daß das Geld überhaupt nicht, sondern nur darauf, daß es in dem in der Urkunde angegebenen Zeit- punkte, bzw. zur Zeit der Ausstellung derselben, nicht vorge- streckt worden sei, — wie denn die überaus gekünstelte und in Wirklichteit nicht durchzuführende Unterscheidung der vorer- wähnten beiden Beweise, zu welcher die Schlesiugersche Theorie sich gezwungen sieht, auch sonst von der Kritik als eine Haupt- schwäche derselben gekennzeichnet worden ist (vgl. Sintenis 1. c. Anmerk. 28 a. E.). Wird ferner der Beweis der anti- cipirten Ausstellung erbracht, so ist damit jedenfalls die Un- Wahrheit des in der Urkunde ausgedrückten Empfangsbekennt- niffes festgestellt, dasselbe also als widerlegt und aufgehoben zu betrachten und es ist nicht abzusehen, wie (von Schlesinger 1. c. S. 240) behauptet werden will, daß durch das (Min- gen jenes Beweises die Beweiskraft des Empfangsbekenntnisses „nicht erschüttert" werde. 102 „Die Forderung des Beweises der anticipirten Ausstellung des Schuldscheines bedeutet also in der That dies, daß dervon der querela non num. pec. Gebrauch Machende sei­ nerseits den Beweis der nicht geschehenen Numera- tion zu führen hat und eben dadurch die Abweisung des auf Rückzahlung des behaupteten Darlehens klagenden Gläubigers erzielt, sofern letzterer nicht die geschehene Auszahlung in Erweis zn setzen vermag. Dann würde aber rücksichtlich der exc non num. pec. gar keine Abweichung von den gewöhnlichen Regeln über die Vertheilung der Bewcislast stattfinden und es würde ebensowenig zwischen der Beweiskraft des Schuld- fcheines vor und nach Ablauf der für die querela non num. pec. nach Art. 3677 1. c. geltenden Verjähruugsfrist obwalten, indem nach Art. 3678 1. c. auch gegen den bereits 2 Jahre alten Schuldschein noch ein Gegenbeweis zulässig ist. Beides steht aber mit der Ausdrucksweise und dem Sinne des Gesetzes in Widerspruch, da dieses es nicht Mos für nothwendig erach­ tet hat, fpecielle Vorschriften über die Vertheilung der Be- weislast bei der querela non num. pec. zu geben, sondern auch die Beweiskraft des Schuldscheines während der Ver­ jährungszeit und nach Verstreichung derselben in den Art. 3672 it. 3678 1. c. einander als. Gegensätze gegenüberstellt. Ueberdies müßte es, wenn man der appellantischen Auslegung des Art. 3672 cit. Raum geben wollte, befremden, daß das Prov.-Recht, während in der gemeinrechtlichen Doctrin die Quittung allgemein und auch von Schlesinger a. a. O. ganz nach denselben Grundsätzen, wie der Schuldschein beurtheilt und behandelt wird und das Prov.-Recht selbst in seinen Be- sti inntimgen über die genannten Urkunden ans ein und das- selbe Gesetz, nämlich die lex 14 Cod. de non num. pec. IV, 30 als Belegstel le sich bezieht, dennoch für beide wefent- lich verschiedene Vorschriften formulirt hätte, indem der Art. 3534 1. c. keineswegs die Anfechtung einer Quittung vor 103 Ablauf von 30 Tagen seit ihrer Ausstellung von dem Beweise der anticipirten Ausstellung derselben abhängig macht, sondern in Nebereinstimmung mit der communis opinio der Rechts­ lehrer ausdrücklich ausspricht, „daß eine Privatquittung über- Haupt erst nach Ablauf der 30 Tage Beweiskraft er­ hält," also vorher gar nichts beweist." „Außer den vorerwähnten inneren Widersprüchen, de- nen nicht auszuweichen ist, wenn man die Annahme unterstellt, die Codification habe in dem Art. 3672 die Schlesingersche Theorie der querela non num. pec. sanctionirt, fällt als ein Argument gegen eben diese Annahme auch noch der Umstand in's Gewicht, daß, da auf der einen Seite nach dem zur Pu- blicatiou des 3. Th. des Prov.--Rechts emanirten Allerhöchsten Befehle v. 12. Nov. 1864 (Pat. der Livl. Gouv.-Reg. 1865 M 5) dieses Gesetzbuch, wo nicht etwas anderes angegeben ist, kein neues Recht, sondern nur eine Sammlung der bereits bestehende!: Rechtsvorschriften enthalten soll, auf der anderen Seite aber die herrschende Ansicht der gemeinrechtlichen Doetrin über die Wirkung der exc. non num pec. nicht blos bei den hiesigen Stadtgerichten, sondern überhaupt in Livland") practische Geltung erlangt hatte, — da­ von ausgegangen werden muß, der Gesetzgeber werde, wenn er eine neue, von der bisher gegoltenen abweichende Vor- schrist für jenes Rechtsmittel habe geben wollen, sich auch ei- ner ganz unzweideutigen und bestimmten Ausdrucks- weise hierfür bedient haben. Da hingegen der Wortlaut des Art. 3672 die Annahme, daß der Beweis der anticipirten Aus- stellung der Schuldurkuude als Erforderniß für die Anwen- duug der exc. non num. pec. hinstel le, höchstens zuläßt, zu einer derart igen Interpretation aber in keiner Weise *) Vgl. Zimmerberg, in v. Bunge's u. Madai's Erörterungen, Bd. IV S. 127—63. Nie lsen, Proceßform in Liv land, § 421. v . Sam- s o n, Institutionen des Civil-Prvcesses. § 580. 104 nöthigt, so ist dafür zu Präsnmiren, daß der Gesetzgeber es bei dem geltenden Rechte habe bewenden lassen wollen." „Die Berücksichtigung aller dieser Momente führt dann zu dem Resultate, daß der Art. 3672 cit. mit den Worten: „stellte Jemand in der Voraussetzung ...... so ist er berech- tigt u. s. w." nicht eine rechtliche Vorbedingung für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels wegen Richtempfangs habe schaffen, sondern nur die äußere Veranlassung zum Ge- brauche des letzteren habe angeben wollen, die eines be- sonderen Beweises nicht bedarf, so daß die bloße Behauptung des Ausstel lers, das Darlehen nicht empfangen zu haben, den Gläubiger zum Beweise der Numeration zwingt." „Demnach kann die Ansicht der Appellantin, daß der appellatische Eoncurscurator zur Begründung der von ihm vor- geschützten exc. non num. pec. den Nachweis der anticipirten Ausstellung der qu. Obligation habe liefern müssen und, da er denselben nicht geliefert, mit der genannten Einrede zurück- zuweisen sei, nicht als richtig anerkannt werden, sondern ist dem ersten Richter darin beizutreten, daß zur Entkrästnng der appellatifchen Exception von der Appellantin der Beweis der Auszahlung der im Concurs angemeldeten Darlehenssumme hergestellt werden muß." 46) Die Einrede des nicht empfangenen Geldes (exc. non num. pec.) gegenüber der Darlehensklage ist ihrer pro- cessualischen Natur nach eine negative Litiscontestation, verbunden mit einer Einrede gegen die Beweiskraft der Darlehensurkunde. (Art. 3677 des Prov.-Rechts Th. 3.) „Die exc. non num. pec. gegenüber der Klage auf Rück- zahlung eines Darlehens, über welches ein Schuldschein aus- gestellt worden, ist nach der herrschenden Ansicht der gemein­ 105 rechtlichen Doctrin"), Welche auch von diesem Gerichte wie- derholt ausgesprochen worden ift **) und burch die Angriffe, welche bieselbe von einzelnen älteren, wie neueren Schrift ftellerit erfahren hat***), nicht als widerlegt gelten kann, keine wahre Einrede im proceffualischen Sinne; sonbern sie ent- hält nach ihrer materiel len Seite eine Verneinung bes burch das Schnlbbekenntniß nur beurkundeten Klage­ grundes ber vollen Numeratiou, nach ihrer formellen Seite aber eine in bie Beweisinstanz gehörenbe Einrebe gegen bie Beweiskraft ber Schulburkunbe. beren Wirkung, sofern sie vom Kläger nicht burch bie im Art. 3676 bes Prov.-Rechts Th. 3 aufgeführten Repliken wiberlegt werben kann, nach Art. 3672 ibid. barin besteht, baß bie probucirte Urknnbe nichts beweist, sonbern ber Kläger bie geschehene Aus- zahlung burch andere Beweismittel darzuthun hat. t) Aus dieser zweifachen Processualischen Notur der exc. n. n. p. resul- tiren nun für bereu Geltenbmachnng im localen sd. h. in Riga geltenden) Processe folgenbe Cousequenzen. Ist bie Urkunde der Klage gleich beigefügt oder doch vor geschehener Erklärung auf bie Klage dem Beklagten vorgelegt worden, und dieser schützt nunmehr die ex>\ non num. pec. vor, so ist damit das vorbereitende Verfahren abgeschlossen und der Kläger hat um Nachgabe des Beweises zu bitten. In der Beweis- introductiou hat er sodann, falls er die angefochtene Urkunde *) Bezugnahme auf Seusfert, Pandekten, 11 § 311 Note 3. Van- gerow, Pandecten, I § 167 Anmerkg. Sintenis, Civilrecht, II § 86 Anmerkg. 28 u. A. **) Verweisung auf das App.'Erk. des Rig. Raths v. 9. September 1864 M 6546. ***) Bezugnahme auf Cropp, in Heise's und Cropp's jurist. Abhandl. I, S. 345. Schlesinger, zur Lehre von den Formalcontracten und der querela non num. nec. 1858. S. 180 ff. Wetzell, System, § 17, Note 22 f f . , § 22 Note 25 f f . t) Bgl. Sintenis, Civilrecht I. c. und Langenbeck, Beweis^ führung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, S. 696—98. 106 dennoch als Beweismittel benutzen will, die ihm zur Elision ber exc. non num. pec. dienenden Beweisrepliken anzuführen, auf welche sich bann der Beklagte zu erklären hat unb in Folge dessen über dieselben ein Jncidentbeweisverfahren sich als noth- wendig herausstellen kann. Hier wird auch dadurch Nichts geändert, daß der Beklagte außer der exc. non num. pec. noch andere Exzeptionen vorbringt." (Aus den Motiven eines App. Erk. des Rigaschen Raths v. 13. August 1869, M 5716.) 4 7 ) Beurtheilung der Entschuldbarkeit des Jrrthums und Beweis des Jrrthums bei der Rückforderung einer Nichtschuld. (Art. 3686 und 3700 des Prov.-Rechts Th. 3.) Der Auktionator B. hatte im Auftrage des Rigaschen Zollamtes eiue größere Zahl theils voller, theils nur halb- gefüllter Fässer Burgunderwein, die zum Zwecke der Unter- scheidung von einander mit Nummern bezeichnet waren, öffent­ lich versteigert. Auf der Auctiou hatte der Kaufmann S. unter anderen ein mit der M 100 versehenes, nicht volles Faß meistbietlich erstanden. In der wider letzteren angebrachten Klage behauptete B., auf der dem Beklagten S. ansge- schriebenen Rechnung habe er irrthümlich statt des von demselben gekauften Fasses M 100 ein von einem Anderen erstandenes, die M 105 tragendes, volles Faß ausgeführt und es sei in Folge dessen auch letzteres, statt des Fasses 100 dem Beklagten ausgeliefert worden. Auf Grund dessen bean- tragte Kläger den Beklagten anzuhalten, gegen Empfang des ihm zukommenden Fasses snb M 100 das Faß sub M 105 ihm zurückzustellen oder eventuell dessen Äersteigerungspreis zu ersetzen. Aus den Motiven des Erk. der I. Section des Land- v o g t ei g e ri ch t s vom 20. Mai 1869 M 54, welches den Beklag­ ten dem Klageantrage gemäß verurtheilte, ist hervorzuheben: 107 „Die angestellte Klage qualiftcirt sich ihrer rechtlichen Natur nach als Rückforderung des zufolge einer irrtümlich vorausgesetzten Schulvverbindlichkeit geleisteten (condictio in­ debiti), indem eine solche auch dort Platz greift, wo eine Schuld- Verbindlichkeit zwar an sich bestand, aber der Schuldner etwas Anderes leistete, als er schuldete. (Art. 3(384 des Prov.-Rechts Th. 3.) Zur Begründung der Klage gehört demnach, daß das Faß sub M 105 dem Beklagten wirklich übergeben, daß ihm dieses Faß aber nicht verkauft worden ist und daß Kläger dieses Faß aus entschuldbarem Jrrthum dem Beklagten hat ausliesern lassen." Es wird dann constatirt, daß Beklagter die Uebergabe des Fasses M 105 an ihn zugestanden habe und daß vom Kläger bewiesen sei, Beklagter habe nicht dieses, sondern das Faß sub M 100 in der Versteigerung meistbiettich erstan- den, — und darauf fortgefahren: „Anlangend den Nachweis dessen, daß die Auslieferung des Fasses sub M 105 an den Beklagten in Folge eines entschuldbaren Jrrthums des Klägers geschehen sei, so braucht derselbe der richtigen Ansicht nach noch nicht birect ge­ fühlt, also namentl ich nicht dargethan zu werden, daß'der Witte des Klägers wirklich darauf gerichtet gewesen sei eine Schuldverbindlichkeit zu erfüllen; sondern es hatte Kläger nur diejenigen Umstände zu erweisen, welche seinen Jrrthum ver­ anlaßt hatten und denselben als einen nach Lage der Sache entschuldbaren erscheinen ließen, wozu solche Umstände geeignet erscheinen, welche nach der Natur der menschlichen Verhältnisse einen Jrrthum leicht zu erzeugen vermögen.*) Da aber Beklagter, daß Kläger in der von ihm ausgeschriebenen Rechnung statt der M 100 die M 105 als dem Verklagten ver- kauft aufgeführt habe, .... zugegeben und Kläger dargethan *) Bezugnahme auf Bahr, die Anerkennung als Verpflichtung?, grund, 2 . Auf l . S . 74. Windscheid, Pandekten, I I , § 426 a . ($ . Seuf fer t , Pandecten, II § 436 Note 22. 108 hat, daß in Folge dessen die Auslieferung des Fasses M 105 an den Beklagten erfolgt sei, ..... so ist damit bestätigt, daß-diese Auslieferung nur auf Grund eines Versehens erfolgt ist. Daß dieses Versehen ein unentschuldbares gewesen, läßt sich aber deshalb nicht behaupten, weil dasselbe nur auf einem Schreibfehler des Klägers beruht, der im Drange der Ge- schäste um so leichter sich ereignen konnte, als die Zahlen 5 und 0 be! undeutlicher Schreibweise einander überaus ähnlich sehen und daher in der Eile wohl verwechselt werden mochten." Das die Verurtheilung bestätigende App.-Erk. des Riga- scheu Raths, an welchen die Sache durch Appellation des Be- klagten devolvirt worden war, vom 20. August 1869 M 5906 trat der Entscheidung des Unterrichters bei, indem es dort heißt: „Der Art. 2958 1 c. verordnet, daß faktischer Jrrthum dem Handelnden nicht schade, wenn dieser ihn nicht durch Nachlässigkeit selbst verschuldete. Daß das Gesetz aber hierbei nur grobe Nachlässigkeit, d. h. eine solche, welche sich bei einiger Aufmerksamkeit hätte vermeiden lassen, im Auge hat, kann nach den zn dem gedachten Artikel angegebenen Quellen- stellen des röm. Rechts nicht zweifelhaft sein (Vgl. 1. 6 und 1. 9 § 2 I). de jur. et f. ign. XXII, 6 und Sintenis, Civilrecht § 22, Note 43). Wenn nun die Frage nach der Entschuldbar- feit des Jrrthums sich sonach nur nach den Umständen des Einzelfalles bemessen läßt, ein bloßer Schreibfehler, welchem zufolge ein Auktionator, dessen Geschäft es mit sich bringt, daß er eine große Anzahl Rechnungen auszuschreiben hat, die meistens aus Zahlen bestehen, in eine Rechnung statt der Zahl 100 die Zahl 105 hineingebracht hat, aber offenbar sehr leicht mit unterlaufen kann, ohne daß dem Auktionator deshalb eine grobe Fahrlässigkeit zur Last zu legen ist, so muß die hierauf begründete Ausstellung des Beklagten durchaus unbegründet erscheinen." 109 48) a. Zu den im Pkt. 2 des Art. 3701 des Prov.-Rechts Th. 3 erwähnten „Personen, welchen Rechtsunwissen- heit verziehen wird," sind Frauenzimmer nicht un- bedingt, sondern nur unter den in der 1. 25 § 1 u. 4 Dig. de probat, angegebenen Voraussetzungen zu zählen. b. ein Schuldschein, in welchem eine „Abrechnung," oder eilte „rechnungsmäßige Auseinandersetzung" als Schuld- grund angegeben ist, gilt nicht als cautio indiscreta im Sinne des Art. 3701 Punkt 3 ibid. Gegen die auf den Grnnd einer von der Beklagten in ehelicher Assistenz am 22. December 1867 zum Besten des Kaufmanns S. „gemäß zwischen ihnen stattgehabter rechnungs- mäßiger Auseinandersetzung" über 10000 Rbl. S. ausgestellten, notariell beglaubigten Obligation von dem Cessionaren des Kaufmanns S. angestellte Klage brachte die Beklagte die exc. indebiti und eventuell die Einrede deS dunkeln Klagevortrages vor. Erstere stützte sie darauf, daß sie die Obligation auf die Zusage des Beklagten hin, ihr 10000 Rbl. S. vorstrecken und solche zum Theil an sie selbst, zum Theil für sie an dritte Per- fönen auszahlen zu wollen, ausgestellt, Beklagter aber nur 3000 Rbl. auf dieselbe gezahlt habe; die Begründung der zweiten Einrede suchte sie darin, daß der Klagegrund mit dem Ausdruck „rechnungsmäßige Auseinandersetzung" nicht genügend ausgedeckt worden sei. Von der II. Section des Landvogteigerichts durch Erkenntniß vom 13. März 1869 M 35 mit der Einrede des dunkeln Klagevortrages zurückgewiesen und zum Beweise der der exc. indebiti zu Gruude gelegten Thatsachen angehalten, inter- ponirte die Beklagte die Querel und machte wider die unter- richterliche Beweisauflage namentlich geltend, daß ihr, als einer Person weiblichen Geschlechts, gemäß Art. 3701, Pkt. 2 und 3 und Art. 2957 1. c. die Beweislast nicht habe obtrudirt wer­ 110 _ den dürfen, sondern vielmehr dem Kläger der Beweis anfzu- geben gewesen sei, daß der in Frage stehenden Schuldurkunde in der That eine wirkliche Schuldverbindlichkeit ihrerseits zu Grunde liege. Durch den Querelbescheid vom 8. August 1869 M 5588 wurde jedoch die Entscheidung erster Instanz in Allem bestätigt. In den Motiven dieses Querelbescheids kommt über die Aus- legung der an die Spitze gestel l ten Gesetzesstel len Folgendes vor: „Es dürfte in dem Ausdruck „rechnungsmäßige Ausein- andersetzung" eine Dunkelheit kaum zu finden sein. Es kann darunter jedenfalls nichts Anders verstanden werden, als eine zwischen dem Kaufmann S. und der Beklagten vorgenommene Abrechnung ihrer gegenseitigen Forderungen, bei welcher der dem einen Theile zur Last fallende Schuldbetrag seine von den Betheiligten anerkannte Feststellung gefunden hat. Eigentlich ist es auch nicht die Dunkelheit des Ausdruckes an und für sich, welche die Beklagte anstreitet; sondern sie will ihn nur nicht als einen hinreichend substanti irten Klagegrund anerkennen, weil das der Abrechnung zu Gruude gelegen habende Schnldverhältniß völlig unerwähnt geblieben ist." „In der That ist die Frage, in wieweit eine gepflogene Abrechnung und die daraus gegründete Anerkennung einer Ver- Kindlichkeit als ein zureichendes selbstständiges Fundament einer Klage zu erachten ist, unter den Theoretikern sowohl, als auch in der gemeinrechtlichen Praxis sehr bestritten." „Diese Frage ist in neuerer Zeit vielfach erörtert worden und die Entscheidungen der höchsten Gerichtshöfe sind nicht selten in ganz entgegengesetztem Sinne ausgefallen, so daß sich dem von der Beklagten zu ihren Gunsten angezogenen Er- kenntnisse des O.-A.-G. zu Darmstadt andere obergerichtliche Entscheidungen mit völlig abweichender Auffassung gegenüber­ 111 stellen lassen. *) Indessen scheint man doch darüber ziemlich einig zn sein, daß nur die den concreten Fall begleitenden Umstände die Frage von der Giftigkeit und Klagbarkeit eines Anerkennungsvertrages entscheiden können (Vergl. Sintenis Bd. 2, pag. 261 AHM. 25b)." „Wollte man aber auch zugeben, daß nach gemeinem Rechte diejenige Ansicht die richtige sei, nach welcher die Ab­ rechnung der Betheiligten über bereits bestehende Forderungen und die daraus gegründete Anerkennung einer Schuld ein nenes Obligationsverhältniß dergestalt herzustellen, daß die stattgehabte Abrechnung und Anerkennung eine genügende causa debendi darstellte, um eine auf Grund derselben angestellte Klage substantiirt erscheinen zu lassen, nicht im Stande sei, so dürfte doch au der Hand der einheimischen Gesetz- gebung und der hiesigen Praxis die entgegengesetze Anschauung Platz greifen." „Nach Art. 2908 des 3. Th. des Prov.-Rechts werden Forderungsrechte begründet vor Allem durch Rechtsgeschäfte. Jegliche Handlungen, welche zum Zweck der Begründung, Aendernng oder Aufhebung von Rechtsverhältnissen erlaubter Weise unternommen worden, sind aber nach Art. 2909 1. c. Rechtsgeschäfte. Es kann hiernach nicht zweifelhaft sein, daß die „rech- nungsmäßige Auseinandersetzung" zwischen S. und der Beklag- ten, d. h. die Abrechnung über ihre gegenseitigen Forderuugs- Verhältnisse und die daraus gegründete, von den Betheiligten getroffene Feststellung des Schuldbetrages der Beklagten, als ein Rechtsgeschäft im Sinne des Art. 2909 angesehen wer­ den muß. Die zn den Acten gelangte Schuldurkunde besagt *) Vergl. die Allegate bei Windscheid, Pandekten 2. Aufl., 11 § 412ht Note 2 gegen Ende und außer diesen noch Seuffert's Archiv, XVII, 135. XXI, 30 und 31. XXII, 200. 112 ausdrücklich, daß die Beklagte zufolge stattgehabter rech- nuugsmäßiger Auseinandersetzung 10000 Rubel S. schuldig geworden ist. Diese Auseinandersetzung wird also nicht nur als der Schuldgrund hingestellt, sondern sie ist offen- bar auch zur Begründung eines neuen Rechtsverhältnisses unter Abänderung und Aufhebung der bis dahin unter den Bethei- (igten stattgehabten Schuldverhältnisse unternommen worden. Dafür zeugt entschieden die von der Beklagten in Assistenz ihres Ehemannes ausgestellte und von ihr als acht anerkannte Obli­ gation, zu deren Inhalt die Beklagte sich vor dem öffentlichen Notar bekannt hat." „Die Auffassung einer dergestalt stattgehabten Abrechnung als eines besonderen die Betheiligten verpflichtenden Rechts- geschästs, welches schon an sich und abgesehen von den ur- sprünglichen Schuldgründen einen hinreichenden Schuld-, be- ziehungsweisen Klagegrund abgiebt, erscheint mithin um so mehr gerechtfertigt, als schon die Sadtrechte (Lib. III, Tit. 5 § 1) jede freiwillige von dem Gegentheile aceeptirte Zusage als eine Vereinbarung ansehen, die der Versprechende zu erfüllen schuldig sei." „Mit dieser Anschauung kann auch die hiesige Praxis als übereinstimmend gelten." „Demgemäß ist die der Klage zu Grunde gelegte rechnungs- mäßige Auseinandersetzung als ein ausreichender Schuldgrund zu erachten und ist daher die von der Beklagten vorgeschützte Einrede der nicht hinlänglich substautiirten Klage (exceptio libell i obscuri) von dem Unterrichter mit Recht verworfen worden." „Die Querulantin beruft sich zur Begründung ihres zweiten (gegen die von dem Unterrichter decretirte Beweis­ auflage gerichteten) Beschwerdepunkts im Wesentlichen auf den Art. 3701, Punkt 2 und 3 des Privatrechts." „Das von der Beklagten einredeweise geltend gemachte 113 Rückforderungsrecht wegen Leistung einer Nichtschuld ist in dem vorliegenden Falle, wo es sich um ein geleistetes Versprechen handelt, gemäß Art. 369R ibid. darauf gerichtet, daß sie von solchem Versprechen befreit, beziehungsweise, baß die von ihr solchenfalls ausgestellte Schuldurkunde für entkräftet erkannt werde. Der angezogene Art. 3701 Punkt 2 u. 3 verordnet: daß ausnahmsweise dem Empfänger (des Versprechens resp. der Schuldurkunde) obliege das Dasein einer Schuld zu beweisen, 2) wenn der Condieent zu den Personen gehört, welchen Rechtsunwissenheit verziehen wird, und 3) wenn ein Schuldschein zurückgefordert wird, in welchem die rechtliche Veranlassung der Ver- pflichtung nicht angegeben ist. „Der letzte Fall muß durch das, was bei Erörterung der Einrede der nicht hinreichend substantiirten Klage im Vorgehen- den auseinandergesetzt worden, als bereits beseitigt angesehen werden, indem daselbst die „rechnungsmäße Auseinandersetzung," welche nach Inhalt der Obligation den Schuldgrund bildet, als eine genügende rechtliche Veranlassung der Verpflichtung anerkannt worden ist. WaS dagegen den Umstand anbetrifft, daß die Beklagte als Frau zu denjenigen Personen sich gezählt wissen wil l , welchen Rechtsunwissenheit verziehen wird, so kann es nicht dem geringsten Zweifel un< terliegen, daß der Art. 3701 im Allgemeinen auch die Frauen mit einschließt." „Es geht das klar und deutlich daraus hervor, daß bei Angabe der zu dem Art. 3701 allegirten Quellen stellen auf die 1. 25 § 1 I). de prob. (XXII, 3) und auch auf den Art. 2957 verwiesen worden, welcher davon handelt, inwiefern Personen weiblichen Geschlechts sich auf den Rechtsirrthum berufen dür- fen. Da hiernach aber Frauen nicht immer zu den Personen gehören, denen Rechtsirrthum verziehen wird, so ist es augen­ scheinlich, daß die in dem Art. 3701 ftatuirte Ausnahme sich 8 114 nur in soweit auf sie beziehen kann, als ihnen der Rechts- irrthum nachzusehen ist. Das geschieht aber nach Art. 2957, abgesehen von dem Falle der Unmöglichkeit sich die ersorder- liche Rechtsbelehrung zu verschaffen, welcher in Gemäßheit des Art. 2956 für jeden Irrenden gilt, nur in den von dem Gesetze ausdrücklich angegebenen Fällen. Daß die Beklagte außer Stande gewesen sich die erforderliche Rechtsbelehrung zu verschaffen, ist von derselben nicht einmal behauptet worden. Es fragt sich demnach nur, ob es ein Gesetz giebt, nach welchem Personen weiblichen Geschlechts sich bei der Rückforderung einer Nicht- schuld auf Rechtsirrthum berufen dürfen." „Die Beklagte bezieht sich in dieser Hinsicht auf die 1. 25 § 1 D. de prob. XXII 3, welche sich auch bei den Art. 2957 und 3701 unter den Quellenstellen allegirt findet. Diese Stelle sowie die ganze lex 25 handelt speciell von dem Beweise bei der condictio indebiti. Wenn nun der angezogene § 1 ibid. insbesondere auch des Falles gedenkt, in welchem ein Frauen- zimmer sich über die Zahlung einer Nichtschuld beschwert, so kann es nicht weiter zweifelhaft sein, daß die condictio inde­ biti auch zu den Fällen gehört, in welchen die Berufung auf einen Rechtsirrthum von Seiten beteiligter Frauen möglich ist. In welchem Maaße dies aber zu geschehen hat, dar- über entscheidet einzig und allein der Wortlaut des Gesetzes. Derselbe lautet folgendermaßen: Li autem is, qui indebitum queritur, vel pupillus, vel minor sit, vel mulier .... et forensium rerum expers, vel alias simplicitate gaudeus et desidiae deditus, tunc eum, qui accepit pecuriias, ostendere bene eas accepisse et debitas ei fuisse solutas, et si non ostenderit, eas redhibere. Die Auslegung der lex 25 cit., welcher die sämmtlichen Bestimmungen des Art. 3701 entnommen sind, ist eine sehr bestrittene, was seinen Grund hauptsächlich darin hat, daß die 115 in ihr enthaltenen Bestimmungen mit den sonst geltenden Grundsätzen über die Beweislast nicht wol vereinbar erschei- nen. Vangerow ist daher der Meinung (Lehrbuch der Pandec- ten, Bd. 3 § 625 Anm. 2), daß die Stelle schwerlich so, wie sie jetzt in den Pandecten steht, aus der Feder des Paulus geflossen sei. Wie dem aber auch sein mag, man wird einst- weilen bei dem Wortlaut stehen bleiben müssen, denselben aber, weil es sich um jura singularia handelt, stritt zu interpretiren haben." „Die angezogene Gesetzesstelle schreibt vor, daß, wenn der Condicent zu denjenigen Personen gehört, bei denen Un- künde in den Rechten und Geschäften des bürgerlichen Lebens angenommen wird, wie z. B. Personen weiblichen Geschlechts, diese, falls sie wegen Zahlung einer Nichtschuld Klage erheben, mit dem Beweise der Nichtschuld zu verschonen sind und aus- nahmsweise der Empfänger zu beweisen hat, daß er das ihm Bezahlte wirklich zu fordern gehabt habe. Diese Vorschrift bezieht sich also nur auf den Fall, in welchem die indebite geleistete Zahlung bereits erfolgt ist (vergl. Glück, Pand. Bd. 13, pag. 113). Von dem Falle dagegen, in welchem die Zahlung noch nicht geschehen ist, sondern nur behauptet wird, daß eine Handschrift ungeschuldet ausgestellt sei — und dieser Fall bildet den Gegenstand der querulantischen Einrede — han­ delt erst der § 4 der 1. 25 ibid. Dieser § 4, welcher die Quelle des Pkt. 3 des Art. 3701 ist, legt dem Empfänger des Schuld- scheins einzig und allein dann den Beweis auf, wenn in dem- selben kein bestimmter Grund der Klage angegeben ist (indis- crete loquitur). Es ist oben aber bereits nachgewiesen wor- den, daß die in Rede stehende Schuldurkunde einen bestimmten Schuldgrund angebe, mithin nicht als eine cautio indiscreta angesehen werden könne." „Nach dem Erörterten kann der § 1 der 1. 25 cit. auf den vorliegenden Fall keine Anwendung finden. Wollte man 6* 116 aber auch zugeben, daß dieser § nicht blos auf den Fall wirk- lich bereits indebite geleisteter Zahlung zu beschränken sei, so müßte dennoch der § 1 unanwendbar erscheinen, weil er auf der Voraussetzung beruht, daß der Condicent dem Geg-- ner gar nichts schulde. Es verordnet nämlich der § 2 der lex 25, daß, falls eine der im § 1 gedachten Privilegien Per­ sonen behaupten sollte, nur ein Theil des Gezahlten sei ein indebitum, die in § 1 ftatuirte Ausnahme in Wegfall kom­ men und die allgemeine Regel wiederum Platz greifen solle, nach welcher der Condicent den Beweis des indebitum zu übernehmen hat. Die Beklagte hat aber selbst zugestanden, daß S. einen Theil der ihrer Angabe nach von ihm übernom- menen Zahlungen, für welche sie die libellirte Schuldurkunde ausgestellt hat, bereits wirklich geleistet hat." „Die Ouerulantin kann sonach in dem vorliegenden Falle nicht die Wohlthat der Rechtsunwissenheit für sich in Anspruch nehmen." Victor Zwingmana. (Forts, folgt.) IV. Läßt sich die für das Verfahren vor den friedens- richterlichen Behörden geltende Civilproeeßord- imng vom 20. November 1864 auf die Ostsee- Provinzen anwenden? Es liegt in der Natur der Sache, daß der Civilproceß eines Landes mit dem Privatrecht desselben im engsten Zu- sammenhange und in zahlreichen Wechselbeziehungen steht, denn der Civilproceß bezweckt ja eben die Realisirung des Privat- rechts und stellt sich im Allgemeinen dar als die rechtliche Ordnung, welche für die Geltendmachung von Privatrechten vor Gericht maßgebend ist. Ebendaher erscheint der Erlaß einer Civilproeeßordnung ohne umfassende Kenntniß und be- ständige Berücksichtigung der in dem Privatrecht enthaltenen Rechtssätze, Begriffsbestimmungen und Terminologien schlechter- dings undenkbar. Wir bezweifeln nicht im Geringsten, daß bei Ausarbeitung der Civilproceßordnung des Reichs überall die durch die Natur der Sache gebotene Rücksicht auf das russische Privatrecht genommen sei, aber wir sind auch überzeugt, daß bei Abfassung jener Civilproceßordnung eine gleiche Rücksicht- nähme auf das Privatrecht der Ostseeprovinzen überhaupt nicht im Plane lag, daher auch nicht stattgefunden und dies um foweniger, als nach dem Zeugniß Sachkundiger zwischen diesen beiden Privatrechten tief einschneidende Unterschiede obwalten. 9 118 Obgleich wir aus diesem Grunde die Unanwendbarkeit der Civilproceßordnung des Reichs aus die Ostseeprovinzen bis- her als selbstverständlich angesehen haben, so ist doch in den Nrn. 105, 108 und 116 des in St. Petersburg erscheinenden Gerichtsboten vom Jahre 1870 ein Artikel erschienen, welcher das baltische Project einer Civilproceßordnung behandelt und nach umständlichen Erörterungen zu dem Ergebniß gelangt, daß die Civilproceßordnung des Reichs aus die Ostseeprovinzen nicht allein ohne Schaden für die Rechtspflege ausgedehnt werden könne, sondern auch aus dieselben ausgedehnt werden müsse, um für das ganze Reich auch hinsichtlich des Versahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten völlige Gleichförmigkeit zu er- zielen. Schon der Umstand, daß der Verfasser dieses Artikels gleich im Eingange desselben erklärt, daß er als gewissenhafter Diener der Wahrheit dem baltischen Lande ein „Privilegium tenebrae" (!) nicht zugestehen könne, ruft die Befürchtung wach, daß sich in den Rechtskenntnissen des unbekannten Ver- fassers kaum weniger dunkele Partien finden möchten, als in dem Latein desselben. Bei näherer Beprüsung des Artikels rechtfertigt sich diese Befürchtung leider in so hohem Maße, daß man sich nicht sowohl zur Kritik, als vielmehr zu dem Wunsch aufgefordert sieht, der Verfasser möge sich vor Allem eines eingehendem Studium's befleißigen. Da sich indeß die Mög­ lichkeit wenigstens theilweise stattgehabter Beeinflussung nicht mit voller Gewißheit verneinen läßt, wenn man den nieder- donnernden Ton des Artikels und die große Mühe in Betracht zieht, die der Verfasser sich gegeben, seinen Phrasen den Schein parteiloser Objectivität zu leihen — und da wir ferner aus den Verhandlungen, die in jüngster Zeit über die Reform eini- ger Rechtsinstitutionen der Ostseeprovinzen geführt worden, zu entnehmen geglaubt haben, daß hinsichtlich einiger in dem fraglichen Artikel aufgestellter Gesichtspunkte entschieden prin- cipieller Natur in maßgebenden Kreisen sehr verschiedene An­ 119 schauungen geltend gemacht werden: so wollen wir in dem nachfolgenden Versuch einer Begründung der Unanwendbarkeit des reichsrechtlichen Friedensrichterprocefses auf die Ostseepro- vinzen auch auf eine gelegentliche Widerlegung der Behaup- tungen und Bemerkungen des Verfassers jenes Artikels ein- gehen, jedoch nur in so weit, als der letztere die Ausgabe berührt, die wir uns gestellt haben. Die ganze Civilproceßordnung vom 20. Novbr. 1864 für völlig unanwendbar auf die Ostseeprovinzen erachtend, wer- den wir hier doch vorzugsweise nur auf die Bestimmungen des ersten Buches eingehen, weil dasselbe den für die friedensrich- terlichen Behörden erlassenen Civilproceß betrifft und von der Staatsngierung, so viel uns bekannt, vorläufig nicht eine Re- form der gefammten Justizpflege der Ostseeprovinzen beabsichtigt, sondern nur der Plan verfolgt wird, auch in den Ostseepro- vinzen das Institut der Einzelrichter in's Leben zu rufen. Bevor wir uns der Lösung unserer Aufgabe unterziehen, glauben wir bemerken zu müssen: 1. daß wir, der russischen Sprache unkundig, die Gerichts- Ordnungen vom 20. Novbr. 1864 nur aus der in Heidel- berg im Jahre 1867 erschienenen Uebersetznng von Eon- stantin Hackel kennen und uns daher nur an den Wort­ laut dieser Uebersetznng zu halten vermögen; 2. daß es uns in der nachfolgenden Erörterung garnicht auf eine Kritik der Gerichtsordnungen, sondern nur auf den Nachweis ankommen wird, daß die Civilproceßordnung, wenn sie auch noch so sehr den Bedürfnissen im Innern des Reichs entspricht und mit dem dort geltenden Privat- recht im Einklänge steht, doch mit dem Privatrechte der Ostseeprovinzen und den hier obwaltenden Rechts-Zu- ständen überhaupt durchaus nicht vereinbar ist; 3. daß wir der Kürze wegen die Ordnung des Verfahrens der friedensrichterlichen Behörden in bürgerlichen Rechts- 9* 120 streitigkeiten — Friedensrichter-Proceß, die Ordnung des Verfahrens der allgemeinen Behörden in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten — allgemeine Civilproceßordnung, den von dem Herrn Generaladjutanten Albedinski unter Zu- stimmung der Stände im Jahre 1867 vorgestellten als Mannscript gedruckten Entwurf eines Einzelrichtergesetzes für die Ostseeprovinzen — Albedinskischen Entwurf — uud den Verfasser des oben erwähnten Artikels des Ge- richtsboten — Herrn N. N. nennen wollen — und 4. daß wir, da Herr N. N. bei seinen Erörterungen das baltische Project einer Civilproceßordnung für die Ostsee- Provinzen (im Jahre 1865 als Manuscript gedruckt) vor Augen gehabt, dasselbe aber dem Albedinskischen Ent- Wurf hinsichtlich des Proceßverfahrens zur Quelle gedient hat, bei Ällegation von Paragraphen des Albedinskischen Entwurfs denselben die entsprechenden Artikel des balti- fchen Entwurfs in der Weife hinzufügen werden, daß die Paragraphen des ersteren oben, die Artikel des letzteren dagegen unten zu stehen kommen. Die Unanwendbarkeit des Friedensrichter-Processes auf die Ostseeprovinzen wurzelt, unserer Ansicht nach, theils I. in dem, was dieser Proceß bestimmt, also in dem In- halt, wie in der Fassung der einzelnen Artikel, aus denen er besteht, — theils wieder II. darin, daß in ihm viele proceßrechtliche Bestimmungen, ja ganze proceßrecktliche Institute mit Stillschweigen übergangen sind, während sie in einer provinciellen Proceßordnung ohne Schaden für die Rechtspflege nicht entbehrt werden können. Da der Artikel 80 der Civilproceßordnung vorschreibt, daß die Friedensrichter, wenn sie in Betreff der Ordnung des Gerichtsverfahrens auf Schwierigkeiten stoßen, dieselben durch die Bestimmungen der allgemeinen Civilproceßordnung erle- digen sollen, so werden wir nicht verfehlen, die Vorschriften 121 dieser letzteren da in Betracht zu ziehen, wo sie eine Ergänzung des Friedensrichter-Processes zulassen oder zur Erläuterung desselben geeignet erscheinen. Hiernächst A. mit den Gründen der ersten Kategorie beginnend, können wir nicht unbemerkt lassen, daß das erste Hauptstück nach seiner Ueberschrist nur von den Gerichtsständen zu handeln verheißt, dennoch aber nicht allein von diesen, son- dern auch von der Gerichtsbarkeit und Competenzconflicten handelt. Ob dies etwa durch mangelhaste Uebersetzung her- beigeführt worden, vermögen wir nicht zu entscheiden, den Ein- wand aber, den wir vom Standpunkt des provinziellen Rechts gegen den ersten Artikel dieses Hauptstücks, nämlich den Art. 29 der Eivilproceßordnung, zu nehmen genöthigt sind, Haider Uebersetzer sicherlich nicht veranlaßt. Dieser Artikel lautet wörtlich: Der Gerichtsbarkeit der Friedensrichter unterliegen: 1. Klagen ans persönlichen Verbindlichkeiten und Verträgen und über bewegliches Vermögen im Werth von nicht mehr als 500 Rbl.; 2. Schadenstandsklagen, wenn der Betrag derselben 500 Rbl. nicht übersteigt oder zur Zeit der Klageerhebung nicht genau bestimmt werden kann; 3. Klagen über persönliche Beleidigungen und Kränkungen; 4. Klagen über Wiederherstellung eines gestörten Besitzes, wenn von der Zeit der Störung an nicht mehr als 6 Monate verflossen sind; 5. Klagen, betreffend Nutzungsrechte an fremdem Grund- eigenthnm (Reichsgesetzbuch. Band X. Thl. I. Civilg. Art. 442, 445—451), wenn von der Zeit der Verletzung eines solchen Rechts an nicht mehr als ein Jahr verflossen ist. Herr N. N. wird verzeihen, wenn wir es wagen, jede dieser 5 Bestimmungen hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit aus die Ostseeprovinzen zu bestreiten. 122 ad 1. Nach Provinziellem Privatrecht ist jedes For- derungsrecht ein persönliches Recht. Jedem Forderungsrecht steht als Correlat eine selbstverständlich persönliche Verbindlich- fett gegenüber, zu deren Erfüllung eben der Verpflichtete dem Berechtigten gegenüber verbunden ist. (Vergl. Art. 2907 des Privatrechts). Da nun Forderungsrechte (und mit ihnen die an sie geknüpften persönlichen Verbindlichkeiten) nach dem Art. 2908 des Privatrechts entweder 1. durch ein Rechtsgeschäft oder 2. durch die unerlaubte Handlung eines Andern oder 3. durch einen bestimmten Zttstand, an den das Gesetz die Entstehung eines Forderungsrechts knüpft (Miteigentum, Miterbrecht) begründet werden, Verträge aber wieder nach Art. 2910 des Privatrechts solche Rechtsgeschäfte sind, die zu ihrer Entstehung des übereinstimmenden Willens der von beiden Seiten Be- theiligten bedürfen, so leuchtet ein, daß in den Ostseeprovinzen Verträge nur eine der verschiedenen Quellen sind, aus denen persönliche Verbindlichkeiten entspringen und daß mithin die Zuständigkeit des Friedensrichters für Klagen aus Verträgen schon einbegriffen sein würde in der umfassenderen Zuständig- keit desselben für Klagen aus persönlichen Verbindlichkeiten. Indem wir unmöglich annehmen dürfen, daß die Gerichtsord- nung das Untergeordnete als Nebengeordnetes hinstellen und mit den Worten „und aus Verträgen" schon Gesagtes wieder- holen wollen, gelangen wir zu der Ueberzeugung, daß mit den Verträgen, von denen hier die Rede ist, etwas dem russischen Privatrecht Eigentümliches bezeichnet und somit auf einen Rechtsbegriff Bezug genommen werde, der für die Justiz der Ostseeprovinzen bedeutungslos ist. Auch die Worte „Klagen über bewegliches Vermögen" müssen in den Ostseeprovinzen Zweifel hervorrufen, denn sie lassen, wenn man die Termins- logien des provinziellen Privatrechts vor Augen hat, unbe­ 123 stimmt, ob mit ihnen nur solche Klagen getroffen Werden kön- nen, die ein dingliches Recht an einer beweglichen Sache zum Gegenstande haben, oder auch Klagen, die, obwohl Forderungs- rechte betreffend, doch auf Erlangung einer unbeweglichen Sache gerichtet sind. Wenn z. B. der Käufer eines Jmmobils, das einen Werth von weniger als 500 Rbl. hat, auf Grund des geschlossenen Kaufvertrages gegen den Verkäufer auf Ueber- gäbe des Jmmobils klagt, so wird diese Klage, wie uns von einem genauen Kenner des russischen Rechts mitgetheilt worden, als Klage über unbewegliches Vermögen angesehen und des- halb an das örtliche Bezirksgericht gewiesen werden. Den- noch würde ein provinzieller Friedensrichter sich zur VerHand- lung jener Klage zuständig erachten müssen, weil die Verbind- lichkeit des Verkäufers zur Uebergabe des veräußerten Jmmo- bils eine persönliche Verbindlichkeit ist uud die in Rede stehende Klage trotzdem, daß sie aus Erlangung eines Jmmobils ge- richtet ist, nach Art. 537 des Provinzialrechts nur als Klage über bewegliches Vermögen gelten kann, so daß also bei An- Wendung des Punkt 1. des Art. 29 auf die Ostseeprovinzen in vielen Fällen gerade das Gegentheil von dem eintreten würde, was von diesem Gesetz beabsichtigt worden ist. Schließlich braucht kaum bemerkt zu werden, daß die Summe von 500 Rbl. für die Verhältnisse der Ostseeprovinzen viel zu hoch gegriffen erscheint und man sehr wohl die Frage aufwerfen kann, ob die Worte „von nicht mehr als 500 Rbl." sich blos auf die Klagen über bewegliches Vermögen oder auch aus die Klagen aus persönlichen Verbindlichkeiten und Verträ- gen beziehen sollen? ad 2. Nach provinziellem Privatrecht ist jeder Anspruch aus Sd)adensersatz ein Forderungsrecht und die Verpflichtung zur Leistung des Sd)adensersatzes eine persönliche Verbindlich- keit. In Betracht, daß hiernach die Schadenstands-Klagen un- bedingt zu den schon im ersten Punkt bedachten Klagen aus 124 persönlichen Verbindlichkeiten gehören, ergiebt sich, daß die hier fragliche Competenzbestimmung für die Ostseeprovinzen völlig müßig wäre. ad 3. Hier drängt sich die Frage auf, Welcher rechtliche Unterschied zwischen Persönlichen Beleidigungen und persönli- chen Kränkungen bestehe? Denn daß die Civilproceßordnung diese Ausdrücke nicht als Synonyma auffasse, ergiebt sich aus dem Umstände, daß sie vermittelst des Bindewortes „und' (nicht oder) aneinander gereiht sind. Das provinzielle Privat- recht kennt, wie aus dem Art. 4560 hervorgeht, nur Ehren­ kränkungen oder Injurien, woraus folgt, daß dcr provinzielle Friedensrichter, wenn er die persönlichen Beleidigungen den Eh- renkränkungen gleichstellt, hinsichtlich des Begriffs der perfön- lichen Kränkungen im Dunkeln bliebe, während ihm, wenn er die Ehrenkränkungen mit den persönlichen Kränkungen identi- ficirt, dunkel bleiben müßte, was er unter persönlichen Belei- diguugen zu verstehen habe. ad 4. Das provinzielle Privatrecht unterscheidet zwischen der bloßen Störung des Besitzes und dem Spolium, d. i. der Verdrängung oder Entsetzung aus dem Besitz (Art. 681). Die Störung des Besitzes hebt letzteren noch keineswegs aus. Ein Spolium dagegen hebt den Besitz allerdings auf (Art. 684). Diesen Unterscheidungen entsprechend setzt die Klage wegen Störung des Besitzes (interdictum uti possidetis) zu ihrer Begründung neben der Thatsache der Störung auch noch vor- aus, daß der Kläger den Besitz nicht verloren habe, — und bezweckt in erster Linie Schutz des Besitzes (Art. 686). Die Spolienklage dagegen setzt gerade Aufhebung des Besitzes durch Gewaltthat voraus und bezweckt in erster Linie die Wiederherstellung des aufgehobenen Besitzes. Wenn nun die hier fragliche Competenzbestimmung die Friedensrichter für Klagen wegen Wiederherstellung gestörten Besitzes zu- ständig erklärt, so hat das nach provinziellem Privatrecht offen­ 125 bar keinen Sinn, weil ja ein blos gestörter Besitz als fort- bestehend angesehen wird, mithin unmöglich Gegenstand der Wiederherstellung oder Restitution sein kann. Liest man, an die Möglichkeit einer ungenauen Uebersetzung denkend, anstatt „gestörten Besitzes" — ausgehobenen Besitzes, so sind damit die Klagen über den gestörten Besitz preisgegeben, trotzdem daß diese Klagen in der Justizpflege der Ostseeprovinzen, und na- mentlich Curlands, keineswegs eine untergeordnete Rolle spie- len. Liest man anstatt „Wiederherstellung des Besitzes" — Schutz des Besitzes, so ist wieder eine Preisgebung der Spolien- klage unvermeidlich, — kurz, selbst bei einer entschieden eigen- mächtigen Interpolation des Textes gelangt man immer zu dem Ergebniß, daß der Punkt 4. des Art. 29 der Civilproceß- ordnung sür die Ostseeprovinzen ein tobter Buchstabe sein müßte, was den Friedensrichtern derselben, wenn sie das Pro- ceßversahren einst nach ben Vorschriften ber Civilproceßorbnung leiten müßten, gewiß um so größere Verlegenheiten bereiten würbe, als bie Civilproceßorbnung für ben Ausbruck „Wieber- Herstellung gestörten Besitzes" eine besondere Vorliebe zu haben scheint, ba sie sich besselben in zahlreichen Artikeln bebient. ad. 5. Die Bezeichnung „Nutzungsrecht an frembem Grunbeigenthum" trifft für kein Institut bes provinziellen Privatrechts zu und ist sür ben provinziellen Richter unter- stänblich. Was unter bieser Bezeichnung verstauben sei, läßt sich zwar aus ben im Texte angezogenen Artikeln des Reichs- gesetzbuches ersehen; allein da sich in dem provinziellen Pri- vatrecht keine Vorschriften finden, die den angezogenen Bestim- mungen des Reichsrechts adäquat sind unb letzteres in den Ostseeprovinzen keine Geltung hat, so läßt sich auch diesem Punkte eine praktische Bedeutung für die Ostseeprovinzen nicht abgewinnen. Wenn Herr N. N. aufrichtig ist, wird er schwerlich in Abrede stellen, daß der Art. 29 der Civilproceßordnung, 126 Wenn man ihn in den Ostseeprovinzen einbürgern wollte, dem bisher Ausgeführten gemäß sich in Nichts verflüchtigen würde. Weit entfernt davon, andeuten zu wollen, daß jener Artikel dem Privatrechte des Reichs nicht entspreche oder für das Innere des Reichs in irgend einer Hinsicht unzutreffend sei, ist unsere Ausführung vielmehr nur gegen den Gedanken ge- richtet gewesen, den fraglichen Artikel aus ein Rechtsgebiet verpflanzen zu wollen, für welches er von Haus aus nicht be- stimmt worden und auf welches er offenbar nicht angewandt werden kann. Unter Uebergehung des Art. 30 der Civilproceßordnung (welcher blos festsetzt, daß Friedensrichter auch die Function eines Schiedsrichters übernehmen können, wenn die streitenden Theile sie zu ihrem Schiedsrichter erwählen) richten wir unsere Aufmerksamkeit aus den Art. 31 der Civilproceßordnung. Der­ selbe lautet: Von der Gerichtsbarkeit der Friedensrichter sind aus- geschlossen: „1. Klagen über Eigenthums- oder Besitzrecht an Immobi­ lien, wenn dieses Recht durch eine formelle Urkunde be- »stätigt ist; „2. Klagen, welche mit dem Interesse der Kronsverwaltungen „verbunden sind, mit Ausnahme der Klagen über Wie- „derherstellung gestörten Besitzes; „3. Klagen zwischen Landbewohnern, welche vor ihre eigenen „Gerichte gehören, es sei denn, daß beide Parteien sich „darüber geeinigt, eine derartige Klage der Entscheidung „des Friedensrichters anheimzustellen. ad 1. Nach provinziellem Privatrecht ist der Besitz kein Recht, sondern ein sactischer Zustand oder, wie der Art. 623 des Privatrechts sich ausdrückt: jede einem Rechte entsprechende tatsächliche Herrschaft. Eben daher ist der Ausdruck »Besitz­ 127 recht an Immobilien" in den Ostseeprovinzen weder üblich noch verständlich. Sollte indeß mit diesem Ausdruck nichts vom Eigenthumsrecht Verschiedenes gemeint sein, so dürfte sich doch jedenfalls der Ausdruck „formelle Urkunde" nicht mit Stillschweigen übergehen lassen. Im gemeinen Civilproceß, so wie in den einheimischen Rechtsquellen der Ostseeprovinzen werden zwar schriftliche und nicht schriftliche, öffentliche und Privaturkunden, Originale und Copien und unter letzteren ein- fache und beglaubigte unterschieden, von formellen Urkunden ist aber nirgends die Rede, — und da sich eine Urkunde ganz ohne Form überhaupt nicht denken läßt, so ist mit der Bezeich- nung einer Urkunde als einer formellen in den Ostseeprovinzen gar nichts gesagt. Weil nun Klagen über das Eigenthums- recht an Immobilien der Gerichtsbarkeit der Friedensrichter nur unter der Voraussetzung entzogen sind, daß das Eigen- thumsrecht durch eine formelle Urkunde Bestätigung gefunden, der Begriff dieser Urkunden aber dem Provinzialrecht fremd ist, so genügt diese Sachbewandniß, um den Punkt 1 des Art. 31 für die Ostseeprovinzen vollständig lahm zu legen. ad 2. Abgesehen davon, daß hier wieder von der nach provinziellem Privatrecht unmöglichen Wiederherstellung gestör- teil Besitzes die Rede ist, braucht kaum erwähnt zu werden, daß die in diesem Punkte ausgestellte Regel, wenigstens in der vorliegenden Uebersetzung, einen sehr unjuristischen Ausdruck gefunden; denn eines Theils handelt es sich hier nicht um das civilrechtliche Interesse der Kronsverwaltungen, sondern um das Interesse der Krone oder des Fiscus, — unb anderen Theils läßt der Satz: „Klagen, welche mit dem Interesse der „Kronsverwaltungen verbunden sind" — doch eigentlich nur er- rathen, daß hier Klagen gemeint sind, in denen der Krone die Rolle des Klägers oder des Beklagten zufällt. ad 3. In den Ostseeprovinzen gilt zur Zeit für alle Gerichte und Stände ohne Ausnahme der Grundsatz, daß der 128 Kläger an das Forum des Beklagten gebunden sei, so daß auch zum Bauerstande nicht gehörige Personen, wenn sie gegen auf dem Lande wohnende Bauern klagen wollen, ihre Klage (abgesehen natürlich von den Fällen, in denen ein besonderer Gerichtsstand begründet ist) bei demjenigen Gemeindegerichte anbringen müssen, in dessen Bezirk der Beklagte wohnt. Hier, im Punkt 3 des Art. 31, wird dagegen das Bestehen von Ge- richten vorausgesetzt, welche ausschließlich für solche Streitig- leiten zuständig sind, die zwischen Bauern unter einander ent-- stehen. Soll also die hier fragliche Bestimmung auch für die Ostseeprovinzen zutreffen, so müßte erst hinsichtlich der Zustän- digkeit der Gemeindegerichte eine Veränderung vorgenommen werden, welche den oben erwähnten Grundsatz trotzdem durch- bricht, daß in der Durchbrechung schwerlich ein Fortschritt zum Besseren erblickt werden kann. Ehe und bevor wir auf die weiteren Artikel des Frie- densrichterprocefses übergehen, mag es uns gestattet sein, auf die die Gerichtsbarkeit der provinziellen Friedensrichter normi- renden Bestimmungen des Albedinski'schen Entwurfs einen Blick zu werfen. Sie finden sich in dem § 27 des ersten Bu­ ches dieses Entwurfs. Die Punkte 1, 2, 5 und 8 des § 27 des Entwurfs entsprechen den Punkten 1—4 des Art. 29 der Civilproceßordnung, jedoch mit dem Unterschiede, daß sie den Bestimmungen und Terminologien des provinziellen Privat- rechts angepaßt sind, sich von irreführenden Wiederholungen frei erhalten und, wie namentlich bei dem Punkt 1 der Fall ist, neben der allgemeinen Regel auch diejenigen von der Re- gel beherrschten Fälle, die am häufigsten vorkommen, beispiels< weise hervorheben. Obgleich die beispielsweise Anführung der gewöhnlichsten Fälle entbehrlich erscheint, so dürfte sie doch insbesondere den mit Fachkenntnissen nicht ausgerüsteten Frie- densrichtern erwünscht kommen. Unter den Punkten 3, 4, 6 und 7 des § 27, rücksichtlich welcher sich in der Civilproceß- 129 ordnung des Reichs keine entsprechende Bestimmung findet, weisen die Punkte 3 und 4 Streitigkeiten über den Mieth- und Pachtbesitz von Immobilien selbst dann dem Friedensrichter zu, wenn der Werth des Streitgegenstandes sich nicht bestim- men läßt oder den Betrag von 300 Rbl. übersteigt. Diese Ausnahme von der allgemeinen Regel dürste gerechtfertigt er- scheinen, wenn man erwägt, daß Rechtsstreitigkeiten, in denen es sich um Räumung oder Einräumung gepachteter, beziehungs- weise gemietheter Immobilien handelt, in der Regel eine be- sonders schleunige Erledigung erheischen, wenn die Betheilig- ten nicht in die Lage gerathen sollen, mit ihrer Familie, ihrem Gesinde, ihrem Viehbestande und ihren Haus- und Ackergeräth- schasten obdachlos zu werden oder sich an der Bewerkstelligung unaufschiebbarer Feldarbeiten gehindert zu sehen. Der Punkt 6 rechtfertigt sich schon aus der von ihm angezogenen Bestim- mung des Privatrechts und von dem Punkt 7 wird unten bei der Erörterung über den Arrestproceß ausführlich die Rede sein. Die Punkte 1 und 2 des § 29 des Albedinskis'chen Ent­ wurfs correfpondiren mit den Punkten 1 und 2 des Art. 31 der Civilproceßordnung, sind jedoch so gefaßt, daß sie den von uns oben gegen dieselben erhobenen Einwendungen Rechnung tragen. Punkt 3 des § 29 widerspricht ebenso wie der mit ihm correspondirende Punkt 3 des Art. 31 dem Grundsatz, daß der Kläger ohne Rücksicht auf seinen Stand dem Forum des Beklagten zu folgen habe. Demnächst den Text des Friedensrichter-Processes weiter verfolgend, treffen wir auf den Art. 32, welcher festsetzt, daß die Klage bei demjenigen Friedensrichter anzubringen sei, in dessen Districte der Beklagte seinen Wohnsitz oder seinen zeit- weiligen Aufenthalt hat. Hiernach scheint die Civilproceßord- nung neben dem allgemeinen Gerichtsstände einen mit ihm concurrirenden Gerichtsstand des zeitweiligen Aufenthalts des Beklagten zu statuiren, so daß der Kläger nach seiner Wahl 130 die Klage entweder am Wohnsitz oder am Aufenthaltsorte des Beklagten erheben kann. Von der im Art. 32 enthaltenen Regel nimmt der Art. 206 der allgemeinen Civilproceßordnung zwar den Fall eines kurzen Aufenthalts auf einer Durchreise aus; allein abgesehen davon, daß diese Ausnahme zu enge ge­ saßt zu fein scheint, indem man sich an einem Orte kurze Zeit aufhalten kann, ohne gerade auf der Durchreise begriffen zu sein; — abgesehen serner davon, daß der fraglichen Regel durch den Art. 207 recht eigentlich die Spitze abgebrochen wird und dieser Artikel außerdem von Überweisung der Sache an den zuständigen Richter spricht, während doch nur von Ab­ weisung der Klage wegen Unzuständigkeit des angerufenen Richters die Rede sein kann, — möchten die Ostseeprovinzen Grund haben, vom Standpunkt ihres Proceßrechts, wie vom Standpunkt der Theorie und der Billigkeit dagegen Einspruch zu erheben, daß der Kläger befugt fein soll, den Beklagten da, wo derselbe sich Mos vorübergehend aufhält, selbst in dem Falle belangen zu können, wenn über des Beklagten Wohnsitz kein Zweifel obwaltet und keiner der besonderen Gerichtsstände gegen ihn begründet ist. Nicht der Beklagte, sondern aus- schließlich der Kläger hat ein Interesse an der Einleitung und Durchführung des Processes und wie Niemand gezwungen werden kann, sich zum Besten eines Anderen Opfer und Unbe- qnemlichkeiten aufzuerlegen, so kann auch von dem Beklagten nicht gefordert werden, daß er, um dem Kläger die Verfolgung dessen wirklichen oder vermeintlichen Rechts zu erleichtern, sich an einem Orte aus die Klage einlasse, welchen er nur vorüber- gehend aufgesucht hat, welcher nicht den regelmäßigen Mittel­ punkt seines häuslichen und bürgerlichen Verkehrs bildet und ihm die Verteidigung gegen die Klage ans vielen naheliegen? den Gründen erschwert. Hiernach können wir uns der Ansicht des Herrn N. N., daß die §§ & und ?4 7 des Albedinski'- schen Entwurfs durch die Art. 32, 203 — 207 der Civil- 131 proceßordnung zu ersetzen seien, schon deshalb nicht anschließen, weil letztere der dem allgemeinen Gerichtsstande (gemeinrecht- lich) zu Grunde liegenden ratio nicht gebührende Rechnung tragen. Außerdem sind die §§ 6 und 7 des Albedinski'schen Entwurfs viel kürzer und klarer und doch vollständiger als die Art. 32, 203—207 der Civilproceßordnung. Sie haben freilich auf den, den Begriff des bleibenden Wohnsitzes defini- renden Art. 204 der Civilproceßordnung keine Rücksicht genom- men, sollten aber dafür das Lob des Herrn N. N. ernten, weil die Art. 3066 und 3067 des provinziellen Privatrechts Hinsicht- lich des Begriffs des Wohnsitzes sür die Ostseeprovinzen maß- gebende Bestimmungen getroffen haben, welche so ausführlich sind, daß der Albedinski'fche Entwurf sich im § 6 aus die Be­ merkung beschränken konnte, daß der gewöhnliche Aufenthalts- ort einer Person bis zum Beweise des Gegentheils als Wohn- sitz derselben zu präsumiren sei. Außerdem erscheint uns die Definition des Art. 204 der Civilproceßordnung keineswegs mustergültig. Nach derselben soll nämlich der Ort, wo Je- mand angesessen ist oder seine häusliche Einrichtung hat, nur dann als Wohnsitz gelten, wenn die Ansässigkeit oder die häus- liche Einrichtung durch die Geschäfte und Gewerbe oder das Vermögen oder den Dienst der betreffenden Person bedingt ist. Gerade hierin liegt aber die Unzulänglichkeit der Begriffsbe- stimmung, denn es lassen sich viele Fälle denken, in denen über den Wohnsitz einer Person ohngeachtet dessen kein Zwei- sel bestehen kann, daß die von der Civilproceßordnung ausge- führten Merkmale nicht zutreffen. Eine Wittwe, die in einem befreundeten Haufe bleibende Aufnahme findet, ein Mann, der von den Renten seines Capitals lebt und sich in einer Stadt niederläßt, tun bessere Gelegenheit zur Erziehung seiner Kin- der zu haben, eine Person, die in Folge obrigkeitlichen Befehls an einem Orte internirt wird — ic. ;c., haben ihren Wohnsitz offenbar an den bezeichneten Orten, ohne durch ihre Geschäfte 132 und Gewerbe oder ihr Vermögen oder durch ihren Dienst an jene Orte gebunden zn sein. Wie bei der Frage nach der bona und mala fides, des animus rem sibi habendi ic., so kommt man auch bei der Frage: ob eine Person mit ihrem Aufenthalt an einem bestimmten Orte den animus sedem fixam habendi verbinde? bald zu der Ueberzeugung, daß der Reichthum und die Vielgestaltigkeit menschlicher Lebensverhält- nisse die Möglichkeit einer erschöpfenden Aufzählung der jenen animus bekundenden Momente ausschließen und daß letzterer daher nur durch freie richterliche Würdigung festgestellt werden könne, was eben von der Civilproceßordnung übersehen sein dürfte. Der allgemeine Gerichtsstand kommt selbstverständlich nicht allein in Betreff einzelner physischer Personen, sondern auch dann in Frage, wenn es sich um Belangung von Streit- genossen, von Handelsgesellschaften, von Vereinen und von juristischen Personen handelt. Wie hat nun die Civilproceß- ordnung den allgemeinen Gerichtsstand dieser Genossenschaften und fingirten Personen geordnet? Ohngeachtet der großen Bedeutung, welche die juristischen Personen (wie schon aus dem Art. 713 des Privatrechts hervorgeht) für die Ostseepro- vinzen haben, wird weder in dem Friedensrichterproceß, noch in der allgemeinen Civilproceßordnung der juristischen Personen, geschweige denn ihres allgemeinen Gerichtsstandes mit einer Sylbe erwähnt. Herr N. N. scheint zwar zu meinen, daß der unter Anderem über den allgemeinen Gerichtsstand der juri- stischen Personen handelnde § 10 des Albedinskischen Entwurfs sich in dieser Hinsicht durch die Art. 35, 36, 220 und 221 der Civilproceßordnung ersetzen lasse: allein da diese Artikel nur den allgemeinen Gerichtsstand der Compagnien, Vereine und Gesellschaften bestimmen, so wollen wir gern annehmen, daß wir Herrn N. N. mißverstanden haben, denn daß er mit dem Begriff der juristischen Personen so wenig vertraut sein sollte, halten wir für unmöglich. Aber auch die Ausdrücke „Com- 133 pagnien und Gesellschaften" rufen mancherlei Bedenken hervor. Wahrscheinlich sollen mit dem Worte „Compagnien" Handels- gesellschasten (also offene Command.it-, Commandit-Actien und Actiengesellschasten) und mit dem Worte „Gesellschaften" durch römischrechtlichen Gesellschaftsvertrag (societas) verbundene Personen bezeichnet werden. Ist dieses der Fall, so ist dage- gen zu bemerken, daß es vom Standpunkte des provinziellen Privatrechts einer Bestimmung über den allgemeinen Gerichts- stand der Gesellschaften gar nicht bedarf, denn nach Art. 4311 folg. des Privatrechts können Gesellschafter, je nach der Art und Weise, wie sie contrahirt haben, bald einzeln, bald zusam- inen, im letzteren Falle jedoch immer nur als Streitgenossen, belangt werden und wo letztere ihren allgemeinen Gerichtsstand haben, ist im § 10. des Albedinskischen Entwurfs bestimmt. Herr N. N. urtheilt, daß dieser § 10. des Albedinskischen Entwurfs mit dem Art. 218 der allgemeinen Civilproceßord­ nung zusammenfalle. Das Urtheil wäre in einem gewissen Sinne zutreffend, wenn in dem Art. 218 nicht eine unbekannte Größe steckte. Da dieser Artikel nämlich von einer Klage spricht, die gegen mehrere, in verschiedenen Gerichtsbezirken wohnhafte Personen gerichtet ist, die Civilproceßordnung aber nirgends feststellt, unter welchen Voraussetzungen sich diese mehreren Personen vor einem und demselben Richter einzulassen haben, so ist der Art. 218 der Civilproceßordnung schon die- serhalb sür die Ostseeprovinzen unbrauchbar. Hiegegen wird Herr N. N. gewiß einwenden, daß die Voraussetzungen, unter welchen das Vorhandensein einer Streitgenossenschast anzuneh­ men sei, als eine rein theoretische Frage betrachtet werden müsse; gleichwohl werden wir weiter unten Gelegenheit finden, Herrn N. N. nachzuweisen, daß er theoretische Sätze von mit der Theorie übereinstimmenden Sätzen des positiven Proceß- rechts schlechterdings nicht zu unterscheiden weiß. Außer den bisher besprochenen Artikeln 35, 36, 218, 10 134 220 und 221 der Civilproceßordnung finden sich in derselben (mit Ausnahme des Art. 222, welcher bei Beachtung der Art. 4311 solg. und 4323 des Privatrechts bedeutungslos er- scheint) keine den allgemeinen Gerichtsstand betreffende Bestim- mungen. Hieraus folgt, daß die Civilproceßordnung es für überflüssig erachtet hat, durch sachgemäße Vorschriften dem Ein- fluß Ausdruck zu geben, welchen die Ehe, die elterliche Ge- walt, die Adoption und die Annahme von Pflegekindern aus den allgemeinen Gerichtsstand ausüben. Daß Ehefrauen den Gerichtsstand ihrer Ehemänner ha- ben, daß eheliche und diesen gleichgeachtete, namentlich auch Adoptivkinder bis zur Beendigung der elterlichen Gewalt dem Gerichtsstande der Eltern folgen und daß sür außereheliche Kinder der Gerichtsstand der Mutter, falls sie aber Pflege- eltern übergeben sind, der Gerichtsstand der letzteren gilt, — sind positive Vorschriften des Proceßrechts, die bei Codificirung des Provinzialrechts nothwendig irgendwo eine Stelle finden müssen und, da sie in den dritten Theil des Provinzialrechts nicht aufgenommen worden sind, in der provinziellen Civil- proceßordnung nicht fehlen dürfen. Herr N. N. erklärt alle jene Bestimmungen für überflüssig, bleibt aber die Angabe sei- ner Gründe schuldig, indem er vielmehr vorzieht, die in dem § -jfa des Albedinski'schen Entwurfs enthaltene Bestim- mung, daß Frauen den Gerichtsstand ihrer Männer auch nach Auflösung der Ehe behalten, bis sie eine andere Ehe eingehen oder ihren Wohnsitz in einen anderen Gerichtsbezirk verlegen, — gewissermaßen als Absurdität zu bezeichnen, weil dieseWestim- mung seiner Ansicht nach nur besage, daß die Wittwe, so lange sie den Wohnort ihres Mannes nicht verlasse, eben an dem- selben bleibe. Hätte Herr N. N. gewußt, daß die ihm so an- stößige Bestimmung sich aus der Lex. 22. § 1. Dig. 50. 1 herschreibt, in den dogmatischen Bearbeitungen des gemeinen Civilprocesses (Vergl. z. B. Bayer's Vorträge über den ge­ 135 meinen Civilproceß Seite 185) regelmäßig als eine Satzung des Proceßrechts aufgeführt wird und sich auch in den für Hannover, Bayern und Sachsen erlassenen Civilproceßordnun- gen vorfindet, so würde er vielleicht zu einigem Nachdenken angeregt und hoffentlich vor dem Mißgeschick bewahrt worden sein, sich zu einer Bemerkung hinreißen zu lassen, die nur be- weist, wie wenig er die Bedeutung und Tragweite positiver Rechtssatzungen zu würdigen weiß. Ein wenig Nachdenken würde ihn auch belehrt haben, wie kurzsichtig die Bemerkung ist, daß eine Bestimmung über den allgemeinen Gerichtsstand der Pflege- und Findelkinder selbstverständlich und daher über- flüssig sei; denn eines Theils steht den Pflegeeltern nach Art. 193 folg. des Privatrechts keineswegs die elterliche Gewalt über ihre Pflegekinder zu und anderen Theils braucht der ge- wöhnliche Aufenthaltsort der letzteren keineswegs mit dem Wohnort ber ersteren zusammenzufallen, indem auch Pflege- kinder sich als Schüler, Lehrlinge, Hanblnngsgehilsen ic. fern von ihren Pflegeeltern aufhalten können, bennoch aber in ber Regel (Vergl. bie Ausnahme bes § 93 T bes Albebinski'schen Entwurfs) an bem Wohnort ihrer Pflegeeltern in Anspruch zu nehmen finb. Zu bem Text bes Friebensrichterprocesses zurückkehrenb, fassen wir ben Art. 34 näher in bas Auge, weil er ber ein­ zige ist, ber als bas forum rei sitae betreffenb gebeutet wer« ben kann. Derselbe lautet: „Klagen über Wieberherstellung eines gestörten Besitzes, »über Nutzungsrechte an fr entbeut Grunbetgenthunt, über Ab­ reibungen und Ueberfchwemmungen und überhaupt wegen Er­ satzes für Schäden und Verluste an Immobilien werden an »dem Orte angebracht, wo das Immobil belegen ist." Die völlige Unanwendbarkeit dieses Artikels auf bie Ost- seeprovinzen leuchtet fast von selbst ein. Was zunächst bas für bie Besitzklagen geltenbe Forum betrifft, so kann dasselbe 10* 136 ohne Verstoß gegen die Bestimmungen des Privatrechts nur so geordnet werden, wie es in dem § 11 des Albedinski'schen Entwurfs geschehen ist. In Bezug auf die Nutzungsrechte an fremdem Grundeigenthum verweisen wir auf das, was wir oben über dieselben gesagt haben. Klagen über Abweidungen haben, weil eS nach provinziellem Rechte Klagen aus dem Delict sind, mit dem Gerichtsstand der belegenen Sache gar nichts zu schaffen und gehören ihrem Begriff nach zu denjenigen Klagen, für welche nach provinziellem Rechte der Gerichtsstand der unerlaubten Handlungen besteht. Letzterer ist im § 16 des Albedinski'schen Entwurfs unter Bezugnahme auf die ein- schlägigen Vorschriften des Privatrechts sachgemäß geregelt. Klagen wegen Überschwemmungen wird in der Regel die Be- Häuptling des Klägers zu Grunde liegen, daß der Beklagte auf seinem Grundstück etwas vorgenommen oder unterlassen habe, was er, sei es in Grundlage der Artikel 1047 — 1056 des Privatrechts, sei es in Folge eines auf das Grundstück corroborirten Vertrages zu unterlassen, beziehungsweise zu beobachten (Art. 1051) verpflichtet gewesen. Da nun eine derartige Verpflichtung immer auf eine Beschränkung der Eigen­ thumsrechte des Beklagten (Art. 979 des Privatrechts) hin­ ausläuft, ein sich über diese Verpflichtung entspinnender Rechts- streit aber offenbar als ein Rechtsstreit Über dingliche Rechte an Immobilien anzusehen ist, so ergiebt sich hieraus, daß die in Frage stehende Klage nach provinziellem Recht jedenfalls in den meisten Fällen bei den Collegialgerichten anzubringen sein wird, indem ja Klagen Über dingliche Rechte an Jmmo- bitten der Gerichtsbarkeit der Friedensrichter Überhaupt entzogen sein sollen. Handelt es sich dagegen in dem Rechtsstreit gar- nicht um ein dingliches Recht am Immobil, sondern einfach um eine persönliche Verbindlichkeit des Beklagten, indem z. B. behauptet wird, daß die Überschwemmung durch eine culpose oder dolose Handlung des Beklagten entstanden sei, so ist nicht 137 einzusehen, weshalb nach provinziellem Rechte der Rechtsstreit bei dem Richter des überschwemmten Orts verhandelt werden soll, denn der Umstand, daß der durch die Überschwemmung angerichtete Schaden nur am Ueberschwemmungsorte festgestellt werden kann, wird reichlich durch den Umstand aufgewogen, daß die Existenz der dolosen oder kulposen Handlung, welche die Überschwemmung herbeigeführt, doch nur mit Berückstch- tigung der Localverhältnisse des Orts ermittelt werden kann, wo der Beklagte gehandelt hat. Dazu kommt, daß nach der Theorie doch nur actiones in rem vor das forum rei sitae gehören, die Klage aber, um die es sich in dem zuletzt ge- dachten Falle handelt, eine actio in personam ist. Dieselben Gründe greifen in Bezug auf Klagen »wegen Ersatzes von Schäden und Verlusten an Immobilien" Platz — und glau­ ben wir daher die oben behauptete Unanwendbarkeit des gan- zen Artikels 34 des Friedensrichterprocesses ausreichend darge- than zu haben. Ein Gleiches glauben wir auch von den Artikeln 38 und 39 behaupten zu müssen. Dieselben verordnen wörtlich: (Art. 38.) „Eine vor den Friedensrichter gehörende Wider- „klage wird von demselben Richter verhandelt, bei „welchem die Hauptklage angebracht worden." (Art. 39.) „Wenn eine mit der Hauptklage unzertrennlich „verbundene Widerklage, ihrem Werthe nach, der „Gerichtsbarkeit der Friedensrichter nicht unterliegt, „so stellt der Richter die Verhandlung der Sache „bei sich ein und überläßt es den Parteien, die- „selbe bei dem Bezirksgerichte auszutragen." Zunächst können wir nicht unbemerkt lassen, daß in bei­ den Artikeln die Widerklage nicht der Klage oder Vorklage, sondern, offenbar in Folge mangelhafter Übersetzung, der Hauptklage entgegengesetzt ist. Sodann fragt sich, was unter der unzertrennlich mit der Vorklage verbundenen Widerklage, 138 von der im Art. 39 die Rede ist, verstanden sei. Soll damit eine Widerklage gemeint sein, deren Gegenstand mit dem Ge- genstande der Vorklage in so engem rechtlichen Zusammenhange steht, daß beide Klagen nur zusammen von einem und demsel- ben Richter verhandelt werden können, so hat der Art. 39 eine Connexität vor Augen, die sowohl der gemeinrechtlichen Doc- tritt, als auch dem provinziellen Rechte unbekannt ist; denn nach ihnen bewirkt (abgesehen von den hier nicht in Betracht kommenden Provokationen, Prinzipalinterventionen und Thei- lungsprocessen) die materielle Connexität durch selbständige Klage verfolgbarer Ansprüche und Gegenansprüche hinsichtlich der Competenz keine Aenderung, indem der Beklagte gemein- rechtlich, wenn er wider den Kläger eine mit dem Anspruch des letzteren materiell connexe Gegenforderung zu haben glaubt, diese nach seiner Wahl entweder mit einer Widerklage bei dem für die Vorklage zuständigen Richter, oder bei demjenigen Rich- ter geltend machen kann, welcher für jene Forderung in Grund- läge der allgemeinen Zuständigkeits-Regeln competent ist. Eben daher liegt in den Ostseeprovinzen kein Grund vor, auch den Kläger in dem im Art. 39 der Civilproceßordnung bezeichneten Falle mit der Durchführung seiner Klage an das Collegialge- richt zu verweisen, wie in diesem Artikel gewiß zur großen Belästigung des Klägers geschehen ist. Schrieb die Civilpro- ceßordnung aber der zwischen zwei oder mehr Klagen obwal- tenden Connexität einmal die Wirkung zu, daß diese Klagen unter allen Umständen nur zusammen und nur vor einem und demselben Richter zur Verhandlung kommen können, so hätte sie den von ihr aufgeführten Gerichtsständen auch das forum connexitatis hinzufügen müssen, denn es ist ja möglich, daß die Klageberechtigten ihre Klagen ohngeachtet der Connexität derselben bei verschiedenen Gerichten anhängig machen, ohne daß einer unter ihnen seinen Anspruch mittelst Widerklage ver- folgt. Obgleich uns hiernach bedünken will, daß der Civil- 139 _ proceßordnung der Vorwurf der Lückenhaftigkeit deshalb ge- macht werden könne, weil dieselbe über den Gerichtsstand der materiellen Connexität keine irgend ausreichenden Bestimmun- gen getroffen, so erscheint es uns auf der anderen Seite ganz in der Ordnung, daß der Albedinski'sche Entwurf das forum connexitatis nicht ausgenommen, denn das provinzielle Recht fordert in Übereinstimmung mit dem gemeinen Rechte keines- Wegs die Geltendmachung connexer Ansprüche vor einem und demselben Richter. Aus der Vergleichung des § 14 des Albe­ dinski'schen Entwurfs mit den Artikeln 38 und 226 der Civil­ proceßordnung ergiebt sich übrigens noch ein weiterer Grund sür die Unanwendbarkeit dieser Artikel auf die Ostseeprovinzen. Während nämlich die Civilproceßordnung die Widerklage ohne Rücksicht daraus zuläßt, ob die der Vorklage und der Wider- klage zu Grunde liegenden Ansprüche mit einander connex sind oder nicht, folgt das provinzielle Recht dem Grundsatz, daß der Kläger sich auf eine gegen ihn angebrachte Widerklage nur in dem Falle einlassen müsse, wenn zwischen seinem Anspruch und dem Gegenanspruch des Beklagten resp. Widerklägers Connexi- tät stattfindet und die Widerklage nach den Regeln der Provo- cation nicht ausgeschlossen erscheint. Der allegirte § ^ des Albedinski'schen Entwurfs geht nun zwar über die durch diesen Grundsatz gezogene Schranke insofern hinaus, als er die Wi- derklage auch ohne Rücksicht auf die Connexität des Gegenan- fpruchs gestattet, wenn aus demselben zugleich eine Einrede gegen die Vorklage begründet wird. Allein diese Abweichung von dem Bestehenden rechtfertigt sich aus der Erwägung, daß eine Widerklage, die zugleich eine Einrede begründet, zu einer gleichzeitigen Verhandlung ungleichartiger Ansprüche nicht füh- ren kann und somit von dem vernehmlichsten Einwände gegen die gleichzeitige Verhandlung nicht connexer Ansprüche und Gegenansprüche keineswegs getroffen wird. Dazu kommt ein Zweckmäßigkeitsgrund, zu dessen Veranschaulichung wir das 140 nachfolgende Beispiel wählen. A. belangt den B. aus dem Darlehn auf 50 Rbl., B. seinerseits hat gegen A. einen Mieth- zins von 80 Rbl. zn fordern. Nach Art. 3545 folg. des Pri- vatrechts kann B. seinen Gegenanspruch nur bis zu dem Be- laus von 50 Rbl. auf dem Wege der Compenfationseinrede geltend machen, müßte also, wenn ihm der Weg der Wider- klage abgeschnitten wäre, zur Erlangung des Forderungsrestes von 30 Rbl. gegen A. eine besondere Klage bei demjenigen Richter anstellen, vor welchem A. seinen allgemeinen Gerichts­ stand hat. Da nun aber der von A. angerufene Richter, in­ dem er über die Compenfationseinrede des B. urtheilt, zugleich implicite über einen Theil des Gegenanspruchs des B. ent- scheic et, so ist es gewiß zweckmäßig, ihm die Entscheidung über den ganzen Gegenanspruch zu überlassen, oder, mit anderen Worten, die Widerklage in diesem Falle ohngeachtet dessen zu gestatten, daß die Forderung aus dem Darlehn mit der Mieth- forderung keineswegs connex ist. Die nächstfolgenden Artikel 40 —43 der Civilproceßordnung bezeichnen die Gerichte, die im Fall von Competenzconflicten zuständig sind. Obgleich sich auch gegen diese Artikel vom Standpunkt des provinziellen Rechts schwer wiegende Einwen- düngen erheben lassen, so glauben wir doch eine Darlegung derselben uns aus dem Grunde ersparen zu können, weil uns bedünken will, daß einige andere Bestimmungen der Civil- proceßordnung die praktische Bedeutung jener Artikel aus ein sehr geringes Maß herabdrücken. Mit dem Art. 43 sind wir zu dem zweiten Hauptstück des Friedensrichterprocesses gelangt, welches über die Bevoll- mächtigten handelt, während das zweite Capitel des Albedinski- schen Entwurfs die Überschrift von den Parteien trägt. Diese Abweichung des Entwurfs von dem Friedensrichterproceß hat ihren Grund nicht in einer Verschiedenheit der hier und dort befolgten Systeme, sondern darin, daß man für gut befunden, 141 in den Friedensrichterproceß keine Bestimmungen über die gerichtliche Handlungsfähigkeit, über die Streitgenossenschaft, über die Haupt- und Nebeninterventation, über die Streit­ verkündigung und über die Benennung des Auctors aufzuneh- men. Da es in der That ganz undenkbar ist, daß man von der Ansicht ausgegangen, daß die sriedensrichterlichen Behörden von den Parteien mit Anträgen verschont werden würden, welche in das Bereich der aufgezählten Rechtsinstitute fallen, so müssen wir an der Hand des Art. 80 des Friedensrichter- processes annehmen, daß die friedensrichterlichen Behörden die Artikel 653 — 666 der allgemeinen Civilproceßordnung in subsidium zur Anwendung bringen sollen. Von der gerichtlichen Handlungsfähigkeit und der Streit- genossenfchaft ist freilich in den allegirten Artikeln nicht die Rede, doch darüber haben wir nicht hier, sondern in der zweiten Hälfte dieser Arbeit zu sprechen. Was zunächst die Artikel 653-661 betrifft, so handeln sie „von der Hinzuziehung eines Dritten zur Sache.- Es ist uns nicht gelungen, aus dem Inhalt dieser Artikel zu entneh- men, welches in der Wissenschast cultivirte Proceßinstitut sie zum Gegenstande haben und namentlich sind wir zweifelhaft, ob wir die Überschrift — Hinzuziehung eines Dritten zur Sache — als Adcitation oder als Streitverkündigung (Litisdenuncia- tion) zu deuten haben. Ist die Adcitation gemeint, so ist ein Institut gemeint, welches von der Wissenschaft nur sür den Concursproceß zugelassen wird, aus allen anderen Processen aber längst verbannt worden und auch in den Ostseeprovinzen nur für den Concursproceß Geltung hat. Ist dagegen die Streitverkündigung gemeint, wie Herr N. N. deutlich zu ver­ stehen giebt, so ist jedenfalls die im Albedinski'schen Entwurf in kurzen Zügen dargestellte Streitverkündigung etwas ganz anderes, als die Streitverkündigung der Civilproceßordnung. Nach den Artikeln 3215, 3224 und 3226 des Privatrechts steht 142 die Streitverkündigung, die gegenwärtig in den Ostseeprovinzen Geltung hat, im engsten Zusammenhange mit der Eviktion (EntWährung) und findet nur auf den engen Kreis der Rechts- streitigkeiten Anwendung, in denen eine Partei im Falle ihres Unterliegens von einem Dritten Gewährleistung zu fordern berechtigt ist. Während nun der § 28 des Albedinski'schen Entwurfs die Gränzen bezeichnet, innerhalb welcher die Streit- Verkündigung rechtliche Bedeutung hat und den Zweck derselben angiebt, lassen die Artikel 653 und 654 der Civilproceßordnung der Hinzuziehung dritter Personen zum Rechtsstreit einen, wie es scheint, nur durch die Willkühr der Parteien oder das Er- messen des Richters beschränkten Spielraum und beobachten über die Voraussetzungen und den Zweck der Hinzuziehung Stillschweigen. Während der § 28 des Entwurfs auch dem Denunciaten die Befngniß einräumt, von seiner Seite der- jenigen Person den Sreit zu verkündigen, gegen welche er einen Regreßanspruch zu haben meint, ist den Artikeln 653—661 der Civilproceßordnung eine derartige Bestimmung fremd. Wäh- rend der Entwurf die Streitverkündigung solange zuläßt, als es dem Denunciaten nach Lage der Sache noch möglich ist, dem Denuncianten wirksame Beihilfe zu leisten, schreibt die Civilproceßordnung vor, daß die Bitte um Hinzuziehung des Dritten spätestens im ersten Verhandlungstermin verlautbart werden müsse. Während die Civilproceßordnung vorschreibt, daß der Dritte, um dessen Hinzuziehung eine Partei gebeten, durch das Gericht zu einem bestimmten Tage vorzubescheiden sei, findet nach dem Entwurf eine richterliche Vorladung des Denunciaten überhaupt nicht statt, indem der Richter sich viel- mehr daraus beschränken muß, die Anträge des Denuncianten dem Denunciaten zu dessen Rechtswahrnehmung behändigen zu lassen. Während nach der Civilproceßordnung der Richter über den von der Gegenpartei wider die Hinzuziehung des Dritten erhobenen Widerspruch zu entscheiden hat, ist die Ge­ 143 genpartei nach dem Entwurf nicht einmal befugt, gegen die Streitverkündigung Widerspruch zu erheben. Aus dieser Ver- gleichung wird Herr N. N. vielleicht die Ueberzeugung schöpfen, daß zwischen der Streitverkündigung und der Zuziehung eines Dritten zum Rechtsstreit erhebliche Unterschiede bestehen. Den- noch wird er wahrscheinlich fragen: weshalb die Ostseeprovinzen des Instituts der Streitverkündigung bedürfen? und warum sie nicht mit der in der Civilproceßordnung normirten Zuzie- hung eines Dritten ausreichen können? Die Antwort drängt sich von selbst auf. Sie ist in den Artikeln 3224 und 3226 des Privatrechts enthalten. Da nämlich diese Artikel den Er- Werber einer Sache, sobald gegen ihn die Evictionsklage er- hoben ist, zur Aufforderung seines Auctors zur Theilnahme an dem Rechtsstreit, also zur Streitverkündigung, verpflichten und zugleich verordnen, daß der Erwerber, wenn er die recht- zeitige Aufforderung unterläßt, jeden ferneren Anspruch an den Gewährsmann verliert: so leuchtet ein, daß der provinzielle Civilproceß die Form der Streitverkündigung angeben und die proceßrechtlichen Folgen bestimmen muß, welche für die strei- tenden Theile eintreten, je nachdem der Dennnciat der Auffor- derung entspricht, oder es ausdrücklich oder stillschweigend ab- lehnt, an dem Processe Theil zu nehmen. Ob aber der pro- vinzielle Proceß die Bestimmungen der Artikel 652—661 der Civilproceßordnung zur Regelung der Streitverkündigung adop- tiren könne, hängt natürlich davon ab, ob diese Bestimmungen aus den Artikeln 3224 und 3226 in folgerichtiger Weife die- jenigen Konsequenzen ziehen, welche in proceßrechtlicher Hinsicht durch dieselben bedingt werden. Daß dieses jedoch nicht der Fall ist, läßt sich an den einzelnen Bestimmungen der Artikel 653—661 unschwer nachweisen. Die Civilproceßordnung schreibt die richterliche Vorladung des Denunciaten vor und widerstreitet schon dadurch den Anschanun- gen und Vorschriften des provinziellen Privatrechts. Weil nämlich 144 der Denunciat nicht gezwungen werden kann, dem Denuncian- teil Beistand zu leisten und weil der letztere seinen Regreßan- spruch an den ersteren einbüßt, wenn er es an einer rechtzei- tigen Streitverkündigung fehlen läßt, so ist es vom Standpunkt des Privatrechts der Ostseeprovinzen zweck- und sinnlos, den Denunciaten zum Erscheinen zu einem anberaumten Termin durch richterlichen Vorladungsbefehl vorzubescheiden; denn wozu soll eine Vorladung dienen, welcher Folge zu leisten der Denunciat nicht verbunden ist? Mit der bloßen Benachrichti- gung des Denunciaten, daß die Evictionsklage angestellt sei und daß er von dem Denuncianten zur Theilnahme an dem Rechtsstreit aufgefordert werde, wird den Interessen aller Be- theiligten offenbar schon volle Genüge geleistet, ohne den Rich- ter den Parteien gegenüber in eine schiefe Stellung zu bringen. Daß der Richter die Aufforderung an den Denunciaten über- mittelt, wie der Albedinskische Entwurf vorschreibt, macht die- selbe noch nicht zu einer gerichtlichen, Gehorsam erheischenden Vorladung, sondern hat nur den Zweck, die Thatsächlichkeit der Aufforderung außer Zweifel zu setzen. Ebendaher ist es auch durchaus sachgemäß, daß der Albedinski'sche Entwurf in dem Falle, wenn der Denunciat der Aufforderung nicht ent- spricht, den Erlaß einer Versäumungsversügung untersagt, wäh- rend die Civilproceßordnung eine solche zuzulassen scheint. Ein weiterer Widerspruch der Civilproceßordnung gegen das provinzielle Privatrecht liegt darin, daß dieselbe zwischen dem Kläger und dem Denuncianten einen durch richterliche Ent- scheidung zu erledigenden Dispüt über die Statthaftigkeit der Streitverkündigung ohngeachtet dessen zuläßt, daß die Streit- Verkündigung an und sür sich in keinem Falle eine Beeinträch- tigung der Gegenpartei des Denuncianten involvirt, indem eine solche dieser Gegenpartei doch höchstens erst dann erwachsen kann, wenn der Denunciat, in den Proceß eintretend, sich dem Denuncianten als Nebenintervenient anschließt und bestimmte 145 Proceßhandlungen vornimmt. Ueberdies würde die von der Civilproceßordnung vorgeschriebene richterliche Entscheidung über die Statthaftigkeit der Streitverkündiguug sür den De- nunciaten völlig wirkungslos sein, weil sie ihm gegenüber als actum inter alios erscheint und ein Rechtsverhältniß betrifft, Welches nicht zwischen dem Denuncianten und der Gegenpartei desselben, sondern zwischen dem elfteren, und dem nicht gehörten Denunciaten besteht. Während die Civilproceßordnung (Art. 658) die Parteien und den Richter inftruirt, wie fie die eben erwähnte Rechtsunmöglichkeit in Scene setzen sollen, beugt der Albedinski'sche Entwurf jedem Fehlgriff in der fraglichen Be- ziehung durch die Bestimmung vor, daß die Gegenpartei nicht befugt fei, gegen die Streitverkündigung Widerspruch zu erheben. Zu den rechtlichen Folgen, die eintreten sollen, wenn der vorgeladene Dritte nicht erscheint oder die Theilnahme ver- weigert, zählt die Civilproceßordnung (Art. 659) auch die, daß der Denundant die Besugniß erlange, das Gericht um Sicher- stellung seines Regresses an den geladenen Dritten zu bitten. Auch diese Bestimmung ist mit dem provinziellen Recht völlig unvereinbar, weil aus dem Wegbleiben des Denunciaten oder der ausdrücklichen Weigerung desselben, der Aufforderung zu entsprechen, nicht gefolgert werden darf, daß der Denunciat die Regreßanfprüche des Denuncianten in irgend einem Maße anerkenne, ein an den Vermögensstücken des Denunciaten an- zulegender Arrest aber voraussetzt, daß der Denunciant sein Forderungsrecht gegen den Denunciaten glaubhast macht und außerdem eine causa arresti nachweist. Dabei versteht sich von selbst, daß dem Denuncianten unbenommen bleibt, die Existenz seines Regreßanspruchs gegen den Denunciaten und das Vorhandensein einer causa arresti anderweitig glaubhaft zu machen und in Folge dessen bei dem Richter eine Arrest- Verfügung gegen den Denunciaten zu erwirken; allein diese Verfügung ist dann nicht Folge des Wegbleibens oder der 146 Weigerung des Denunciaten und ist, wenn die gesetzlichen Re- quistte des Arrestes zutreffen, auch in dem Falle statthaft, wenn der Denunciat der an ihn gerichteten Aufforderung entsprochen und dem Denuncianten sich als hilfeleistender Nebenintervenient angeschlossen hat. So unmöglich oder doch jedenfalls nichts- sagend hiernach die in dem Art. 659 der Civilproceßordnung enthaltene Bestimmung wegen Sicherstellung des Regreßa:^ spruchs des Denuncianten sür die Ostseeprovinzen ist, so er- Kärlich und zutreffend ist es aus der andern Seite, daß der Albedinski'sche Entwurf über die Folgen schweigt, die sich für die etwaigen Regreßansprüche des Denuncianten ergeben, wenn der Denunciat der an ihn ergangenen Aufforderung nicht ent- spricht; denn diese Folgen ergeben sich aus dem Art. 3226 des Privatrechts von selbst und bestehen darin, daß der hinterher mit der Regreßklage belangte Denunciat sich mit der Einrede nicht zu schützen vermag, daß er, wenn ihm Gelegenheit zur Assistenz gegeben worden wäre, die Verurtheilung des Denun­ cianten möglicher Weise hätte abwenden können. Was endlich die Bestimmung des Art. 660 betrifft, daß der Denunciat, wenn er sich zum Eintritt in den Proceß be­ quemt, an demselben in der Eigenschaft eines Sachbetheiligten Theil nehmen könne, so erscheint namentlich der Ausdruck „in der Eigenschaft eines Sachbetheiligten^ viel zu schwankend und allgemein, weil es mehrere von einander verschiedene Arten der Sachbetheiligung giebt und man nicht weiß, welche ge- meint sei. Der Albedinski'sche Entwurf hat den Fehler der Unbe- stimmtheit vermieden, indem er die Rechtsstellung des in den Proceß eintretenden Denunciaten fest umgränzt hat durch den Ausspruch, daß das Verhältniß des eintretenden Denunciaten nach den Grundsätzen der Nebenintervention zu beurtheilen sei, zu der wir nunmehr übergehen. Speciell über die Nebenintervention handelt die Eivil- 147 proceßordnung in dem Art. 663. Derselbe setzt fest, daß „ein „Dritter, dessen Interesse von der Entscheidung der Sache zu „Gunsten einer der Parteien abhängt, in jeder Lage der Sache „seinen Wunsch äußern könne, sich an derselben in Gemein- „schast mit dem Kläger oder dem Beklagten zu betheiligen. Herr N. N. behauptet, dieser Artikel stimme inhaltlich mit dem ersten Absatz des § y\>4g folg. des Albedinski'schen Entwurfs überein. Allein auch hier zeigt sich, daß die Fähig- keit des Unterscheidens Herrn N. N's starke Seite nicht ist; denn während der § 24 des Albedinski'schen Entwurfs dem Dritten, der an dem Ausgange des Rechtsstreits ein directes oder indirectes rechtliches Interesse hat, einfach ein Recht zur Intervention giebt, gesteht der Art. 663 der Civilproceßordnung diesem Dritten nur die Befugniß zu, einen Wunsch wegen Be- Heiligung an der Sache äußern zu dürfen; während der § 24 ferner die Zulassung des Jntervenienten zur Intervention nicht von einem vollständigen Nachweis des Interesse, sondern nur von einer Bescheinigung desselben abhängig macht, scheint der Art. 663 den Jntervenienten zur Aeußerung seiner Jnterven- tionsgelüste nur zuzulassen, nachdem er sein Interesse vollständig nachgewiesen; während der Albedinski'sche Entwurf endlich scharf betont, daß daß Interesse des Jntervenienten ein recht- liches sein müsse, schließt die Civilproceßordnung die Unter- stellnng nicht aus, daß das Interesse, von dem sie spricht, möglicher Weise auf bloßer persönlicher Zuneigung zu einem der streitenden Theile beruhen oder vielleicht in der Besorgniß wurzeln könne, durch den Ausgang des Processes in Hoffnun- gen getäuscht zu werden, denen zur Zeit eine rechtliche Grund- läge mangelt. Außer in dem Art. 663 handelt die Civilproceßordnung nur noch in den Art. 662 und 664 über die Nebenintervention oder doch über die Intervention im Allgemeinen. Da aber der Art. 662 nur Formelles enthält und sich nur aus das 148 Verfahren vor den Bezirksgerichten zu beziehen scheint und der Ark. 664 wiederum in das Kapitel über das Rechtsmittel- verfahren gehört, so macht Herr N. N. mit den der Civilpro- ceßordnuug gänzlich fremden Bestimmungen des Albedinski'schen Entwurfs über die Nebenintervention kurze Umstände, erklärt, daß sie als unnützer Ballast über Bord geworfen werden kön- nett und bemerkt mit Bezug auf den Schlußsatz des § des Entwurfs, daß es sich von selbst verstehe und durch den Art. 389 der allgemeinen Gerichtsorganisation bestätigt werde, daß der Nebenintervenient sich von der Partei, welcher er beige- treten ist, zur Führung des Rechtsstreites bevollmächtigen lassen könne. Die LaienhaMgkeit dieser Bemerkung ergiebt sich aus den ersten Blick, den man auf die angeblich selbstverständliche Bestimmung wirft. Wenn nämlich dieselbe besagt, daß „der „Nebenintervenient den Rechtsstreit mit Bewilligung der Haupt- «Partei, der er beigetreten ist, allein übernehmen könne, so daß „er zugleich das Interesse der Hauptpartei als deren Bevoll­ mächtigter zu vertreten Hobe"; so ist damit doch nur festge- stellt, daß der Jntervenient ohne einer förmlichen Voll­ macht zu bedürfen, den ganzen Proceß im eigenen Inter­ esse, wie im Interesse der fraglichen Hauptpartei durchführen könne, für letztere jedoch nur unter deren ausdrücklicher oder stillschweigender Einwilligung oder Ratihabition, welche ja deshalb noch nicht einem Vollmachtvertrage gleichgestellt wer­ den kann. Was aber die andere von Herrn N. N. als über­ flussig bezeichneten Bestimmungen anlangt, so werden wir später in einem anderen Zusammenhange darauf zurückkommen und beschränken uns daher hier nur auf die Bemerkung, daß jene Bestimmungen in dem wegen seiner angeblichen Ähnlich­ keit mit der russischen Civilproceßorduung von Herrn N. N. gepriesenen Entwurf einer Civilproceßorduung für den nord- deutschen Bund gleichfalls eine Stelle gefunden haben. Hinsichtlich der Hauptintervention behauptet Herr N. N., 149 daß die §§ und des Albedinski'schen Entwurfs zu den Artikeln 665 und 1002 der Civilproceßordnung nichts Neues brächten. Auch diese Behauptung ist einfach unwahr, denn: 1. soll der Hauptintervenient seine Klage nach dem Ent- Wurf immer gegen beide streitenden Theile anstellen, wäh- rend er sie nach der Civilproceßordnung auch nur gegen einen der streitenden Theile allein anstellen kann, was jedoch mit der Natur der Sache unvereinbar ist, indem der Hauptintervenient doch nur einen das Recht beider Parteien ganz oder theilweise ausschließenden Anspruch erheben muß, um als Hauptintervenient angesehen wer- den zu können. 2. fehlen in der Civilproceßordnung alle das Institut re- gelnden Bestimmungen des Entwurfs, namentlich, daß die Hauptintervention bei dem Richter erster Instanz auch dann anzutragen ist, wenn der Hauptproceß bereits in der Appellationsinstanz obschwebt, daß der Haupt- proceß bis zur Entscheidung über die Prinzipalintervention auf Antrag, wie von Amtswegen ausgesetzt werden kann, daß die Vollstreckung der in dem Hauptproceß ergangenen Entscheidung unter den im Entwurf angegebenen Vor- aussetzungen auszusetzen oder nur gegen Sicherheitsleistung anzuordnen sei ic. IC. 3. kommt der Art. 1092 der Civilproceßordnung hier gar- nicht in Betracht, da er nur die Anwendung der Regel des Art. 665 auf einen mieteten Fall enthält, ohne die- ser Regel etwas de lege ferenda hinzuzufügen. In Betreff der Streitverkündigung und der Haupt- und Nebenintervention war Herr N. N. so glücklich in der Civil- proceßordnung immerhin einige Bestimmungen zu finden, die ihm, ohngeachtet ihrer handgreiflichen Unzulänglichkeit wenig- stcns einigen Anhalt boten, Rechtsunkundigen gegenüber die dreiste Behauptung auszustellen, daß jene Rechtsbestimmungen Ii 150 Alles überflüssig machen, was über die zuletztbezeichneten Rechtsinstitute in dem Albedinski'schen Entwurf gesagt ist. In Ansehung der nominatio auctoris befindet er sich aber augenscheinlich in Verlegenheit, denn obschon er zu wieder- holten Malen hervorhebt, daß die Civilproceßordnung allen Pro- ceßinstituten eine wahrhaft reliefartige Ausprägung zu geben gewußt, so ist es doch Thatsache, daß die Civilproceßordnung in Bezug auf die laudatio auctoris jeden Versuch einer r.'lief- artigen Ausprägung fern geblieben ist. Allein da die Roth kein Gebot kennt und mithin auch über die Gebote der Logik frei verfügen kann, so entschließt sich Herr N. N. kurz und er­ klärt, daß in dem dritten Punkte des Art. 571 der Civilpro­ ceßordnung Hinweise auf die laudatio auctoris enthalten seien^ die dem praktischen Bedürfniß der Ostseeprovinzen vollkommen genügen würden. — Die angerufene Gesetzstelle lautet: Der Beklagte kann, ohne sich über das Wesen der Sache zu erklären, in nachstehenden Fällen Einreden vorschützen: 1. 2. 3. wenn die Forderung des Klägers in ihrem ganzen Um- fange aus einen anderen Beklagten bezogen werden muß. Wir wollen an dieser Stelle nicht besonders urgiren, daß die Einrede, von welcher hier gesprochen wird, überhaupt keine Einrede ist. Auch wollen wir daraus kein großes Gewicht legen, daß die Klagen, die nach dem § -jVn folg. des Albe- dinski'schen Entwurfs zur Benennung des Autors berechtigen, nie eine Forderung zum Gegenstande haben, mithin von dem Punkt 3 des Art. 571 der Civilproceßordnung überhaupt nicht getroffen werden. Wohl aber müssen wir Herrn N. N. aus den Jrrthum aufmerksam machen, den er dadurch begeht, daß er annimmt, daß der mit einer dinglichen Klage als Besitzer einer Sache belangte Beklagte dann, wenn er in fremdem Namen besitzt, nicht als der rechte Beklagte zu betrachten sei. Nach isi provinziellem Rechte ist gerade das Gegentheil der Fall, denn zu Folge des Art. 899 des Privatrechts können die Eigenthums- klage und jede andere in rem actio gegen jeden Inhaber der Sache, auch gegen einen solchen, welcher im fremden Na- men detinirt, gerichtet werden, also z. B. gegen den Depositar, den Commodatar, den Pächter, den Miether ic. Hiezu kommt, daß der Besitzer im fremden Namen in der Regel ein starkes Interesse an der Detention der Sache hat, so daß man nicht einmal vom Standpunkt des russischen Rechts sagen kann, daß die gegen den Besitzer angestellte Vindieationsklage im ganzen Umfange auf denjenigen bezogen werden müsse, in dessen Namen er besitzt. Bei so bewandter Sache ist der Punkt 3 des Art. 571 der Civilproceßordnung nicht allein nicht geeignet, in den Ostseeprovinzen dem practischen Bedürsniß zu genügen, sondern würde auch im Falle seiner Anwendung auf die no- minatio auctoris zu einem Widerspruch zwischen den Normen des Privatrechts einerseits und denjenigen des Processes an- dererseits führen, indem ja der Art. 899 den Vindicanten zur Anstellung seiner Klage gegen den Besitzer im fremden Namen anweist, während Art. 571 der Civilproceßordnung dem Richter gebietet, den Vindicanten, weil er jene Vorschriften befolgt hat, mit seiner Klage abzuweisen. Wenn aber Herr N. N. oder sonst Jemand fragen sollte, welches Recht denn die Ost- seeprovinzen daraus haben, daß die nominatio acutoris in dem provinziellen Civilproceß eine Stelle finden müsse, so ist eine ausreichende Antwort schon in dem bereits allegirten Artikel 899 des Privatrechts enthalten, welcher mit dem Passus schließt: „jedoch kann letzterer (nämlich der detentor) sich dadurch, „daß er denjenigen namhaft macht, in dessen Namen er „besitzt, von der Klage befreien." Daß es indeß mit der bloßen Namhaftmachung nicht ab- gethan ist, daß sich an die Namhaftmachung vielmehr ein be- li* 152 stimmtes procedere knüpfen müsse, welches unter gewissen Vor- aussetzungen zur Befreiung des Beklagten von der gegen ihn angestellten dinglichen Klage führen kann, leuchtet ebenso sehr von selbst ein, als daß das Privatrecht die Normirung dieses procedere der im Allerhöchsten Namentlichen Befehl vom 1. Juli 1845 den Ostseeprovinzen verheißenen besonderen Proceß- Ordnung vorbehalten hat. Eine Normirung dieses procedere ist in den §§ fzz==r£z des Albedinski'schen Entwurfs versucht, wie wenig aber Herr N. N. zu einem richtigen Verständniß der daselbst aufgestellten, durchweg dem gemeinen Proceßrecht entnommenen Gesetze gelangt ist, bekundet er in höchst uner- quicklicher Weise durch die Bemerkung, daß es »falsch" sei, gegen den Benannten in dem Falle, wenn er zur Verhandlung nicht erschienen, ein Versäumungsversahren nicht stattfinden zu lassen, denn wenn der Benannte auf gesetzlichem Wege von der gegen ihn erhobenen Klage benachrichtigt worden, so sei kein Grund vorhanden, gegen ihn ein Ungehorsamsverfahren auszuschließen. Dies lesend, konnte man sich veranlaßt sehen, Herrn N. N. zuzurufen: Paule, du rasest! Doch die An- nähme, daß Herr N. N. die §§ des baltischen Projects unge- Hort, d. h. ungelesen zu verurtheilen pflege, möchte vielleicht noch zutreffender sein. Herr N. N. weiß gewiß, daß die sich bloß auf die Leitung des Processes beziehenden richterlichen Decrete in LadungSdecrete (citationes) und Notificationsde- crete, ferner in monitorische und arctatorische eingetheilt wer- den. Da Herr N. N. selbst von einer auf gesetzlichem Wege erfolgten Benachrichtigung des Benannten spricht, so wird er nicht bestreiten, daß die an den Benannten gerichtete Auffor- derung fichjtur als Notificationsdecret auffassen lasse, daß der Benannte daher, wenn er der Aufforderung nicht Folge leistet, sich keineswegs des Ungehorsams gegen einen richterlichen Be- fehl schuldig mache, und folglich einem Ungehorfamsverfah- ren nicht unterliegen darf. Außerdem wird Herr N. N. sicher­ 153 lich mit uns darin einverstanden sein, daß jedes Ungehorsams- verfahren auf den Endzweck hinarbeitet, den Gegner der un- gehorsamen Partei zum Genuß seines Rechts gelangen zu lassen oder aber ihn entweder gegen den Verschlepp des Rechtsstreits zu schützen oder ihn von letzterem ganz zu befreien. Weil nun der Beklagte in dem Falle, wenn der Benannte der an ihn ergangenen Aufforderung nicht entspricht, nach § 32 des AlbedinSki'schen Entwurfs berechtigt ist, sich von der Klage dadurch zu befreien, daß er dem Kläger den Besitz des Klage- gegenständes überläßt, so leuchtet ein, daß ein Ungehorsams- verfahren gegen den ausgebliebenen Benannten zwecklos wäre. Eben daraus erklärt sich auch, weshalb an den Benannten blos eine Notifikation, nicht eine arctatorische Ladung ergeht. Wenn wir in unseren Erörterungen, wie bisher, dem Texte des Friedensrichterprocesses folgen wollten, so würden wir jetzt auf das von dem Bevollmächtigten handelnde tzaupt- stück (Art. 44—50) übergehen müssen. Weil uns aber scheint, daß gegen die Anwendbarkeit dieses und der daraus folgenden Hauptstücke auf die Ostseeprovinzen nicht weniger Gründe sprechen, als es rücksichtlich des ersten Hauptstücks der Fall war, — der specielle Nachweis der Unanwendbarkeit fast eines jeden Artikels aber auch dem geduldigsten und nachsichtigsten Leser Unmögliches zumnthen und uns zu einem Zeitaufwande nö- thigen würde, über den wir nicht verfügen können, — so wol- len wir, ehe und bevor wir zur Darlegung der Gründe der im Eingange bezeichneten zweiten Kategorie schreiten, uns auf eine kurze Beleuchtung nur noch einiger wenigen, besonders wichtigen Bestimmungen der Civilproceßordnung beschränken, dabei hoffend, daß die Unanwendbarkeit dieser mehr oder we- niger grundlegenden Bestimmungen einen Schluß auf die Un- anwendbarkeit auch der mit Stillschweigen übergangenen Be- stimmungen der Civilproceßordnung gestatte. 154 Wir wählen die Bestimmungen 1. über das Versäumungs-Urtheil, 2. über die Einreden, 3. über die Beweispflicht, 4. über die Beweisverfügung, 5. über den Beweis durch Eid, 6. über den Beweis durch Urkunden. Ad 1, Der Artik. 145 der Civilproceßordnung schreibt unter Anderem vor: „Wenn der Beklagte zur festgesetzten Frist nicht erscheint, «so fällt der Friedensrichter auf das Gesuch des Klägers »ein Versäumungserkenntniß." Was den Inhalt dieses Erkenntnisses anlangt, so sprechen die Artik. 146 und 148 der Civilproceßordnung aus, daß der Friedensrichter dem Kläger die von ihm bewiesenen Forde- rungen zuzusprechen habe, vorher jedoch »Anordnung treffen »könne über das Verhör derjenigen Zeugen, auf welche Bezug »genommen worden, über die Ortsbesichtigung oder die Ein- „ziehung des Gutsachtens von Sachverständigen, wenn er den »Thatumständen nach es für unumgänglich nothwendig erachtet." Den in den Ostseeprovinzen herrschenden Rechtsanschau- ungen gegenüber läßt sich in der That kaum ein modus pro- cedendi denken, der mehr als der eben angegebene geeignet wäre, dem Kläger die Realisirung seines Rechts zu erschweren, ja unter Umständen unmöglich zu machen, dem Beklagten aber, insbesondere wenn er von der Begründung der Klage überzeugt ist, eine Handhabe zum Verschlepp der Sache, wo nicht gar zur Vereitelung der Ansprüche seines Gegners darzubieten. Vor dem Friedensrichter erscheinend, um die Antwort des Be- klagten auf die angebrachte Klage zu vernehmen, weiß der Kläger noch nicht, ob und wie weit der Beklagte die der Klage zu Grunde liegende Geschichtserzählung in Abrede stellen werde, weiß mithin noch nicht, welche unter den verschiedenen, in ih­ 155 rem Zusammenhange das historische Klagefundament bildenden Thatsachen beweislich zu erhärten sein werden. Um also für den Fall des Ausbleibens des Beklagten gerüstet zu sein und den Anforderungen des Artik. 148 der Civilproceßordnung Ge­ nüge leisten zu können, muß der Kläger für jeden einzelnen zum historischen Klagefundament gehörigen Thatumstand ein gesetzlich zulässiges Beweismittel in Bereitschaft haben. Unter hundert Fällen wird neun und neunzig Mal die Lage des Klä- gers günstiger sein, wenn er den Beweis seiner Klage erst an- zutreten hat, nachdem der Beklagte genöthigt worden, sich über das historische Klagesundament zu erklären. Denn da die tägliche Erfahrung lehrt, daß sogar ein zum Lügen entschlösse- ner Beklagter, wenn ihm die Möglichkeit eines allgemeinen stillschweigenden Abläugnens genommen ist und er sich dem Richter und dem Kläger gegenüber über jede einzelne von dem letzteren behauptete erhebliche Thatsache bestimmt erklären muß, in der Regel einen mehr oder weniger beträchtlichen Theil jener Thatsachen als wahr zuzugeben pflegt, so wird die Be- weislast des Klägers sich am Schluß der ersten mündlichen Verhandlung in der Regel nur auf einen Theil des historischen Klagefundaments erstrecken, während sie sich aus das ganze, möglicher Weise aus vielen complicirten Umständen zusammen- gesetzte Klagesundament erstreckt, wenn von dem Kläger der Beweis seiner Klage auf Grundlage der Artik. 146 und 148 verlangt wird. Um den Kläger in diese schlimme Lage zu versetzen, wird gerade der sich schuldig wissende Beklagte in der ersten Tagfahrt ausbleiben. Angenommen aber, der Klä- ger könnte für jede zu seinem Klagesundament gehörige That- fache beim Ausbleiben des Beklagten ein Beweismittel ange- ben; angenommen ferner die Vernehmung der vom Kläger aufgegebenen, vielleicht an verschiedenen entfernten Orten wohn- haften Zeugen, die Vorlegung der vielleicht aus fernen Orten unter Ueberwindnng mancher Schwierigkeiten herbeizuholenden 156 Urkunden, die Vornahme von Ortsbestchtigungen und die Ein- ziehung von Gutachten würden schließlich zur Erhärtung des Klagefundaments und zur Verurtheilung des Beklagten süh- ren; — immer wäre der Kläger noch nicht am Ziele, weil dem Beklagten ja nach Artik. 154 der Civilproceßordnung das Recht des Einspruchs zur Seite steht, ohne daß es dabei irgend auf den Nachweis von Umständen ankommt, die den Beklagten an dem Erscheinen in der ersten Tagsahrt gehindert haben. Macht er von diesem Rechte rechtzeitigen Gebrauch, beseitigt er dadurch das ergangene Versäumungserkenntniß und räumt dann bei der ersten mündlichen Verhandlung der wiederausge- nommenen Sache alle Thatumstände, aus denen die Klage be- ruht, ein, schützt jedoch eine peremtorische Einrede, z. B. die Einrede der Verjährung, vor, so ist klar, daß die Beeidigung und Vernehmung der Zeugen, die Herbeischaffung der Urkunden, die Besichtigung an Ort und Stelle und die Einholung des Gutachtens der Sachverständigen völlig unnütz gewesen. Ein Gleiches ist sogar der Fall, wenn der Beklagte, ohne Einreden vorzuschützen, die Wahrheit des Klagefundaments in Abrede stellt. Denn da die Sache durch den erhobenen Einspruch in ihren ursprünglichen Stand zurückversetzt wird, so ist auch die erfolgte Beweisaufnahme nichtig und muß in der Weise wie- derholt werden, daß der Beklagte Gelegenheit findet, gegen die Zeugen zu exciziren, dieselben zu interrogiren, die vorgelegten Urkunden anzufechten, an der Besichtigung an Ort und Stelle Theil zu nehmen und bei Erwählung der Sachverständigen nach Art. 123 der Civilproceßordnung mitzuwirken. Wir haben bisher angenommen, daß der Kläger in der Lage sei, sich auf Beweismittel zu berufen, zu deren Gebrauch die Anwesenheit des Beklagten nicht schlechterdings nöthig ist. Wie aber wenn er sich in dieser Lage nicht befindet? Wie, wenn der Kläger in Ermangelung anderer Beweismittel zur Eidesdelation schreiten oder fich einer der Recognition durch 157 den Beklagten bedürfenden Privaturkunde bedienen will? In diesen beiden täglich vorkommenden Fällen haben die Art. 146 und 148 der Civilproceßordnung für den Kläger die Bedeutung, daß er einfach seines Anspruchs verlustig geht, wenn es dem Beklagten beliebt, der Ladung des Richters keine Folge zu lei- sten; denn da der Kläger in Abwesenheit des Beklagten von der Eidesdelation selbstverständlich keinen Gebrauch machen kann und die vom Kläger beigebrachte Privaturkunde, so lange sie nicht von dem Beklagten als ächt recognoscirt ist, in den Augen des Richters, ohngeachtet der freien Beweiswürdigung, der Beweiskraft ermangeln muß, so bleibt dem letzteren na- türlich nichts übrig, als den Kläger in beiden Fällen wegen mangelnden Beweises abzuweisen. Und weshalb ergaben sich wenigstens für die Ostseeproviuzen diese einer Justizverweige- rung nicht unähnlichen Consequenzen aus den mehrerwähnten Art. 146 und 148? BloS weil die Civilproceßordnung den im Provinzialrecht wurzelnden und daher auch in den Albe- dinski'schen Entwurf (§ -H» aufgenommenen Grundsatz, wo- nach der Richter dem ungehorsam ausbleibenden Beklagten gegenüber die im Klageantrage behaupteten Thatsachen als zugestanden fingiren soll, nicht zur Geltung gebracht. Herr N. N. freilich wird wahrscheinlich auch diesen Grundsatz den vielen überflüssigen Satzungen beizählen, die er in jenem Ent- Wurf entdeckt haben will; gleichwohl hoffen wir, daß er bei ruhiger Ueberlegung einsehen werde, daß das Versäumungser- kenntniß und der Einspruch recht eigentlich erst durch jenen Grundsatz festen Boden gewinnen, weshalb derselbe denn auch, so viel uns bekannt, in allen modernen Proceßordnungen deut- schen Ursprungs und namentlich auch in dem Entwurf des norddeutschen Bnndes gebührende Berücksichtigung gesunden. Daß aber alle Bestimmungen der Civilproceßordnung über das Versäumungsurteil und den Einspruch für die Ostseeprovinzen schon deshalb jeden Werth verliereu, weil die Civilproceßord- 158 nung das eben besprochene Princip Verläugnet hat, wird jeder, der der Wahrheit die Ehre geben will, ohne Weiteres einräu- men, und bemerken wir daher hier nur beiläufig, daß wir auf das Institut des Einspruchs aus dem Grunde jetzt nicht näher eingehen, weil rücksichtlich der Gestaltung desselben für die Ost- seeprpvinzen unter den Ständen der letztern Verhandlungen im Gange sind, die indeß keineswegs durch die, eine Beachtung nicht verdienenden Ausstellungen des Herrn N. N. veranlaßt worden sind. Ad 2. Welche Thatsachen zur Begründung eines Rechts­ anspruchs oder der dagegen erhobenen Vertheidigungsmittel ge- hören, kann natürlich nur nach dem Privatrechte beurtheilt werden. Eines der wichtigsten Vertheidigungsmittel ist die Einrede und versteht sich daher von selbst, daß von diesem Ver- theidigungsmittel sowohl in dem Privatrecht als in der Civil- proceßordnung eines Landes vielfach die Rede sein muß. Daß auch das Privatrecht der Ostseeprovinzen und der Älbedinski- sche Proceßentwnrs sich dieser Notwendigkeit nicht zu entziehen vermocht, beweisen schon die Artikel 694, 696, 3213, 3535, 3672, 3125, 3480 und 4517 des Privatrechts und die §§ &V und des Proceßentwurss zur Genüge. Obschon weder das Privatrecht, noch der Entwurf Bestimmungen über den Begriff der Einreden, deren Einteilung :c. ic. enthalten, so stehen sie doch in dieser Hinsicht mit einander vollständig im Einklänge, indem beide die gemeinrechtliche Doctrin über die Einreden als in den Ostseeprovinzen herrschend ansehen. Soll nun der reichsrechtliche Friedensrichterproceß auf die Ostseepro- vinzen Anwendung finden, so ist es gewiß eine der ersten Be- dingungen der Anwendbarkeit desselben, daß auch der Frie- densrichterproceß oder die Civilproceßordnung überhaupt hin- sichtlich der Einreden gleichfalls die gemeinrechtliche Doctrin adoptirt habe, denn wäre dies nicht der Fall, würden die Be- stimmungen, welche die Civilproceßordnung über die Einreden 159 enthält, von der gemeinrechtlichen Doctrin in wesentlichen Stücken abweichen, so würden sehr vielen und sehr wichtigen privatrechtlichen Bestimmungen diejenigen Voraussetzungen mangeln, von denen sie ausgegangen sind und ohne welche sie zu nichtssagenden oder gar irreleitenden Sätzen herabsinken müßten. Nachdem wir von den betreffenden Bestimmungen der Civilproceßordnung Kenntniß genommen, müssen wir gestehen, zu einem höchst unbefriedigenden Resultate gelangt zu sein. Bei der augenscheinlichen UnVollständigkeit des Friedens« richterprocesses halten wir uns gleich an die allgemeine Civil- proceßordmmg. Die zweite Abtheilung des 10. Hauptstücks derselben führt die Ueberschrist: Einreden (OTBOKM) und Er­ widerungen (BospaiKenifl), wobei wir gleich bemerken wollen, daß die uns vorliegende Übersetzung das Wort Bospaateme bald mit Einwendung, bald mit Erwiderung, bald mit Ent- gegnung wiedergiebt, so daß es, um Mißverständnissen vorzu- beugen, angemessen sein wird, in dem Nachfolgenden an der- jenigen Übersetzung des Worts Bospaaieme festzuhalten, die für die Ueberschrist des fraglichen Abschnitts gewählt worden ist. Der erste, der angegebenen Ueberschrist untergeordnete Artikel der Civilproceßordnung ist der Artik. 571. Derselbe bestimmt, daß der Beklagte, ohne sich über das Wesen der Sache zu erklären, in 5 Fällen Einreden vorschützen könne. Vier dieser Fälle, nämlich die unter den Ziffern 1, 2, 4 und 5 auf­ geführten, begründen Einreden im gemeinrechtlichen Sinne des Worts, nämlich die Einreden der Rechtsanhängigkeit, der man- gelnden Handlungsfähigkeit vor Gericht, der Jncompetenz und der Sicherstellung der Proceßkosten. Der fünfte, unter Ziffer 3 aufgeführte Fall ist derselbe, von dem schon oben bei der Benennung des Auctor die Rede war. Er setzt fest, daß der Beklagte die Einlassung aus das Wesen der Sache ablehnen könne, wenn er behauptet, daß die Forderung des Klägers in ihrem ganzen Umfange auf einen andern Beklagten bezogen 160 werden müsse. Um jetzt nachzuweisen, daß diese Behauptung, wie wir schon oben äußerten, überhaupt keine Einrede begründe, glauben wir davon ausgehen zu müssen, daß es bei einer jeden Klage wesentlich daraus ankomme, ob sie ihrer Geschichtser­ zählung nach wahr und ihrem Rechtsgrunde nach durch einen geltenden Rechtssatz gerechtfertigt sei. Nur die Frage nach dem Vorhandensein dieser beiden Momente kann der Art. 571 meinen, wenn er von dem Wesen der Sache spricht, denn eben von diesen Momenten hängt die richterliche Anerkennung des An- spruchs des Klägers im Allgemeinen ab. Ebenso bekannt und nicht weniger gewiß ist zugleich, daß zu der Geschichtserzählung auch die Angabe derjenigen Thatsachen oder factischen Verhältnisse gehört, aus welchen hervorgeht, daß der erhobene Anspruch dem Kläger gerade gegen den Beklagten erwachsen sei, denn sonst wäre der Anspruch nicht ein Anspruch gegen den Beklagten, sonst wäre dem correlaten Verhältniß zwischen Recht und Ver- Kindlichkeit nicht Rechnung getragen. Wenn nun der Beklagte behauptet, daß dem Kläger der eingeklagte Anspruch in dem ganzen Umfange desselben gegen einen Dritten zustehe, so spricht der Beklagte damit zweierlei aus, nämlich erstens, daß der Anspruch gegen ihn nicht begründet sei, und zweitens, daß der Anspruch gegen den Dritten allerdings begründet sei. In- soweit die Erklärung eine affirmative ist, gehört sie überhaupt nicht zur Sache, weil der Beklagte den Dritten nicht zu ver- treten hat; insoweit sie dagegen negativ lautet, ist sie eine das Wesen der Sache betreffende, weil sie entweder einen Theil der Geschichtserzählung oder den Rechtsgrund der Klage verneint. In jedem Falle erscheint sie also als negative litis contesta- tio und in keinem Falle als Einrede im gemeinrechtlichen Sinne des Wortes, denn eine der Klage in materieller Hin- ficht entgegengesetzte Einrede kann nur in einer neuen factischen Behauptung bestehen, welche das Recht des Klägers, selbst wenn das Klagefundament begründet wäre, als unwirksam oder 161 als aufgehoben oder doch entkräftet darstellt. Hiernach ist man zu der Annahme genöthigt, daß die Civilproceßordnung ent- weder die negative Litiscontestation zu den Einreden rechne oder mit dem Ausdruck „OTBOAM" überhaupt etwas Anderes bezeichne, als in der gemeinrechtlichen Doctrin mit dem Aus- druck »Einrede" bezeichnet wird. Für welche dieser beiden An- nahmen man sich entscheiden möge, immer zeigt sich, daß die Civilproceßorduung auch hinsichtlich der Einreden jdett Voraus­ setzungen des provinziellen Privatrechts nicht entspreche. Außer- dem bleibt unerklärlich, wie der Fall Ziffer 3 des Art. 571 zu einer abgesonderten Verhandlung über eine Vorfrage führen soll. Man setze beispielsweise den Fall: A. habe den B. aus Bezahlung einer Darlehnssorderung von 100 Rbl. belangt und B. habe erwidert, daß nicht er, sondern sein Bruder den Vertrag geschlossen und das Darlehn empfangen. Beweist A., daß er in der That mit B. contrahirt habe, so muß natürlich B., ohne daß es einer weiteren Verhandlung bedarf, zur Heim- zahlung der 100 Rbl. verurtheilt werden — und der Proceß ist nicht über eine Vorfrage, sondern über das Wesen der Sache zu Ende, denn nicht daß A. überhaupt von irgend Jemand die eingeklagten 100 Rbl. zu fordern hat, sondern daß ihm diese Forderung gerade gegen den B. zusteht, ist das Wesen des Rechtsstreits. Gelingt dem A. dagegen jener Beweis nicht, so muß A. mit seiner Klage abgewiesen werden — und der Pro­ ceß ist wieder seinem Wesen nach zu Ende. Nachdem die Civilproceßordnung in dem Art. 571 die Fälle proceßhindernder Einreden ausgezählt hat, handelt sie in den Art. 572—577, 585—588 theils von den Einreden (OT- BOflw) überhaupt, theils von einzelnen Einreden — und im Art. 589 von den Erwiderungen (BospaiKeuia). Artikel 572 lerntet: »Das Reckt der Einrede hat nicht nur der Beklagte, »sondern auch der Kläger in dem Falle, wenn die den 162 »Beklagten in der Eigenschaft eines Bevollmächtigten ver« „tretende Person dazu keine Vollmacht besitzt." In Betracht, daß es keinen Sinn hat, dem Kläger eine Einrede gegen den Beklagten wegen des Umstandes einzuräumen, daß er, der Beklagte, von einer nicht oder nicht gehörig bevoll­ mächtigten Person im Proceß vertreten wird, — können wir den Art. 572 nur dahin verstehen, daß der Kläger zwar in der Regel das Recht der Einrede nicht genieße, daß ihm dies Recht jedoch ausnahmsweise in dem Falle zustehen solle, wenn der Vertreter des Beklagten nicht ordnungsmäßig bevollmächtigt ist. Ist aber der Art. 572 wie geschehen zu deuten, so ist auch er unvereinbar mit der gemeinrechtlichen Doctrin, denn nach der letzteren ist das Recht, Einreden zu erheben, ebenso gut ein Recht des Beklagten, wie des Klägers, wie schon daraus ersichtlich, daß alle Repliken wirkliche Einreden des Klägers sind, indem der letztere durch Berufung auf die seiner Replik zu Grunde liegenden Thatsachen die Einrede des Beklagten zu entkräften und feinen aus die Verwerfung der Einreden ge- richteten Antrag zu begründen sucht. Die Civilproceßordnung erwähnt zwar in dem Art. 312 auch der Repliken und Dupliken, bedient sich jedoch dieser Ausdrücke nur in dem uneigentlichen Sinne des Wortes, wonach mit den Worten Replik und Duplik nur die zweiten Satzschriften des Klägers, beziehungsweise des Beklagten bezeichnet werden, ohne Rücksicht darauf, ob der Inhalt derselben sich als Einrede darstellt oder nicht. Eon- statirend, daß auch hierin eine Abweichung von der gemein- rechtlichen Doctrin enthalten ist, fassen wir den Art. 573 der Civilproceßorduung in's Auge, welcher vorschreibt, daß die Einreden durch Beweise oder durch Berufung auf solche unter- stützt werden müssen. Daß auch diese Vorschrift, wenn man sie unter den Maßstab der gemeinrechtlichen Doctrin und des provinziellen Privatrechts stellt, von den Ostseeprovinzen ab- gelehnt werden muß, ergiebt 'sich aus den Art. 3531, 3554, 163 3672 und 3677 des Privatrechts, weil dem Beklagten, wenn er die Einrede des nicht gezahlten oder des nicht empfangenen Geldes vorschützt, nach den bezogenen Artikeln keineswegs der Beweis obliegt, so daß er in diesen Fällen offenbar keinen Sinn hat, von dem Beklagten die Unterstützung seiner Einrede durch Beweis zu fordern. Wie übrigens die Vorschrift des Art. 573 auf den im Art. 572 angeführten Fall Anwendung finden soll, ist uns gleichfalls nicht einleuchtend, denn da doch nur dem Beklagten die Pflicht auferlegt werden kann, die ord- nungsmäßige Bevollmächtigung seines Vertreters nachzuweisen, so wird man zu der Frage veranlaßt: mit welchem Rechte von dem Kläger die Unterstützung seiner Einrede durch Beweis in einem Falle gefordert werde, in welchem ihm die Führung eines Beweises überhaupt nicht obliegt und ihm umsoweniger zugemuthet werden kann, als die Einrede des Klägers in dem Falle des Art. 572 ja blos aus der Behauptung beruht, daß der Beklagte die Erfüllung einer proceßrechtlichen Vorschrift verabsäumt habe. Die Art. 574—588 der Civilproceßordnung können mit Stillschweigen übergangen werden, da sie nichts enthalten, was über den Begriff der Einreden des russischen Rechts (OTBO^BI) aufklären könnte oder geeignet wäre, die Unvereinbarkeit zu beseitigen, die uns bisher bei Vergleichung der gemeinrechtlichen Doctrin mit den Art. 571 bis 573 der Civilproceßordnung entgegentrat. Der Art. 589 dagegen ist keineswegs so indiffe- renter Natur. Er schreibt vor, daß ein Beklagter, welcher be- hauptet, daß das Klagerecht selbst gar nicht derjenigen Person, welche die Klage erhoben, zustehe, oder daß es vor Erhebung der Klage durch Erfüllung der Verbindlichkeit, durch richterli- ches Erkenntniß, durch Vergleich oder durch Ablauf der Ver- jährungsfrist erloschen sei, nicht das Recht habe zu fordern, daß diese Erwiderungen (Bospaa-eHiH) vorläufig und abgesondert vor seiner Erklärung über das Wesen der Sache beprüst werden. 164 Wie uns bedünken will, möchte diese Bestimmung, ihrem Hauptgedanken nach, ziemlich überflüssig sein, weil die Be- hauptungen, welche den Beklagten von der Einlassung auf das Wesen der Sache befreien, schon in dem Art. 571 erschöpfend aufgeführt sind. Von besonderem Interesse ist dieser Artikel aber deshalb, weil er wenigstens einen Hinweis aus den Be- griff der Bospaateiria enthält, dessen Feststellung aus dem Grunde ganz unerläßlich wird, weil die Art. 81 und 366 der Civil- proceßordnung sowohl für das Verfahren vor den Friedens- richtern, als für das Verfahren vor den allgemeinen Gerichten vorschreiben, daß der Beklagte, welcher die Forderungen des Klägers bestreitet, zum Beweise seiner Erwiderungen (sospa- atema) verpflichtet sei. Nach der Fassung des Art. 589 muß man vermuthen, daß außer den angeführten Fällen noch an- bete vorhanden feien, die gleichfalls unter den Begriff der B03pa»emH fallen. Obgleich btefe Vermuthuug auch in ber Erwägung Unterstützung finbet, baß bie mögliche Beweispflicht bes Beklagten sich doch offenbar nicht auf die wenigen Fälle beschränken kann, deren der Art 589 erwähnt, so haben wir doch in der Civilproceßordnung nirgends einen festen Anhalt entdecken können zur Feststellung des Begriffs der Bospaatenia. Daß sie sich von den Einreden unterscheiden, folgt freilich schon aus der Ueberschrist des bezüglichen Abschnitts; worin aber die charakteristischen Unterscheidungsmerkmale bestehen und ob die BospaateHia vielleicht gar alle blos verneinenden Entgegnungen und rechtlichen Gegendeductionen in sich begreifen, — über alles das scheint uns die Civilproceßordnung keinen Aufschluß zu geben. Aber wie dem auch sei, immer ist soviel gewiß, daß die Erwiderungen sich jedenfalls nicht unter den gemeinrecht- lichen Begriff der Einreden bringen lassen, denn dies erhellt schon daraus, daß der Art. 589 ber Civilproceßorbnung auch bie Behauptung bes Beklagten, baß ber eingeklagte Anspruch nicht bem Kläger, sonbern einer britten Person zustehe, als 165 Erwiderung ansieht, während diese Behauptung sich doch aus den oben in Bezug auf den Art. 571 ausgeführten Gründen gleichfalls als negative Litiscontestation darstellt. Wenn nun die Civilproceßordnung, wie wir im Vorher­ gehenden dargethan zu haben glauben, hinsichtlich der Einreden Einteilungen und Unterscheidungen Raun: gegeben, die dem provinziellen Privatrecht und der gemeinrechtlichen Doctrin fremd sind; wenn der Begriff, den die Civilproceßordnung mit den Worten »Einreden und Erwiderungen" verbindet, überhaupt fester Gränzen zu ermangeln scheint; wenn ferner das, was die Civilproceßordnung über die Einreden und Erwiderungen aussagt, mit dem Wesen der gemeinrechtlichen Einreden fast durchweg in so schneidendem Widerspruch steht, daß eine Jdenti- ficirnng der letzteren mit den ersteren absolut unmöglich ist, — daß die Anwendung sehr zahlreicher, auf die Verteidigung im Procefse direct oder indirect einwirkender Bestimmungen des provinziellen Privatrechts nur möglich ist unter der Voraus- setzung, daß die gemeinrechtliche Theorie der Einreden Geltung habe und als Leitstern diene: so ist es, bei der hervorragenden Bedeutung, die den Einreden im Civilproceß gebührt, gewiß keine Übertreibung, wenn wir behaupten, daß die Anwendung der die Einreden anlangenden Bestimmungen der Civilproceß- ordnung in den Ostseeprovinzen gewissermaßen durch ein ana- tomisches und darum unüberwindliches Hinderniß unmöglich gemacht werde. Ad 3. Die Beweispflicht der Parteien ist von der Civil- proceßordnung in dem Art. 366 folgendermaßen normirt: »Der Kläger muß seine Klage beweisen. Der Beklagte, »welcher die Forderungen des Klägers bestreitet, ist sei- »nerseits verpflichtet, seine Erwiderungen zu beweisen." Gleich der erste Satz steht mit der in den Ostseeprovinzen herrschenden und von dem provinziellen Privatrecht vorausge- setzten gemeinrechtlichen Doctrin über die Beweislast in Wi- 12 166 derspruch. Nach dieser Doctrin sind bekanntlich nur Thatsachen, nicht die anzuwendenden Rechtssätze, Gegenstand des Beweises; Art« 366 der Civilproceßordnung fordert aber von dein Kläger auch den Nachweis des Rechtsgrundes der Klage, denn daß derselbe zur Klage gehöre, geht aus dem Punkt 5 des Art. 257 der Civilproceßordnung hervor. Nach dem Wortlaut des ersten Satzes des Art. 366 hat der Kläger alle zu dem factischen Fundament seiner Klage ge- hörigen Thatsachen zu beweisen, — und zwar ohne abwarten zu dürfen, ob und wie weit der Beklagte diese Thatsachen in Abrede stellen werde; denn unterläßt der Kläger es, Mit der Erhebung der Klage den Beweis des ganzen factischen Fun- daments derselben zu verbinden, so hat er nach den Art. 257 und 264 der Civilproceßordnung die Abweisung seiner Klage in dem Falle zu erwarten, wenn es dem Beklagten beliebt, in dem für die Hauptverhandlung anberaumten Termin ungehor- fam auszubleiben. Durchaus anders und unverkennbar richtiger ist die Be- weislast des Klägers von der gemeinrechtlichen Doctrin be- stimmt. Nach derselben hat der Kläger nur die für die Be­ gründung seines Klageanspruchs erheblichen, bestreitbaren, d. h. durch keine Rechtsvermuthung unterstützten und von dem Be- klagten in Wirklichkeit bestrittenen Thatsachen zu beweisen, denn während bei notorischen und den durch eine praesumtio juris et de jure gedeckten Thatsachen von einer Bestreitbarkeit und somit von einem Beweise überhaupt nicht die Rede sein kann, ist der Kläger natürlich des Nachweises solcher zu seinem Klage- sundament gehöriger Thatsachen überhoben, rücksichtlich welcher er sich auf eine nur durch Gegenbeweis zu entkräftende prae­ sumtio juris berufen kann. Was den zweiten, die Beweislast des Beklagten normi- renden Satz des Art. 366 betrifft, so ist er vor Allem ein neuer Beleg für die Unmöglichkeit, mit der Terminologie der Civil- 167 proeeßordnung den Anforderungen zu genügen, die das pro- vinzielle Privatrecht an eine provinzielle Proeeßordnung stellen muß. Unter Forderung versteht das provinzielle Privatrecht bekanntlich immer nur eine Obligation, also ein Recht, ver- möge dessen eine Person einer anderen Person zu einer Hand- lung verpflichtet ist, die einen Vermögenswerth hat. (Vergl. Art. 2907 des Privatrechts.) Wenn nun der Art. 366 ver- ordnet, daß der Beklagte, welcher die Forderungen des Klägers bestreitet, seinerseits verpflichtet sei, seine Erwiderungen zu be- weisen, so trifft er damit nur solche Klagen, die ein Forde- rungsrecht zum Gegenstande haben, läßt also die eine Beant- wortung nothwendig erheischende Frage offen, worin die Be- Weispflicht des Beklagten bestehe, falls es sich um eine dingliche Klage handelt, d. h. falls der Kläger ein dingliches Recht (j Iis in ve) geltend macht. Sollte das russische Recht die wichtigste aller Rechtseintheilungen, nämlich die Eintheilung der Rechte in dingliche und persönliche, nicht kennen oder keine Kunstausdrücke besitzen, um diese folgenschwerste aller Unter- scheidungen sprachlich hervortreten zu lassen? Noch mehr Ge- wicht möchte darauf zu legen sein, daß der Ausdruck „Erwi­ derungen" (wie wir bereits oben dargethan zu haben glauben) für die Parteien und Richter der Ostseeprovinzen entweder völlig dunkel bleiben oder von ihnen so gedeutet werden muß, als umfasse er neben einigen Einreden auch bloße Rechtsde- ductionen und bloße Verneinungen, also Dinge, die nach ge- meinem, wie provinziellem Recht mit der Beweislast des Be- klagten nichts zu schaffen haben. Herr N. N. liebt es sehr vom juristischen Bau zu spre- chen, wird aber, wenn er aufrichtig ist, zugestehen müssen, daß die Bestimmungen der Civilproceßordnung über die Beweislast ein zwar begonnenes, aber auf halbem Wege unterbrochenes Bauwerk darstellen; denn wenn die Civilproceßordnung es einmal überhaupt für uöthig erachtet über die Beweislast etwas 12* 168 zu bestimmen, so durste sie nicht über die Beweispflicht schweigen, die dem Kläger hinsichtlich seiner Repliken und dem Beklagten hinsichtlich seiner Dupliken obliegt. Mit anderen Worten, wenn die Civilproceßordnung es für nöthig fand auszusprechen, daß der Kläger seine Klage zu beweisen habe, so mußte sie auch aussprechen, wem unter den Parteien der Nachweis derjenigen Thatsachen obliege, auf die der Kläger sich b?ru?t, um eine von dem Beklagten vorgeschützte Einrede zu entkräften. Wenn die Civilproceßordnung ferner für nöthig erachtete, die den Be- klagten der Klage gegenüber treffende Beweislast zu normiren, so lag eine gleiche Notwendigkeit auch hinsichtlich derjenigen Thatsachen vor, aus welche der Beklagte sich beruft, um solche vom Kläger behauptete Thatsachen zu entkräften, aus welche der Kläger sich zur Beseitigung einer Einrede des Beklagten berufen hat. Die Art. 81 und 366 der Civilproceßordnung sind die einzigen, in welchen die letztere über die Beweislast handelt, und zwar im Art. 81 für das Verfahren vor den Frie- densrichtern und im Art. 366 für das Verfahren vor den Be- zirksgerichten. Gleichwohl lassen beide, mit einander überein- stimmende Artikel die Lücke offen, von der wir gesprochen haben, eine Lücke, die im provinziellen Proceß wegen des Instituts der Repliken und Dupliken nicht unausgefüllt bleiben dürfte und im Albedinski'fchen Entwurf ausweislich des § y3 r-ä desselben in der Weise ausgefüllt worden, daß dieser Paragraph die allgemeine Regel zur Beurtheilnng der Beweispflicht der Parteien angiebt. Die Artikel 81 und 366 der Civilproceß­ ordnung mit der gemeinrechtlichen Doctrin vergleichend, .wird Herr N. N. uns vielleicht darin beistimmen, daß es besser sei, über die Beweispflicht der Parteien gar keine Bestimmungen zu treffen, als die Beweispflicht so zu bestimmen, wie es in der Civilproceßordnung geschehen ist. Da Herr N. N. aber im Allgemeinen die Ansicht ausgesprochen, daß alle in dem Albedinski'schen Entwurf zum Ausdruck gebrachten materiellen • 169 Sätze einfach dem provinziellen Privatrecht entnommen seien, so wird er sicherlich die Meinung vertreten, daß die in dem § 92 des Entwurfs enthaltene allgemeine Regel über die Beweispflicht der Parteien überflüssig sei, weil in den Artikeln 64, 688 - 690, 693 , 694, 696, 704 — 706, 862 — 866, 900, 916—919, 1841, 2582, 2988, 3293, 3304, 3531 folg., 3672 folg. und 3700 folg. jene allgemeine Regel entbehrlich machende fpecielle Beweisregeln normirt seien. Es ist jedoch nicht schwer zu zeigen, daß gerade diese besondere Beweisregeln die Auf- nähme einer allgemeinen Beweisregel in den Entwurf noth- wendig machten. Der § 92 des Entwurfs setzt fest, daß 1. der Kläger die von dem Beklagten bestrittenen Thatsachen, welche zur Begründung des von ihm behaupteten Rechts im Allgemeinen erfordert werden, 2. der Beklagte dagegen diejenigen von dem Kläger be- strittenen Thatsachen, wodurch im einzelnen Falle die Entstehung jenes Rechts gehindert oder letzteres wieder aufgehoben oder entkräftet werden soll, zu beweisen habe, daß 3. jeder Partei in gleicher Weise der Beweis derjenigen Thatsachen obliege, welche den wesentlichen Grund ihrer ferneren Vertheidigungsmittel ausmachen — und daß 4. die Frage: welche Thatsachen zur Begründung eines Rechts oder eines Vertheidigungsmittel? gehören, nach den Bestimmungen des Privatrechts zu beurtheilen sei. Obgleich diese allgemeinen Beweisregeln der gemeinrecht« lichen Doctrin entsprechen, so würde man sich doch einer Illusion hingeben, wenn man der Ansicht wäre, daß sich die Beweis- Pflicht der Parteien an der Hand dieser Regeln in jedem denk- baren Falle ohne Schwierigkeit beurtheilen lasse. Erwägt man nämlich, daß der § 92 des Entwurfs die Beweispflicht der Parteien nicht beurtheilt wissen will nach allen factischen Bedingungen, die denkbarer Weise vorhanden 170 sein müssen, um das fragliche Recht oder Vertheidigungsmittel in concreto zu begründen, sondern daß er die Beweispflicht vielmehr nur nach denjenigen factischen Bedingungen bemißt, die erforderlich sind, um das fragliche Recht oder das betreffende Vertheidigungsmittel im Wesentlichen oder Allgemeinen, also seinem Begriffe nach, zu begründen, so ergiebt sich von selbst, daß die allgemeine Beweisregel des § 92 die Existenz einer Gränze voraussetze, gezogen zwischen den factischen Bedingungen, die ein Recht oder ein Vertheidigungsmittel seinem Begriffe nach begründen, — und solchen factischen Bedingungen, die außerdem vorhanden sein müssen, um dem Rechte oder Ver- theidigungsmittel in concreto wirksamen Erfolg zu sichern. So gehört z. B. zu der Wirksamkeit eines Kaufvertrages in concreto, daß die Kontrahenten über den Gegenstand des Kaufs und über ein pretium certum übereingekommen feien, daß sie mit persönlicher Dispositionsfähigkeit ausgerüstet ge- Wesen, daß dem Geschäft weder Zwang, noch Jrrthum, noch Betrng, noch Simulation, noch Scherz zu Grunde gelegen ic. ic. Daß in diesem Falle die Übereinstimmung der Parteien über den Kaufgegenstand und die Festsetzung eines pretinm certum schon durch den Begriff des Kaufvertrages geforderte Requisite seien und daher von demjenigen, der die Existenz des Kauf- gefchafts behauptet, bewiesen werden müssen, kann bei Beach- hing der allgemeinen Beweisregeln nicht zweifelhaft sein. Ebenso wenig möchte sich bei Zugrundelegung derselben be- streiten lassen, daß das Vorhandensein von Zwang, Jrrthum :c. ic. von derjenigen Partei zu beweisen sei, welche die Existenz eines wirksamen Kaufgeschäfts läugnet. Ob aber die persönliche Dispositionsfähigkeit zu den Requisiten eines Kaufgeschäfts dessen Begriffe nach gehöre und ob daher dieses Requisit von dem, der das Vorhandensein der Dispositionsfähigkeit behauptet, oder von dem, der das Vorhandensein derselben in Abrede zieht, zu beweisen sei, darüber können sogar unter Solchen, welche 171 in Bezug auf die allgemeinen Beweisregeln unter einander einverstanden sind, Meinungsverschiedenheiten obwalten. Wer die Mühe nicht scheut, auch nur die gewöhnlichsten Rechts- Verhältnisse näher in's Auge zu fassen, wird sich leicht überzeugen, daß eines Theils bei denselben im einzelnen Falle Thatnm- stände in Frage kommen können, die von den allgemeinen Be- weisregeln nicht oder doch nicht mit derjenigen Sicherheit be- herrscht werden, als es im Interesse einer einheitlichen Rechts- pflege wünschenswerth erscheint, — und daß anderen Theils die factischen Momente, die zur Begründung der verschiedenen Rechtsverhältnisse deren Begriffe nach gehören, sich unmöglich im Allgemeinen bestimmen lassen, sondern nur aus den privat- rechtlichen Vorschriften über die einzelnen Rechtsverhältnisse erkannt werden können. Obgleich nun das provinzielle Privat- recht die die einzelnen Rechtsverhältnisse ihrem Begriffe nach begründenden tatsächlichen Momente nicht überall soweit her­ vorgehoben hat, daß sich aus ihnen die Gränze, von der wir oben gesprochen, immer mit Sicherheit erkennen ließe, so hat es doch diejenigen in seinen Rechtsquellen enthaltenen Vor- schristen, die zur Bestimmung jener Gränzen wenigstens einigen Anhalt darbieten, theils in der Form besonderer Beweisvor- schristen, theils als rechtliche Vermuthungen ausgenommen und an die Vorschriften über die einzelnen Rechtsverhältnisse allgeknüpft, wie ans den bereits citirten Artikeln 64, 688—690, 693 , 694 ic. ic. und den Artikeln 13, 134, 165, 524, 708, 863, J 092, 2138, 2422, 2542, 2382, 2945, 2585, 2586, 3025, 3399, 3536, 3539, 3422, 3413 und 4295 des Privatrechts hervorgeht. Wenn Herr N. N. nichtsdestoweniger behauptet, daß diese Artikel des Privatrechts die allgemeine Beweisregel des § 92 des Albedinski'schen Entwurfs entbehrlich machen, so übersteht er eben das Verhältniß wechselseitiger Ergänzung, in welchem dieser Paragraph und jene Artikel zu einander stehen, so läßt 172 er unbeachtet, daß das Privatrecht nicht Beweisregeln, sondern nur an besondere Rechtsverhältnisse angeknüpfte Beweisvor- schristen für einzelne Rechtssälle enthält — und gerade dadurch den Entwurf einer provinziellen Proeeßordnung zur Aufstellung einer allgemeinen Beweisregel nöthigt, indem sonst den nur für einzelne ganz bestimmte Fälle berechneten Beweisvorschriften der Hintergrund einer allgemeinen Beweisregel mangeln würde, auf dem allein sie sich in ihrer Besonderheit abheben können. So wenig hiernach die allgemeine Beweisregel deS § 92 des Albedinski'schen Entwurfs in einer provinziellen Proceß- ordnung entbehrt werden kann, so wenig können auch die allgemeinen Beweisregeln der Art. 81 und 366 der Civil- proeeßordnung an die Stelle des § 92 des Entwurfs gesetzt werden, denn, wie oben ausführlich gezeigt wurde, unterscheiden sich die elfteren von dem letzteren in so wesentlichen Stücken, daß sie den engen Zusammenhang, in dem der § 92 des Entwurfs mit den allegirten, zahlreichen Artikeln des Privatrechts steht und sachgemäß stehen muß, durchbrechen und dadurch diese Artikel der Bedeutung berauben würden, aus welche es bei Aufnahme derselben in das Privatrecht abgesehen worden ist. Ad 4. Es ist bekanntlich viel darüber gestritten worden, ob der Richter nach dem Schluß der Hauptverhandlung eine Beweisverfügung erlassen soll, in welcher er die des Beweises bedürfenden Thatsachen einzeln und genau anzugeben und die Partei, welcher die Beweispflicht obliegt, zu bezeichnen hat. Ohne das große Gewicht der Gründe zu verkennen, die gegen den Erlaß der Beweisverfügungen in's Feld geführt zu werden pflegen, ohne insbesondere die Bedeutung des Einwandes zu unterschätzen, daß nicht der Richter, sondern das Gesetz den Parteien zu sagen habe, was zu beweisen sei und welcher Partei die Führung des Beweises zur Last falle, glauben wir doch aus Gründen der Nützlichkeit an der Überzeugung festhalten zu müssen, daß gerade in den, den Friedensrichtern zugewiesenen 173 Rechtssachen der Erlaß einer Beweisverfügung nicht entbehrt werden könne. Bei Berücksichtigung der Verhältnisse in den Ostseepro-- vinzen läßt sich nicht bestreiten, daß daselbst für Processe auf dem flachen Lande und in den kleinen Städten der Beistand rechtskundiger Sachwalter ausgeschlossen ist oder doch nur unter Aufwendung von Kosten erlangt werden kann, die in der That zu dem Werth des Streitgegenstandes um so mehr im Miß- verhältniß stehen werden, als bei der Mündlichkeit der Ver- Handlung von der Anwesenheit des bevollmächtigten Sachwalters an dem Orte, wo der Rechtsstreit verhandelt wird, nicht ab- gesehen werden darf. Wird hiernach die Führung der Rechts-- streitigkeiten vor den Friedensrichtern in der Regel den Parteien selbst oder den rechtsunkundigen Bevollmächtigten derselben zufallen, so kann auch als feststehend angesehen werden, daß die Parteien sich hinsichtlich des thema probandum überhaupt, wie über die die eine oder die andere Partei treffende Be- weislast regelmäßig im Jrrthum befinden werden, denn diese Annahme wird nicht allein durch die Erfahrung, die täglich bei der Führung von Processen durch Rechtsunkundige gemacht werden kann, sondern auch durch den Umstand gerechtfertigt, daß die Thatsachen, die zur Begründung eines Rechts oder eines Vertheidigungsmittels (vom direkten Gegenbeweise abge- sehen) gehören, nur aus dem Privatrecht erkannt werden können und daß die Beurtheilung der auf die einzelne Partei fallenden Beweislast neben der genauen Kenntniß des Privatrechts auch die Bekanntschaft mit den allgemeinen Beweisregeln und richtige Vorstellungen über den Begriff und das Wesen der Einreden voraussetzt, diese Voraussetzung jedoch bei rechtsunkundigen Laien selbstverständlich nicht zutrifft. Die Acten derjenigen Gerichte in den Ostseeprovinzen, in denen der Erlaß von Beweisverfügungen nicht üblich ist und die wegen der bei ihnen herrschenden Verhandlungsmaxime nicht in der Lage sind, die 174 Parteien in Betreff der relevanten Thatsachen und der Beweis- last auch ohne den förmlichen Erlaß einer Beweisverfügung zu instruiren, sind angefüllt mit den unerquicklichsten Nachweisen darüber, wie häufig es sich ereignet, daß rechtsunkundige Parteien ihre Beweisantretung theils auf völlig irrelevante, theils auf von der Gegenpartei zu erweisende Thatsachen richten, Jahre mit Herbeischaffung völlig unnützer Beweisthümer verbringen, den Nachweis solcher Thatsachen aber, deren Erhärtung ihnen zum Siege verholfen hätte, nicht einmal versuchen. Die rechtsunkundigen Parteien so ihren Jrrthümern preiszugeben, scheint uns mit der gegenwärtig überall hervortretenden Tendenz, dem materiellen Recht möglichst adäquate Entscheidungen her- beizuführen, völlig unvereinbar zu sein. Wie übrigens der der Beweisverbindung zugeschriebene Vortheil, nämlich daß die Parteien durch dieselbe genöthigt würden, ihre Behauptungen concret, wie sie dem Leben entsprechen, vorzulegen, ohne sich auf die unmittelbar relevanten Thatsachen zu beschränken, durch das Institut der Beweisverfügung ausgeschlossen werde, will uns nicht recht einleuchten, denn einmal pflegt die rechtsun- kundige Partei ihre Behauptungen immer nur concret, unter Verflechtung der irrelevanten mit den unmittelbar wie mittelbar relevanten Thatsachen vorzutragen; sodann ist dem Richter ja unbenommen, in der Beweisauflage auch auf die mittelbar relevanten Thatsachen Rücksicht zu nehmen, — und endlich hindert das Institut der Beweisverfügung die Parteien keines- Wegs in der ersten mündlichen Verhandlung mit der Erörterung der Sache die Beweisantretung zu verbinden, ohne daß sie deshalb des Rechts verlustig gehen, ihre Beweisantretung hinter- her auf Grundlage der Beweisverfügung ergänzen zu können. Die neueren Proceßordnungen Deutschlands haben sich zu der Beweisverfügung sehr verschieden gestellt. Die Hannö- versche und Sächsische Proceßordnung haben die Beweisver- fügung ausgenommen, die Baiernsche und Oestreichische haben 175 dieselbe gänzlich fallen lassen und der Entwurf einer Procep- Ordnung für den Norddeutschen Bund schreibt vor, daß jede Partei ihren Beweis in der Hauptverhandlung anzutreten habe und daß der Richter für den Fall, wenn eine Beweisausnahme erforderlich erscheine, verpflichtet sei, mittelst motivirten Be­ weisbescheides die Beweisaufnahme nur derjenigen streitigen Thatsachen anzuordnen, welche er für erheblich erachtet. Was die russische Civilproceßordnung anlangt, so verordnet sie im Art. 368: »Findet das Gericht nach Vernehmung der Parteien, daß „für einige, von ihnen angeführte, zur Entscheidung der „Sache wesentliche Umstände keine Beweise vorgestellt «worden, so eröffnet es solches den Parteien und be- «stimmt ihnen eine Frist zur Aufklärung der angeführten „Umstände." Das Verständniß dieses Artikels hängt offenbar von der Deutung ab, die man dem Ausdruck „zur Aufklärung" giebt. Soll mit demselben ausgesprochen sein, daß die Parteien in der anberaumten Frist die von ihnen bis zum Schluß der Hauptverhandlung nicht vorgestellten Beweise nachholen, also den Beweis in Bezug auf die vom Richter als relevant be- zeichneten Thatsachen antreten können, so würde die Civilpro- ceßordnung in Ansehung der Beweisverfügung mit dem Albe- dinski'fchen Entwurf im Wesentlichen übereinstimmen, da die Eröffnung, die der Richter den Parteien machen soll, doch nur so aufgefaßt werden könnte, daß er jeder Partei die von ihr noch zu beweifenden erheblichen Thatsachen zu bezeichnen habe, mithin gerade so, wie im Art. 93 des Albedinski'schen Ent- Wurfs. Hält man dagegen an dem Wortverstande des Aus- drucks „Aufklärung" (pas-LacHenie) fest und giebt demgemäß und weil die Civilproceßordnung sich sonst, wenn sie vom Be- weise spricht, des Wortes ^0Ka3aTeji.cTB0 bedient, der Annahme Raum, daß die Parteien die ihnen in dem Art. 368 gewährte 176 Frist wohl zur Verdeutlichung ihrer Vorträge und zur Beleuch- tung des ganzen Rechtshandels oder einzelner Punkte desselben benutzen dürfen, daß sie jedoch nicht befugt seien, in dieser Frist zur Erhärtung der noch der Feststellung bedürfenden Thatsachen geeignete Beweismittel anzugeben oder beizubringen, so vermißt sich offenbar der erforderliche logische Zusammenhang zwischen dem Vordersatz und dem Nachsatz des Art. 368, denn bloße Deduetionen und Erläuterungen können doch unmöglich den hinsichtlich solcher Thatsachen fehlenden Beweis ersetzen, die für die Entscheidung der Sache von wesentlichem Einfluß sind. Wozu die Parteien vor Erlaß des Endurtheils über die Mängel ihrer Beweisführung aufklären, ohne ihnen die Mög- lichkeit zu gewähren, diesen Mängeln abhelfen zu können? Welcher der beiden obigen Auffassungen des Art 368 der Civilproceßordnung man auch den Vorzug geben möge, immer dürste klar sein, daß dieser Artikel, wenn man den Ausdruck „KJIH pa3T>ffcneHiHa mit «zum Beweise" übersetzt, zwar im Wesentlichen dem § 93 des Albedinski'schen Entwurfs entspricht, jedoch von demselben durch größere Vollständigkeit und präcisere Fassung übertroffen wird, daß er aber für die Ostseeprovinzen lebensunfähig sei, wenn man a paa-Lacne- Hifl* mit «zur Aufklärung" übersetzt. Ad 5. In Betreff des Eides verordnet der Art. 115 des Friedensrichterprocesses in wörtlicher Übereinstimmung mit dem Art. 485 des allgemeinen Civilprocesses Folgendes: «Es ist den Parteien nicht verwehrt, nach gegenseitiger «Uebereinkunst den Friedensrichter zu bitten, die Sache «auf Grund des von einem von ihnen zu leistenden Eides «zu entscheiden; der Friedensrichter ist jedoch weder be- «fugt, die Parteien zur Ableistung eines Eides zu zwingen, «noch von sich aus dem Kläger oder dem Beklagten den «Eid vorzuschlagen." Bei Vergleichung dieser Artikel mit den §§ 139—151 177 des Albedinski'schen Entwurfs ergiebt sich sogleich, daß letzterer hinsichtlich des Instituts des Eides von der Civilproceßordnung völlig abweicht. Während der Albedinski'sche Entwurf in den 88 149, 150 und 151 von dem Ersüllungseide, von dem Schä- tzungseide und von dem Offenbarungseide handelt, beobachtet die Civilproceßordnung über diese Eidesarten völliges Still- schweigen. Auch der zugeschobene Eid ist von der Civuproceß- ordnung nicht recipirt, weil nach den Art. 115 und 485 der Civilproceßordnung die Parteien nur berechtigt sind, aus Ent- scheidung der Sache durch den Eid einer der Parteien zu conveniren. Verweigert eine Partei ihre Zustimmung, so kann von einem Austrage der Sache durch Eid nicht die Rede sein. Nach dem Albedinski'schen Entwurf dagegen steht jeder Partei das Recht zn (unter gewissen, in dem 8 148 angegebenen Voraussetzungen), zur Feststellung einer bestrittenen, für die Entscheidung der Sache erheblichen Thatsache der Gegenpartei den Eid zuzuschieben, welche ihrer Seits durch die Eidesdelation in die Lage kommt, rücksichtlich des zugeschobenen Eides eine Erklärung abgeben zu müssen darüber, ob sie den Eid annehmen oder zurückschieben oder das Gegentheil der aus Eid gestellten Thatsachen durch andere Beweismittel erhärten wolle, denn giebt sie keine dieser Erklärungen ab, so gilt der Eid für ver- weigert und wird angenommen, daß die Partei die Wahrheit der Thatsache, deren Unwahrheit sie beschwören sollte, zuge- standen habe. Wenn aber so zwischen den Bestimmungen des Albedin- ski'schen Entwurfs über den Eid und den bezüglichen Bestim- muugen der Civilproceßordnung nicht einmal eine äußere Ähnlichkeit besteht, so kann die doppelte Frage ausgeworfen werden, ob die fraglichen Bestimmungen jenes Entwurfs für die Rechtspflege in den Ostseeprovinzen nothwendig seien? — und ob und wie weit sie durch die Satzungen des Privatrechts bedingt oder im Voraus sanctionirt erscheinen? So gewiß 178 sich für die Bejahung der zuerst aufgeworfenen Frage triftige Gründe unschwer anfüh en lassen, so wird es für den Zweck, der hier verfolgt wird, doch genügen, sich auf eine kurze Er- örterung der zweiten Frage zu beschränken. Die Artikel 866 und 3532 des Privatrechts heben be- züglich einzelner Rechtsverhältnisse ausdrücklich hervor, daß dieselben durch alle gesetzlichen Bew eismittel dargethan werden können. Daß zu diesen auch der zugeschobene Eid gehöre, ergiebt sich aus verschiedenen Bestimmungen des Pri- vatrechts, z. B. aus den Art. 398 und 3678, von denen der erstere dem Vormunde die Befugniß zuerkennt, in den Ange- legenheiten seines Pupillen im Interesse und Namen desselben Eide zuzuschieben und zu schwören, während Art. 3678 des Privatrechts wieder ausspricht, daß die Verjährung des Rechtsmittels wegen nicht empfangenen Darlehns den Gegen- beweis nicht ausschließe, welcher jedoch nicht durch Eidesan- trag geführt werden dürfe. Wie hier aus dem Schlußsatz des Art. 3678 bei Anwendung der Paroemie: exceptio affirmat regulam hervorgeht, daß der Beweis durch Eidesantrag vom Privatrechte als ordnungsmäßiges Beweismittel angesehen werde, so wäre es nicht schwer noch andere Artikel des Pri- vatrechts in ähnlicher Weise auszunützen. Wenn man sich aber aus dem Allerhöchsten Namentlichen Befehl vom 1. Juli 1845 die Grundsätze vergegenwärtigt, die bei der Zusammenstellung des Privatrechts zur Siiichtfchmtr gedient haben, — und dem­ nächst aus den Acten der Gerichte der Ostseeprovinzen und den specifisch provinziellen Rechtsquellen derselben (z. B. aus den §§ 23 — 26 und 133 der Kurländischen Stat. de anno 1617, aus dem Punkt 3 des § 13 der Commissorialischen Decisionen vom Jahre 1717, aus den §§ 465 — 470 und 492 der Kur­ ländischen Bauer-Verordnung, aus § 28, 32 der Richterregeln, aus dem Mittl. Livländischen Ritterrecht c. 127, aus den Rigaschen Statuten II, 18, Art 1, folg., Art 14 folg., aus 179 dem Estländischen Ritter - und Landrecht I, 30, Art. 1 folg. und aus dem Lübischen Recht 1586 I, 7 § 3, V, 7 § 18 und V, 8) entnimmt, daß die gemeinrechtlichen Satzungen über den Eid, den zugeschobenen sowohl als den Schätzungs-, Offenbarungs-, Erfüllung«- und Reinigungseid in den Ostseeprovinzen frühzeitig recipirt worden und bis auf den heutigen Tag daselbst zur Anwendung gekommen sind, so wird man, ohne nach weiterer Begründung zu verlangen, nicht daran zweifeln, daß das pro- vinzielle Privatrecht die gemeinrechtlichen Satzungen über den Eid als in den Ostseeprovinzen geltend ansehe und voraussetze. Die Beseitigung dieser Satzungen würde nicht allein einzelnen Bestimmungen des Privatrechts (z. B. den Art. 398, 1631, 3456, 3457, 1841) den Boden unter den Füßen wegziehen, sondern würde auch gegen ein den größten Theil des Obliga­ tionenrechts beherrschendes Princip des Privatrechts verstoßen. Da nämlich das Privatrecht in den. Art. 2993, 2994 und 3131 anerkennt, daß die Gültigkeit und Klagbarkeit der Rechts- geschäste, von einzelnen im Gesetz bestimmten Ausnahmen ab- gesehen, an keine zu beobachtende äußere Form gebunden seien, sondern einfach von dem in irgend einer Weise geäußerten übereinstimmenden Willen der Contrahenten abhängen, so würde dieses Princip in seinem praktischen Einfluß aus das provin- zielle Rechtsleben offenbar in nicht geringem Maße abgeschwächt, ja in vielen Fällen dieses Einflusses ganz beraubt werden, wenn man den Eid aus der Zahl der Beweismittel streichen wollte; denn daß das Vorhandensein blos mündlich geäußerten Konsenses in sehr vielen Fällen, wenn überhaupt, so nur durch den Eid erwiesen werden kann, liegt zu sehr in der Natur der Sache, um näherer Begründung zu bedürfen. Die §§ 139 bis 155 des Albedinski'schen Entwurfs beschränken sich einfach daraus, die gemeinrechtlichen Satzungen über den Eid möglichst kurz und gemeinverständlich zusammenzufassen, leisten daher den betreffenden Voraussetzungen des Privatrechts Genüge 180 und können durch die Bestimmungen der Civilproceßordnung über den Eid nicht ersetzt werden, so lange man das Privat- recht vor Rissen bewahren will, die den ganzen Bau mit Ein- stürz bedrohen müßten. Ad 6. Der Friedensrichterproceß handelt in den Art. 105—III unter der Überschrift «schriftliche Beweise" über den Urkundenbeweis. Was zunächst den Art. 105 betrifft, so lautet er: »Urkunden aller Art, sowohl in festgesetzter Ordnung »ausgestellte und beglaubigte, als auch Privaturkunden, »desgleichen andere Papiere, werden vom Friedensrichter »bei der Entscheidung der Sache in Erwägung gezogen." Bei Vergleichung der Überschrift mit den Anfangsworten dieses Artikels zeigt stch sogleich, daß die Civilproceßordnung nur schriftliche Urkunden kennt, was übrigens mit dem weiteren Texte des Artikels, wie mit dem Umstände übereinstimmt, daß die Civilproceßordnung anderer als schriftlicher Urkunden nir- gends erwähnt. Schon hiedurch tritt die Civilproceßordnung mit dem provinziellen Recht in Widerspruch, denn letzteres kennt neben den schriftlichen auch nicht schriftliche Urkunden oder Denkmäler, wie Karten, Gränzzeichen, Wappen, Kerb- ftöcke )c. Bei Berücksichtigung des Art. 438 der Civilproceßordnung scheinen unter den »m festgesetzter Ordnung ausgestellten und beglaubigten Urkunden" solche Schriftstücke gemeint zu sein, die im Sinne des provinziellen Rechts als öffentliche Urkunden gelten. Da jedoch zu den öffentlichen Urkunden auch die unter öffentlicher Autorität hergestellten Denkmäler gehören, so ist klar, daß auch die Begriffe der öffentlichen Urkunden nach russischem Recht, KPIMOCTHLIE BKTM, und der öffentlichen Urkunden nach provinziellem Recht sich keineswegs decken. Völlig unverständlich für die mit den Terminologien des russischen Rechts unbekannten Bewohner der Ostseeprovinzen ist der Ausdruck »AomaiuHie aKTM," Derselbe ist zwar in unserer 181 Übersetzung mit dem Worte „Privaturkunden" wiedergegeben; weil aber der Art. 105 zwischen den ^oaiamnie BKTH (oder angeblichen Privaturkunden) und »anderen Papieren" unter- scheidet, während nach provinziellem Recht alle nicht öffentlichen Urkunden unter den Begriff der Privaturkunden fallen, so leuchtet ein, daß der Begriff der /toMarairie aKTM ein engerer sein müsse, als der Begriff der Privaturkunden, indem ja sonst nichts übrig bliebe, woraus der Begriff der „anderen Papiere" constituirt werden könnte. Der Begriff der letzteren mag sich vielleicht für Rechtsgebiete, in denen das russische Privatrecht gilt, von selbst ergeben. Nach dem Art. 438 der Civilproceß­ ordnung wenigstens muß mau annehmen, daß in den Civil- gesetzen die Begriffe der Kp'fcnocTHbie, HBomibie und AOMamme aKTbi angegeben seien und daß man daher alle Urkunden, die sich unter keinen dieser Begriffe bringen lassen, als „andere Papiere" anzusehen habe. Für die Ostseeprovinzen ist jedoch dieses Auskunftsmittel nickt anwendbar, weil in ihnen die Begriffe der Kp-tinoeTHme, HBO'mwe und jtOMarame aKTbi weder bekannt, noch in Geltung sind. Bei der aufgezeigten Verschiedenheit des Begriffs und der Eintheilung der Urkunden nach provinziellem Rechte einer Seits und nach russischem Rechte anderer Seits, und bei der Unbckannt- schast der Bewohner der Ostseeprovinzen mit den Terminologien des russischen Rechts scheint uns die Anwendbarkeit der den Urkundenbeweis betreffenden Rechtssätze der Civilproceßordnung auf diese Provinzen völlig ausgeschlossen zu sein. Zu einem gleichen Ergebniß gelangen wir indeß auch, wenn wir von dem Inhalte der übrigen über den Urkunden- beweis handelnden Art. 107 bis 111 Kenntniß nehmen. Wirb die Aechtheit einet Urkunde von dem Producten in Zweifel gezogen, so soll ber Richter nach Art. 107 der Civilpro­ ceßordnung sich von ber Aechtheit ober Unächtheit ber Urkunbe „burch Begleichung derselben mit anderen Urkun- 13 182 «den, durch Schriftvergleichung, so wie durch Zeugenverhör «überzeugen." Andere Beweismittel zur Feststellung der Aechtheit, ins- besondere die Befugniß der beweispflichtigen Partei, von dem Producten die Leistung des Disfessionseides sub poena recogniti fordern zu können, läßt die Civilproceßordnung nicht gelten und kann den Diffessionseid von ihrem Standpunkt nicht gelten lassen, weil sie die Verpflichtung einer Partei, sich auf den Eidesantrag der Gegenpartei einlassen zu müssen, überhaupt nicht anerkannt, sondern den Austrag der Sache durch Eid nur dann zuläßt, wenn beide Theile freiwillig übereingekommen sind, daß einer von denselben die Sache durch Leistung eines Eides entscheiden soll. Daß die Beseitigung der Statthaftigkeit des Disfessionseides, man möge letzteren als besondere Eides- art oder, wie in dem Albedinski'schen Entwurf geschehen, als zugeschobenen Eid ansehen, auf den Rechtsverkehr und die Rechtspflege in den Ostseeprovinzen von höchst nachtheiligem Einfluß wäre, kann nicht zweifelhaft sein, wenn man beachtet, daß in den Ostseeprovinzen über einen sehr beträchtlichen Theil der Rechtsgeschäfte bloße Privaturkunden Zustandekommen, daß der Eid in den meisten Fällen das einzig mögliche Mittel zur Feststellung der Aechtheit der Privaturkunden ist und daß gerade in dem Eide das wirksamste Mittel erblickt werden muß, den Producten von böswilligem oder leichtsinnigem Abläugnen der Authenticität der Unterschrift abzuschrecken. Aber selbst wer diese Gründe der Nützlichkeit nicht gelten läßt und die festen Wurzeln,- die das Institut der Urkundendiffesston in dem Rechtsleben der Ostseeprovinzen geschlagen hat, einem leicht zu durchreißenden Gespinnste gleichachtet, wird nicht zu bestreiten vermögen, daß die eidliche Diffession als ein integrirender Theil der gemeinrechtlichen Eidesinstitutionen erscheint, daß die Geltung dieser letztern, wie oben gezeigt wurde, von dem pro- vinziellen Privatrecht vorausgesetzt werde und daß somit die 183 Anwendung des die eidliche Diffesston ausschließenden Art. 107 der Civilproceßordnung unzulässig sei, weil sie das Privatrecht einer der Voraussetzungen berauben würde, von welcher es ausgegangen. Wir wenden uns dem Art. 108 der Civilproceßordnung zu. Derselbe verordnet: «Ein Zweifel über die Aechtheit einer Urkunde kann nicht «von derjenigen Person erhoben werden, in deren Namen «die Urkunde ausgestellt oder errichtet ist, wenn sie «von jener Person unterschrieben worden ist." Wenn wir aufrichtig sein sollen, so müssen wir gestehen, daß uns der Sinn und die Bedeutung dieses Artikels, der gleich anzugebenden Gründe wegen, unverständlich sind. Nach provinziellem Proceßrecht und nach der gemeinrechtlichen Doctrin wird bekanntlich zwischen der Aechtheit einer Urkunde (t>. i., daß sie wirklich von derjenigen Person, welche als Aussteller bezeichnet ist, herrühre) und der Aechtheit des Inhalts (d. i., daß der Inhalt wahr sei) unterschieden. Recognoscirt der Product die Unterschrist, so ist zwar die Aechtheit der Urkunde festgestellt und wird kraft bestehender Rechtsvermuthung (sub- scriptio tenet subscribentem) angenommen, daß der Unter- zeichnet sich auch den Inhalt der Urkunde zu eigen gemacht habe; allein da der Product diese Vermuthung entkräften kann, wenn er die Verfälschung des Inhalts nachweist oder darthut, daß mit einem Blanqnet Mißbrauch getrieben worden, so bleibt immer ein sehr bemerkenswerter Unterschied zwischen der Aechtheit einer Urkunde und der Aechtheit ihres Inhalts bestehen. Faßt man nun die Aechtheit, von der im Art. 108 der Civilproceßordnung die Rede ist, in dem eben beschriebenen gemeinrechtlichen Sinne auf, so läuft der Inhalt dieses Artikels auf den selbstverständlichen und darum nichts sagenden Satz hinaus, daß die Aechtheit ächter Urkunden nicht angestritten werden dürfe, denn da der Art. 108, wie aus dem Schlußsatz 13* 184 ersichtlich, als gewiß betrachtet, daß die fragliche Urkunde in Wirklichkeit von derjenigen Person unterschrieben sei, in deren Namen dieselbe ausgestellt oder errichtet worden, so setzt er die Aechtheit der Urkunde bereits als gewiß voraus und stellt sich mithin auf einen Standpunkt, der die Bestreitung der Aechtheit selbstverständlich unmöglich macht. Nimmt man da- gegen an, daß die Civilproceßordnung mit dem Worte Aecht­ heit der Urkunde (DOAJIHHHOCTL aimt) einen weiteren Begriff verbinde und mit demselben sowohl die Aechtheit der Urkunde als die Aechtheit ihres Inhalts bezeichne, so ordnet der Art. 108 augenscheinlich etwas Rechtswidriges an, denn er verbietet dem Producten die Anfechtung der Aechtheit des Inhalts trotzdem, daß der Art. 110 der Civilproceßordnung dem Pro- ducten den Beweis der Verfälschung des Inhalts offen läßt, also dem Producten die Bestreitung des Inhalts der Urkunde auch in dem Falle gestattet, wenn er eingeräumt hat, daß er die Urkunde unterzeichnet habe. Auch mit dem Artikel 109 der Civilproceßordnung wissen wir schlechterdings nichts anzufangen, denn während er die Erhebung von Zweifeln gegen die Aechtheit eines Kp-önocTuufi BKTT, kategorisch verbietet, läßt der Art. 457 der Civilproceß­ ordnung dem Producten ausdrücklich den Beweis der Unächt- heit auch der np-fenocTHBie aitT« offen. Dies geschieht freilich nur im Hinblick auf das Verfahren vor den Bezirksgerichten; allein da die Kp^nocTHMe aKTti, wenn sie ihrer Aechtheit nach überhaupt anfechtbar sind, doch auch in dem Verfahren vor den Friedensrichtern anfechtbar sein müssen, so wird der pro- vinzielle Friedensrichter dem Art. 109 der Civilproceßordnung voraussichtlich ebenso rathlos gegenüberstehen, wie dem Art. 108. Es ist möglich, daß der Ausdruck HOÄJIHHHOCTL AKTA ein Kunstausdruck des russischen Privatrechts ist, über dessen Sinn wir uns keine richtige Borstellung zu bilden vermögen. Sollte dies der Fall sein, so läge darin ein Beweis mehr für 185 die Richtigkeit der Behauptung, daß auch die Art. 108 und 109 für die Ostfeeprovinzen unanwendbar sind. Da wir einmal des Art. 457 der Civilproceßordnung Erwähnung gethan haben, so wollen wir auf den Inhalt des- selben näher eingehen. Er stellt unter Anderem ganz allgemein fest, daß den gerichtlichen, wie den notariellen Urkunden in dem Falle Beweiskraft mangele, wenn das in ihnen beurkundete Rechtsgeschäft seinem Wesen nach gesetzwidrig ist. Nach dem auf gemeinrechtlichen Vorstellungen beruhenden provinziellen Recht hat jedoch die Gesetzwidrigkeit des beurkundeten Rechtsgeschäfts mit der Beweiskraft der Urkunde nichts zu schaffen, denn jede Urkunde legt doch nur Zeugniß ab für das Vorhandensein einer Thatsache und besteht letztere in einem rechtswidrigen Geschäft, so bezeugt die Urkunde eben das Vorhandensein dieses Ge- schäfts, ermangelt also keineswegs der Beweiskraft. Auch gegen die Anwendbarkeit des Art. 110 der Civil­ proceßordnung aus die Ostseeprovinzen lassen sich namentlich vom Standpunkt des provinziellen Proceßrechts erhebliche Gründe vorbringen; allein wenn nach dem bisher Besprochenen überhaupt noch von einer Anwendbarkeit der den Urkundenbe- weis betreffenden Bestimmungen der Civilproceßordnung aus die Ostseeprovinzen die Rede sein könnte, so würde dieselbe jedenfalls schon dadurch ausgeschlossen erscheinen, daß die Civilproceßordnung über die Beweiskraft der dispositiven Ur- künden gegen dritte Personen ganz schweigt, und hinsichtlich der Verpflichtung zur Edition von Urkunden in den Art. 442 folg. Bestimmungen enthält, die mit dem provinziellen Rechte im principiellen Widerspruch stehen. Während nämlich die Art. 442 und 445 vorschreiben, daß jede Partei auf Verlangen ihres Gegners verpflichtet fei, die bei ihr befindlichen Docuiuente, welche zur Unterstützung des streitigen Sachverhältnisses dienen, dem Gericht vorzustellen, und daß »die an der Sache nicht »betheiligten Personen verbunden seien, die bei ihnen befind­ 186 glichen, die Sache unmittelbar betreffenden Documente auf „Verlangen eines der streitenden Theile in der Urschrift oder „in Abschriften vorzustellen", mit Ausnahme der Privatcorre- spondenzen und der Handelsbücher in den vom Gesetz bezeich- neten Fällen, — lassen in den Ostseeprovinzen bestehende pri- vatrechtliche Grundsätze eine Editionsverpflichtung der Gegen- Partei und ebenso eines an dem Rechtsstreit nicht betheiligten Dritten nur in den beiden Fällen gelten: 1. wenn dem Beweisführer das Eigenthum oder Miteigen- thum an der Urkunde zusteht und 2. wenn die Urkunde ihrem Inhalte nach eine gemeinschaft- liehe ist, d. h. im Interesse des Beweisführers und des Urkunden-Jnhabers errichtet worden, oder deren gegen- seitige Rechtsverhältnisse bekundet. Es wäre nns ein Leichtes, in Betreff der meisten der bisher noch nicht in Betracht gezogenen Artikel der Civilpro- ceßordnung in gleicher Weise darzuthun, daß auch sie für die Ostseeprovinzen unanwendbar erscheinen, sei es, weil sie dem codificirten provinziellen Privatrechte birect widersprechen, sei es, weil sie den Anforderungen nicht Genüge leisten, die das- selbe an den provinziellen Civilproceß stellt und in Anbetracht gewisser Rechtssätze stellen muß, sei es, daß sie sich in Termi- nologien bewegen, die dem russischen Rechte eigen, den Be­ wohnern der Ostseeprovinzen aber fremd sind, sei es endlich, daß sie mit dem Geist der provinziellen Rechtsinstitutionen und insbesondere mit den leitenden Principien derselben völlig un- vereinbar sind. Da wir aber die Artikel, die wir oben einer Beleuchtung unterworfen, nicht deshalb gewählt haben, weil ihre Unanwendbarkeit auf die Ostseeprovinzen vorzugsweise in die Augen springt, sondern jene Artikel vielmehr theils ihrer Reihenfolge nach, theils ihrer sachlichen Bedeutung wegen in nähere Betrachtung gezogen haben, dabei aber überall zu dem Ergebniß gelangt sind, daß ihre Anwendung auf die Ostsee- 187 Provinzen die Civilrechtspflege der letzteren in ein Labyrinth von Zweifeln und UnVerständlichkeiten banen und sie zugleich dem Conflict einander widersprechender Gesetzesbestimmungen Preis geben würde: so hoffen wir, daß jeder aufrichtige Mann, der zu erkennen vermag, daß die Theile eines organischen oder systematischen Ganzen sich gegenseitig mit innerer Nothwendig- keit bedingen, von dem Sprichwort „ex ungue leonem66 Ge­ hrauch machen und schon aus dem Erörterten die Ueberzeugung gewinnen werde, daß sich die in der Civilproceßordnung vor- findenden Vorschriften überhaupt nicht zur Anwendung auf die Ostseeprovinzen eignen. B. Gründe der zweiten Kategorie. Um darzuthun, daß die Anwendung der Civilproceßord- nung auf die Ostseeprovinzen unter Beseitigung des baltischen Projects ohngeachtet des Umstandes möglich, ja nothwendig sei, daß sich in dem baltischen Project eine sehr große Anzahl von Bestimmungen findet, die in der Civilproceßordnung des Reichs gänzlich fehlen, rückt Herr N. N. unter Bezugnahme auf Jhering's Schriften mit der nachfolgenden Argumentation in's Feld. Von den römischen Juristen werde das Recht und der Proceß zusammen behandelt, was nicht Wunder nehmen könne, da der Znsammenhang des Gerichtsverfahrens mit dem ma- teriellen Recht um so enger und unmittelbarer sei, je weiter man in die Vergangenheit zurückgehe, je weniger entwickelt das Recht selbst sei. Nach Maßgabe der Entwickelnng eines Volkes trenne das materielle Recht sich immer mehr und mehr ab und schließe sich in seine eigene Sphäre. Die materiellen Elemente des Processes würden allmälig niedergeschlagen, der Proceß reinige sich und gestalte sich als formelle Seite, bestehend aus bestimmten Formen processualifcher Handlungen des Gerichts, der Parteien und anderer Personen, Diese Formen gehörten 188 nicht zum Privat-, sondern zum öffentlichen Rechte und könnten nicht nur, sondern müßten im Staate gleichförmig sein, ohne jede Verletzung der örtlichen Besonderheiten des Rechts, denn der Staat habe zu seiner unmittelbaren Ausgabe die Herstellung einer gleichmäßigen und einartigen Rechtspflege in allen Oert- lichkeiten seines Territoriums. Da nun, fährt Herr N. N. weiter fort, das materielle Recht der baltischen Gouvernements ohngeachtet der in demselben vorfindlichen mittelalterlichen Überreste immerhin ein sehr entwickeltes sei, welches sich von selbst vom Processe abgesondert und sich in ein besonderes System gefügt habe, so sei die volle Möglichkeit vorhanden, auf diese Oertlichkeit die allgemeine Proceßordnung auszudeh­ nen, ohne die Besonderheiten des Rechts selbst zu berühren. Einen Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung lieferten die jetzigen deutschen Staaten, wo schon die Arbeiten zur Ab- fassung einer allgemeinen Civilproceßordnung begonnen haben, während das gemeinsame materielle Recht, d, i. das gemeine deutsche Privatrecht für die Juristen selbst nur als ein Ideal erscheine, dessen Verwirklichung noch einer fernen Zukunft über- lassen bleibe. Als ein weiteres Beispiel erscheine das baltische Project einer Civilproceßordnung selbst, da alle materiellen in dasselbe aufgenommenen Sätze einfach dem Privatrecht der Ostseepro- vinzen entnommen seien, folglich, solange die obligatorische Wirksamkeit dieses Gesetzbuches bestehe, als überflüssig betrachtet werden müßten. Für die Wahl der Beispiele, aus die sich Herr N. N. berufen, sind wir ihm in der That zu Dank verpflichtet, denn gerade diese Beispiele sind besonders geeignet, um aus ihnen die Unanwendbarkeit der Civilproceßordnung auf die Ostsee- Provinzen zu deduciren und zugleich aufzuzeigen, daß Herrn N. N'S Nnkenntniß auf dem Gebiete des Rechts nur von seiner Unkenntniß aus dem Gebiete der Geschichte übertreffen werde. 189 Wenn Herr N. N. sich auf die wissenschaftlichen Vorträge besinnt, die angehört zu haben er so oft versichert, so werden vielleicht folgende rechtsgeschichtliche Thatsachen in sein Ge- dächtniß zurückkehren, nämlich: 1. daß bis gegen das Jahr 1790 durch ganz Deutschland neben dem besonderen Rechte der einzelnen deutschen Länder und Districte das gemeine Recht (hervorgegangen aus allgemeinen deutschen Gewohnheiten, den Bestim- mungen der Reichsgesetze, dem Römischen und Canonischen Rechte und dem Longobardischen Lehnrechte) als Hülfs- recht galt und kraft landesherrlicher Bestimmung in allen denjenigen Beziehungen, in welchen jene besonderen Rechte keine Vorschriften enthielten, angewandt wurde, mithin kein in der Luft schwebendes Ideal, sondern positives, praktisches Hülssrecht war; 2. daß das gemeine Recht später zwar nicht im Allgemeinen, wohl aber in einzelnen Staaten Deutschlands, z. B. in Preußen durch Einführung des Allgemeinen Landrechts, in den östreichifchen Erbländern durch Einführung des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, in Baden, dem Großherzogthum Berg und den Ländern auf dem linken Rheinufer durch Einführung des Code Napoleon ic. ic. die Eigenschaft eines Hülfsrechts einbüßte; 3. daß es sich aber dennoch auch für diejenigen Theile Deutschlands, in denen es jetzt nicht mehr als Hülfsrecht gilt, insofern große Bedeutung bewahrt hat, als alle jene Codisicationen, den Code Napoleon nicht ausgenommen, zum größten Theil aus dem gemeinen Rechte geschöpft sind und ohne eingehende Kenntniß desselben gar nicht verstanden werden können. Würde sich Herr N. N. nun bequemen, mit diesen rechts« geschichtlichen Thatsachen sein oben referirtes Argument zusam- menzubalten, nach welchem für das Innere des Reichs und die 190 Ostseeprovinzen eine gemeinschaftliche Civilproceßordnung trotz der großen Verschiedenheit der beiderseitigen Privatrechte mög- lich sein müsse, weil die Erfahrung gelehrt habe, daß die Ver- schiedenheit der Privatrechte der einzelnen zum Norddeutschen Bunde gehörigen Staaten der Abfassung einer für alle diese Staaten gemeinsamen Civilproceßordnung nicht im Wege ge* standen; so würde er die gänzliche UnHaltbarkeit dieses Argu- ments sicherlich nicht verkennen, denn es ist eben nicht wahr, daß zwischen jenen Landrechten und bürgerlichen Gesetzbüchern der einzelnen deutschen Staaten eine das Mark der Sache be- rührende Verschiedenheit besteht. Die Abfassung des Entwurfs einer für den ganzen Norddeutschen Bund bestimmten Civil- proceßordnung wurde vielmehr nur dadurch möglich, daß die Privatrechte der einzelnen Bundesstaaten ohne Ausnahme auf der gemeinsamen Basis des gemeinen Rechts ruhen und daß unter ihnen namentlich hinsichtlich der leitenden Rechtsgrund- sätze und der Begriffsbestimmungen und Terminologien eine unbestreitbare Gemeinschaft besteht. Aus demselben Grunde läßt sich aus dem Proceßentwurf für den Norddeutschen Bund folgern, daß für die drei Ostseeprovinzen eine und dieselbe Proceßordnung möglich sei, da das gemeine Recht, wie für die einzelnen Staaten Deutschland'?, so auch für jede der drei Ostseeprovinzen die gemeinsame Grundlage bildet. Und wenn Herr N. N. auf die Verhältnisse der Wirklichkeit nur einige Rücksicht nimmt, so wird er zugestehen, daß es viel näher liegt, aus dem Vorhandensein des für den Norddeutschen Bund be- stimmten Entwurfs umgekehrt zu folgern, daß eine dem Innern des russischen Reichs und den Ostseeprovinzen gemeinsame Proceßordnung unmöglich sei, weil die bezüglichen Privat- rechte der beiden Rechtsgebiete weder in den leitenden Rechts- grundsätzen, noch in den Begriffsbestimmungen und Termino- logien mit einander übereinstimmen. Aber auch noch in einer anderen Hinsicht scheint Herr 191 N. N. in Betreff des Proceßentwurfs für den Norddeutschen Bund einer irrtümlichen Auffassung Raum zu geben. Ver- stehen wir ihn recht, so nimmt er an, daß jener Entwurf, unter Ausscheidung aller materiellen Elemente des Processes, sich auf eine systematische Darstellung der processualischen Handlungen des Gerichts, der Parteien und dritter Personen beschränkt und dadurch das Ideal verwirklicht habe, welches Herrn N. N. bezüglich der Abfassung von Proceßordnungen vorschwebt. Wäre diese Annahme eine richtige, so hätte der fragliche Entwurf einen Weg eingeschlagen, der völlig ver- schieden ist von dem Wege, dem die modernen Proceßordnungen Oestreichs, Bayerns, Sachsens, Hannovers und Badens, sowie der im Jahre 1866 vollendete Entwurf der deutschen Bundes- commission zu Hannover gefolgt sind. Dieser letztere Entwurf, so wie die eben genannten Proceßordnungen sind weit entfernt davon gewesen, das, was in dem gemeinen Civilproceß durch die Arbeit von Jahrhunderten auferbaut worden ist, als antiquirt bei Seite zu schieben und durchweg einen Neubau auszuführen; sie haben veilmehr an den Grundsätzen des gemeinen Civil- processes über das Verfahren, oder mit anderen Worten an denjenigen Satzungen des gemeinen Proceßrechts, die von der Form des Verfahrens unabhängig sind und bei jeder Form des Verfahrens ihre Bedeutung behalten, im Ganzen feftge- halten und eine durchgreifende Umgestaltung vornehmlich nur mit denjenigen Vorschriften des gemeinen Civilprocesses vor- genommen, welche den äußern Gang des Processes und die Formen der processnalischen Handlungen des Richters, der Parteien und dritter Personen zum Gegenstande haben. Der- selben Maxime ist der Proceßentwurf für den Norddeutschen Bund gefolgt, denn auch er hat diejenigen Satzungen des ge- meinen Civilprocesses, welche selbst bei Veränderung der ver- gänglichen Form des Processes für die Rechtspflege von her- vorragender Bedeutung sind, aufgenommen und als materielles 192 Proceßrecht zur Geltung gebracht, wie schon daraus erhellt, daß wenigstens £ der Paragraphen des fraglichen Entwurfs ganz oder zum Theil und sehr oft wörtlich aus dem Entwurf der deutschen Kommission zu Hannover geschöpft sind, also aus demselben Entwurf, welcher dem Baltischen Project im Allgemeinen zur Grundlage gedient hat und mit demselben in vielen Artikeln wörtlich übereinstimmt. WaS aber das Verhältniß des Baltischen Projects und des aus demselben auszugsweise entlehnten Albedinski'schen Entwurfs zu dem gemeinen Civilproceß betrifft, so bedauern wir in dieser Beziehung namentlich außerhalb der Ostseepro- vinzen so unklaren und oft so sachwidrigen Anschauungen begegnet zu sein, daß wir die nachfolgende Darlegung dieses Verhältnisses, selbst wenn provinzielle Juristen darin nur Selbstverständliches finden sollten, keineswegs für überflüssig erachten können. In dem Allerhöchsten Namentlichen Befehl vom 1. Juli 1845, erlassen bei Veröffentlichung der beiden ersten Theile des Provinzialrechts, ist den Ostseeprovinzen die nachstehende Kaiserliche Zusicherung zu Theil geworden: „Nach dem von Uns bestätigten Plane zerfällt die Samm- Jung der provinziellen Rechtsbestimmungen der Ostsee- „gonvernements Liv- Est- unb Curland in 5 Haupttheile: „im ersten sinb bie besonderen Verfassungen einiger Obrig- „feiten unb Behörden ber Gouvernementsverwaltung, im „zweiten bie Stänberechte, im britten bie Civilgesetze, im „vierten bie .Regeln bes Civilprocesses, im fünften bie „Regeln des Criminalprocesses enthalten." Als Gegenstand ber Cobification bezeichnet berselbe Be- fehl alle Rechtsbestimmungen, „welche im Ostseegebiete in „Grundlage ber von Unseren Vorfahren demselben verliehenen „und von Uns bestätigten Rechte gelten. * Endlich stellt der Befehl fest, daß durch die vorgefchrie- 193 bene Kodifikation «die Kraft und Geltung der im Ostsee- «gebiete bestehenden Gesetze nicht abgeändert, letztere vielmehr «nur in ein gleichförmiges Ganze und in ein System gebracht «werden sollen und daß in Beziehung aus die übrigen Theile «der Provinzialgesetze, d. h. auf die Civilgesetze, den Civil- «und Criminalproceß, bis zur Veröffentlichung der folgenden «Theile des Provinzialrechts die Verwaltung?- und Gerichts­ behörden, so wie Privatpersonen, — fortfahrend, sich nach «den geltenden Rechtsbestimmungen zu richten, — in der «Geschäftsverhandlung wie bisher auf die einzelnen Ver- «Ordnungen, Befehle und anderen Rechtsbestimmungen sich «zu berufen habend Daß dieser Befehl noch gegenwärtig für die noch nicht erschienenen Theile des Provinzialrechts d. i. für den Civil- und Criminalproceß maßgebend ist, ergiebt sich nicht allein aus dem Umstände, daß der nach den oben an- gegebenen Codificationsregeln ausgearbeitete dritte Theil des Provinzialrechts (Privatrecht) erst im Jahre 1864 emanirt wurde, sondern folgt auch daraus, daß der fragliche Befehl durch keine neuere ebenbürtige, oder richtiger, überhaupt durch gar keine Vorschrift außer Kraft gesetzt oder auch nur modi- ficht worden ist. Eben daher mußte die ständische^Commission, die im September des Jahres 1864 obrigkeitlich mit der Aus- arbeitung auch des Entwurfs einer Civilproceßordnung für die Ostseeprovinzen beauftragt wurde, sich auf den Standpunkt des mehrerwähnten Befehls stellen und die in ihm aufgestellten Codificationsregeln zur Richtschnur nehmen. Dieserhalb und weil der gemeine deutsche Civilproceß für die Ostseeprovinzen frühzeitig als Hülfsrecht recipirt worden (Vergl. Kapitulation der livländifchen Ritterschaft vom 4. Juli 1710 § 10, Land­ gerichtsordnung vom 1. Febr. 1632 § 29, Ritter- und Land- recht I. 15, 6; 32, 1. V. 48, 2, Privilegium Sigismund August's vom 28. Novbr. 1561 Art. 4 und überhaupt Bunge's 194 RechtSgeschichte § 66, 67, 96, 98) kann nicht zweifelhaft sein, daß die Baltische Justizcommission, genau genommen, ver- pflichtet war, sich bei Ausarbeitung des Proceßentwurss so; wie es bei Codification des Privatrechts geschehen war, auf eine systematische Verschmelzung der aus einheimischen Rechts- quellen stammenden Proceßgesetze mit denjenigen Satzungen des gemeinen Civilprocesses zu beschränken, die bisher als Ergänzung der ersteren in den Ostseeprovinzen in Kraft und Geltung waren und es noch sind. Um aber die Schranken einer bloßen Codification einzuhalten, hätte die Baltische Justizcommission ignoriren müssen, daß auch das Proceßrecht etwas Werdendes, etwas sich in der Zeit Veränderndes und Entwickelndes ist, daß seit dem Jahre 1845 in vielen Staaten Europa's neue, von den früheren in sehr wesentlichen Stücken abweichende Proceßordnungen entstanden waren und sich, wie das anerkanntermaßen ganz besonders mit der Hannoverschen Proceßordnung der Fall gewesen, bewährt hatten, daß ferner auch in Rußland das Fundamentalreglement vom 29. Sep­ tember 1862 emanirt worden war und daß dasselbe, obschon ihm für die Ostseeprovinzen nie verbindende Kraft beigelegt worden ist, doch nicht den mindesten Zweifel darüber übrig ließ, daß die Staatsregierung gewissen in den modernen Proceßordnungen zum Ausdruck gebrachten Principien des Verfahrens huldige und einem für die Ostseeprovinzen aus- gearbeiteten Entwurf die obrigkeitliche Sanction mit Recht ver- sagen werde, wenn er jene Principien verleugne. Bei der Unmöglichkeit, diese Sachbewandnisse unberücksichtigt zu lassen, mußte die Baltische Justizcommission sich die Frage vorlegen, in wie weit sie bei Entwerfung einer Civilproceßordnung für die Ostseeprovinzen das Bestehende zu codificiren und in wie weit sie dasselbe zu resormiren habe? Aus den modernen Proceßordnungen Deutschlands, wie auch aus dem Funda- mentalreglement und der russischen Civilproceßordnung erken­ 196 nend, daß die Fortschritte, die sich auf dem Gebiete des Civil- processes in neuerer Zeit Bahn gebrochen, vornehmlich in den Grundsätzen der Oeffentlichkeit, der Mündlichkeit, der möglich- sten Abkürzung der Fristen, dem Fragerechte des Richters, der freien Beweiswürdigung, der Beseitigung von Zwischen-Appel- lationen und der Auffassung der Appellationsinstanz als Judi­ cium novum wurzelten, gelangte die Baltische Justizcommisston bald zu der Ueberzeugung, daß sie von dem ihr in dem Aller- höchsten Befehle vom 1. Juli 1845 vorgezeichneten codisicatori- schen Standpunkt nur in soweit abweichen dürfe, als erforder- lich sei, um den eben angedeuteten Principien gerecht zu wer- den. Eine Reform auch derjenigen Satzungen des provinziel« len Proceßrechts, welche der Durchführung der oben aufgezähl- ten leitenden Grundsätze nicht im Wege stehen, konnte nicht allein dem Allerhöchsten Befehl vom 1. Juli 1845 gegenüber nicht gerechtfertigt werden, sondern schien auch sachlich völlig unmotivirt, da jene vorzugsweise aus materiellem Proceßrecht bestehenden, meist dem gemeinen Civilproceß Angehörigen Satzungen von der Wissenschaft vielfach geprüft und geläutert worden sind, sich in der Rechtspflege der Staaten Deutsch- land's wie auch der Ostseeprovinzen bewährt haben und daher in den modernen Proceßordnungen Deutschlands, wie in dem Proceßentwurf für den Norddeutschen Bund gebührende Berück- sichtigung gefunden haben. Hiemit sind wir zu einem Punkte gelangt, der recht eigentlich als der Schwerpunkt der principiellen Verschieden- heit angesehen werden kann, die das Baltische Project und mit demselben den Albedinski'schen Entwurf von der reichs- rechtlichen Civilproceßordnung in einer Weise trennt, daß eine Vereinigung, eine Zusammenschmelzung beider schlechthin uu- möglich ist, wie gleich durch Aufzeigung und Beleuchtung eines Theils des Stoffs, aus dem die Scheidewand gefügt ist, näher begründet werden soll. 196 Das Baltische Project enthält unter Anderem mehr oder weniger eingehende Bestimmungen: 1. über die gerichtliche Handlungsfähigkeit, 2. über den Gerichtsstand der geführten Verwaltung, 3. über den Gerichtsstand der Gewerbsniederlassung, 4. über den Gerichtsstand der Haupt- und Nebensache, 5. über den Gerichtsstand wegen unerlaubter Hand- hingen, 6. über den Gerichtsstand der Vereinbarung, 7. über den Gerichtsstand des Arrestes, 8. über das Verhältnis? der verschiedenen Gerichtsstände zu einander, 9. über die gegenseitige Rechtshülfe der Gerichte, 10. über die Streitgenossenschaft, 11. über die Benennung des Auctors, 12. über die Beweisantretung, 13. über den Beweis zum ewigen Gedächtniß, 14. über den Beweis durch Eid, 15. über den Executivproceß, 16. über den Wechselproceß, 17. über die Aufforderung zur Klage und Geltendmachung von Rechten wider einen bestimmten Gegner (provocatio ex lege diffamari et si contendat), 18. über die Aufforderung zur Klage und Geltendmachung von Rechten wider einen unbestimmten Gegner (Edictal- proceß), 19. über den Besitzproceß, 20. über den Handelsproceß und 21. über die Anschließung (Adhaesion). Die Civilproceßordnung kennt diese Institute entweder garnicht oder enthält doch nur rücksichtlich einiger unter ihnen für die Rechtsverhältnisse in den Ostseeprovinzen völlig un- genügende Bestimmungen. 197 Herr N. N. seinerseits behauptet zwar: der Gerichtsstand der Verwaltung werde durch den Art. 209 der Civilproceßordnung gedeckt; der Gerichtsstand der Gewerbsniederlassung falle nach den in der Civilproceßordnung enthaltenen Bestimmungen über den Gerichtsstand des Wohnorts mit demselben zusammen; der Gerichtsstand wegen unerlaubter Handlungen sei selbst- verständlich und daher überflüssig — und der Gerichtsstand des Arrestes sei in dem Art. 1092 der Civilproceßordnung vorgesehen. Allein da der Art. 209 der Civilproceßordnung nur über das forum contractus handelt und daher in diesem Zusammen- hange nur beweist, daß Herr N. N. zwischen dem Gerichts­ stande der Verwaltung und dem mit demselben in praxi allerdings oft zusammenfallenden Gerichtsstande des Erfüllung?- orts nicht zu unterscheiden weiß; da ferner der Einwand des Herrn N. N. gegen den Gerichtsstand der Gewerbsnieder- lassung ans dem Grunde unverständlich ist, weil bei diesem Gerichtsstande ja gerade vorausgesetzt wird, daß der Eigen- thümer der GewerbZniederlassung seinen Wohnsitz am Orte dieser letzteren nicht habe; da auch das forum commissi delicti mit keinem anderen Gerichtsstande zusammenfällt, indem es auf der Erwägung beruht, daß der Beweis einer unerlaub- ten Handlung am Orte der Vollziehung derselben am leichte- sten geführt werden könne und daß es außerdem unbillig wäre, den Geschädigten zu nöthigen, den Beklagten an dessen oft ent- ferntem Wohnsitze in Anspruch zu nehmen, — und da Herr N. N. endlich bei der Berufung auf den Art. 1092 dem Grund­ satz: kommst Du nicht willig, so brauch ich Gewalt — gefolgt zu sein scheint, indem dieser Artikel nur von einem ganz speciellen Fall spricht und dieser specielle Fall wieder mit bem forum arresti schlechterdings nichts zu thun hat: so bleibt 14 198 es dabei, daß die Civilproceßordnung die oben unter den Ziffern 1—21 aufgeführten Institute, deren Darstellung in dem Baltischen Project volle 163 Artikel füllt, gänzlich oder doch so gut wie gänzlich unberücksichtigt gelassen hat. Dazu kommt, daß sich außerdem in dem Baltischen Projeet und dem Albe- dinskischen Entwurf eine große Zahl einzelner proceßrechtlicher Bestimmungen findet, die in der Civilproceßordnung fehlen. Von einem Theil dieser Bestimmungen ist schon bei den Erörterungen über die Gerichtsstände, die Intervention, Streit- Verkündigung, die Einreden, den Beweis :c. die Rede gewesen. Eine erschöpfende Auszählung des Restes dieser Bestimmungen würde ein sehr langes Register füllen und beschränken wir uns daher hier aus die Anführung, daß die wichtigeren unter ihnen über folgende Gegenstände handeln: a. über die Statthaftigkeit allgemeiner Zugeständnisse und die Unstatthaftigkeit allgemeinen Ableugnens; b. über Erklärungen mit Nichtwissen; c. über die regelmäßigen Folgen der Unterlassung einer Proceßhandlung in der dazu anberaumten Tagfahrt oder innerhalb der dazu bestimmten Frist; d. über die proceßrechtlichen Folgen der Klageinsinuation und Litiscontestation; e. über den Zeitpunkt, bis zu welchem den Parteien gestat- tet ist, Einreden, Repliken und Dupliken vorzuschützen; f. über den Zeitpunkt, bis zu welchem den Parteien gestattet ist, Beweismittel beizubringen; g. über die Voraussetzungen, unter welchen angebotene Beweismittel gemeinschaftlich werden; h. über die Verbindung der Eideszuschiebung mit anderen Beweismitteln; i. über die Befugniß zur Zurückziehung eines angebotenen Beweismittels; 199 k. über das Recht zur Verweigerung des Zeugnisses oder des Eides; 1. über das außergerichtliche Geständniß; m. über die Anlegung eines Arrestes auch vor Einleitung des Rechtsstreits über den gefährdeten Anspruch; n. über die Statthaftigkeit der Oppugnation des Arrestes und das dabei zu beobachtende Verfahren; o. über die Befugniß der Parteien in der Berufungsinstanz neue Thatsachen und Beweismittel vorzubringen; p. über die Frage, ob in der Berusungsinstanz die VerHand« lung zur Hauptsache auf Grund einer vorgeschützten proceßhindernden Einrede abgelehnt werden könne; q. über die Folgen, die es für die Verhandlung in der Berufungsinstanz hat, wenn ein in der ersten Instanz auferlegter Eid geleistet, erlassen oder verweigert worden, — oder wenn eine Partei sich in der ersten Instanz über Zuschiebung oder Zurückschiebung eines Eides erklärt hat; r. über den Einfluß, den die Vorbringuug neuer Thatsachen und Vertheidigungsmittel in der Berufungsinstanz auf den Kostenpunkt ausübt; s. über die reformatio in pejus; t. über die Folgen des Ausbleibens des Appellanten, beziehungsweise des Appellaten in der zur mündlichen Verhandlung bestimmten Sitzung des Berufungsgerichts. Die durch ihre Zahl wie durch ihre processualische Be­ deutung so wichtigen Rechtssätze, welche die oben unter den Ziffern 1 — 21 und den Buchstaben a—t ausgezählten Rechts­ institute, beziehungsweise angedeuteten Fragen zum Gegenstände haben und viele andere, der Kürze wegen mit Stillschweigen übergangene Bestimmungen des Baltischen Projects wurzeln zum allergrößten Theil entweder in den einheimischen proceß­ rechtlichen Quellen der Ostseeprovinzen oder in dem in sub- sidium geltenden gemeinen Civilproceß, was sich durch Zu- 14* 200 sammenstellung eines Quellenregisters ohne Schwierigkeit ebenso veranschaulichen ließe, wie solches durch das dem provinziellen Privatrecht angehängte Quellenrcgister geschehen ist. Da nun diese Rechtssätze die Durchführung jener allgemeinen, die modernen Proceßordnungen charakterisirenden Principien der Oeffentlichkeit, Mündlichkeit ic. JC. weder ausschließen, noch beeinträchtigen, wie das diese Principien unverkürzt zur Gel- tung bringende Baltische Project beweist, so mußten eben jene in der Civilproceßordnung sehlenden Rechtssätze schon in Folge der Vorschriften des Allerhöchsten Befehls vom 1. Juli 1845 in das Baltische Project ausgenommen werden. Außer diesem allerdings für sich ausreichenden, jedoch immerhin formellen Grunde, war die Ausnahme der fraglichen Rechtssätze auch aus Gründen geboten, welche sich aus der Natur der Sache und aus den besonderen Rechtszuständen der Ostseeprovinzen herschrieben. Ehe und bevor wir aber zur Darlegung dieser Gründe schreiten, scheint es uns nöthig, erst einen Einwand zu widerlegen, den nicht allein Herr N. N. gegen das Baltische Project erhoben, sondern der uns auch in einigen Kreisen Petersburg's begegnet ist. Es wird nämlich in durchaus zuversichtlichem Tone behauptet, daß auf diejenigen Bestim- mungen des Baltischen Projects, die sich in der Civilproceß- ordnung nicht vorfinden, überhaupt nichts ankomme, weil sie 1. theils selbstverständlicher Natur seien und daher ohne Nachtheil für die Rechtspflege aus dem Entwurf gestrichen werden könnten; 2. theils rein theoretischer Natur seien und als solche wohl in ein Lehrbuch, nicht aber in eine Proceßordnung gehörten; 3. theils endlich bereits in bem provinziellen Privatrechte Berücksichtigung gefunben hätten unb baher in ber Pro- ceßorbnung entbehrlich seien. 201 Ad 1. Die Widerlegung des ersten dieser Gründe ist nicht leicht, weil die Frage nach der Selbstverständlichkeit je nach der Fassungsgabe und den Kenntnissen des Lesers oder Zuhörers sehr verschieden beantwortet werden kann. Was für einen Erwachsenen selbstverständlich ist, ist es deshalb nicht für einen Knaben, und was einem Manne von Fach durchaus selbstverständlich erscheint, darüber macht sich der Laie oft über- raschend verkehrte Vorstellungen. Es ist indeß gewiß, daß zu den angeblich selbstverständlichen Bestimmungen des Projects unmöglich diejenigen Bestimmungen desselben gezählt werden können, die in der Wissenschaft controvers sind oder auf einem in den Ostseeprovinzen geltenden positiven Proceßgesetze beru- hen. Da nun alle anderen in der Civilproceßordnung nicht vorfindlichen Bestimmungen des Baltischen Projects den mo- dernen Proceßordnungen oder Proceßentwürfen Deutschlands entnommen sind, so ist offenbar, daß der Vorwurf wegen Aus- nähme selbstverständlicher Bestimmungen an die Adresse der Deutschen Proceßordnnngen und besonders des Entwurfs der Bundescommission zu Hannover gerichtet ist, indem dieser Ent- wurf, wie bereits bemerkt, dem Baltischen Project Vorzugs- weise zur Grundlage gedient hat. Selbst wenn Herr N. N. und dessen Meinungsgenossen von dem Standpunkt, den sie einnehmen, in Betreff der von ihnen behaupteten Selbstverständlichkeit vieler Bestimmungen des Baltischen Projects Recht hätten, so müßten wir ihnen doch einen Jrrthum zum Vorwurf machen, nämlich den Irr- thum, daß sie aus übertriebener Bescheidenheit anderen Leuten so viel Einsicht zutrauen, als sie selbst besitzen, — und daß sie in Folge dieses Jrrthums zu der Annahme gelangt sind, daß das, was den Juristen im Innern des Reichs selbstverständlich erscheint, auch für die Deutschen Juristen und die von einem „Privilegium tenebrae" überschatteten Juristen der Ostsee- Provinzen selbstverständlich sein müsse. Daß letzteres jedoch 202 nicht der Fall sei, beweist das Baltische Project, beweisen die deutschen Proceßordnungen, und da jede Proceßordnung auf die Anschauungen der Bewohner des Landes, für welche sie gelten soll, Rücksicht nehmen muß, so folgt daraus weiter, daß die angeblich selbstverständlichen Bestimmungen des Baltischen Projects aus demselben nicht entfernt werden dürfen, weil sie dem Fassungsvermögen der Landesbewohner angepaßt sind. — Ohne aus eine erschöpfende Bezeichnung der Artikel des Baltischen Entwurfs einzugehen, die er für selbstverständlich ansieht, hat Herr N. N. unsere Neugier doch durch einige Pro- ben befriedigt. Vor Allem gehört dahin die schon oben erwähnte Behauptung des Herrn N. N., daß es völlig über- flüssig sei, in einer Proceßordnung die Existenz des Gerichts- standes der unerlaubten Handlungen zu constatiren, denn dieS Forum verstehe sich ganz von selbst. In der That eine Art der Selbstverständlichkeit, für die uns jedes Verständniß abgeht, da wir ohngeachtet der Autorität des Herrn N. N. uns zu der Ansicht bekennen müssen, daß das forum commissi delicti zu den besonderen Gerichtsständen gehöre und daß ein besonderer Gerichtsstand nur Geltung habe, wenn er durch ein bestimmtes, ausdrücklich lautendes Proceßgesetz vorgeschrieben wird, wie eben in dem § 49 ̂ . 0 des Albedinski'schen Entwurfs ge- schehen ist. Nicht weniger unhaltbar ist der Vorwurf der Selbstverständlichkeit, den Herr N. N. den Artikeln 200 und 204 des Baltischen Projects gemacht hat. Nachdem Art. 200 des Projects festgestellt hat, daß das Gericht die Höhe der zu leistenden Sicherheit, wenn dieselbe unter den Parteien streitig ist, zu bestimmen habe, spricht er im nächsten Alinea aus, daß ein besonderes Verfahren zur Ermittelung des sicher zu stellenden Betrages nicht stattfinde. Darauf bestimmt der Art. 203 des Projects, daß die Sicherheitsleistung durch gerichtliche Depo- fition einer baaren Summe, durch Hinterlegung eines Kasten- Pfandes, durch Bestellung einer Hypothek und durch Stellung 203 von Bürgen erfolgen könne. Mit Bezug hierauf besagt endlich Art. 204 des Projects, daß, wenn die Parteien sich nicht sofort darüber verständigen, in welcher Weise die zu leistende Sicherheit zu bestellen sei, hierüber weitere Verhandlung statt- zufinden habe. Nachdem Herr N. N. diese Artikel geprüft hat, erklärt er, daß der Art. 204, weil er schon in dem Art. 200 enthalten sei, als überflüssig betrachtet werden müsse und daß beide Artikel, »genau genommen", selbstverständlich seien, denn wenn keine «Zahlennorm" festgestellt werde, so verstehe sich das Recht des Gerichts von selbst, den Umfang der Sicherheit festzustellen. Man traut seinen Augen kaum, wenn man diese Bemerkungen liest, denn eine Congrnenz der Art. 200 und 204 des Projects wird schon dadurch ausgeschlossen, daß nach dem elfteren in einem bestimmten Falle ein besonderes Ver- fahren nicht stattfinden soll, während es nach dem Art. 204 in einem anderen Falle gerade stattfinden soll. Sollte der es «genau nehmende- Herr N. N. sich hiebet mit der Entschuldi­ gung trösten, daß er eben nur das kleine nichtssagende Wört- chen „nicht" übersehen habe, so fehlt es nicht an einem zwei- ten Beleg dafür, daß Herrn N. N's Genauigkeit der Ungenauig- keit zum Verwechseln ähnlich ist, denn während Herr N. N. annimmt, daß der Art. 204, wie es in dem Art. 200 alieiia 2 des Projects der Fall ist, über die Ermittelung des sicher zu stellenden Forderungsbetrages handele, ergiebt sich die Unrichtigkeit dieser Annahme aus dem Art. 204 selbst, welcher nicht von dem Betrage der sicher zu stellenden Forderung, son- dern darüber handelt, in welcher Weise die zu leistende Sicherheit zu bestellen sei, also ob durch Hinterlegung einer baaren Summe, oder Bestellung einer Hypothek oder in einer der anderen Formen, deren der Art. 203 gedenkt. Was hier­ nach von der Selbstverständlichkeit der beiden fraglichen Artikel zu halten fei, braucht um so weniger ausgesprochen zu werden, als im Obigen dargethan worden, daß Herr N. N. zu dem 204 Vorwurf der Selbstverständlichkeit nur gelangt ist, weil er stch hinsichtlich des Inhalts dieser Artikel in einem vielleicht durch die russische Uebersetzuug, jedenfalls aber nicht durch den deut- sehen Text verschuldeten Jrrthum befunden hat. Diese Proben dessen, was Herr N. N. selbstverständlich nennt, werden genügen, und wenden wir uns daher ad 2 dem Einwände zu, daß die Baltischen Entwürfe zur Aufnahme vieler blos theoretischer Sätze geschritten seien. Bevor wir zur Widerlegung dieses Einwandes schreiten, wollen wir erst festzustellen versuchen, was Herr N. X. meint, wenn er von theoretischen Sätzen spricht. Da er sich über den Begriff eines solchen Satzes nirgends ausgesprochen, so bleibt uns nichts übrig, als nur an denjenigen Bestimmungen des Albedinski'schen Entwurfs zu halten, die von Herrn N. N. als theoretische Sätze bezeichnet worden sind. Dahin gehören vor Allem die Bestimmungen des § 55ÜS8 des Albedinski'schen Entwurfs, lieber diese Bestimmungen läßt stch Herr N. N. folgendermaßen vernehmen. Dieselben stellen sich als theore­ tische Sätze über das forum prorogatum dar. So viel ihm, Herrn N. N,, bekannt, werde die das forum prorogatum be­ treffende Theorie auch in den russisd)en Nniversitätscursen über den Proceß entwickelt. Die ganze Abhandlung von Bayer oder Renaud über diesen Gegenstand in den Entwurf einer Proceßordnung hineinzuschreiben, sei aber völlig nnnöthig. Um zu veranschaulichen, wie treffend diese Bemerkung Herrn N. N's ist, wollen wir derselben die vorzüglich in Betracht kommenden Sätze des § 18 des Albedinski'schen Entwurfs wörtlich gegen- überstellen: a. Ein an sich unzuständiger Richter wird, ohne daß es der Zustimmung desselben bedarf, durch ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung der Parteien (Prorogation) zuständig. b. Als stillschweigende Vereinbarung ist es anzusehen, wenn 205 der Beklagte stch durch Antwort oder Einrede auf die Verhandlung einläßt, ohne einen Widerspruch gegen die Zuständigkeit des durch Anbringung der Klage gewählten Richters zu verlautbaren. c. Die Prorogation ist unzulässig: 1. wenn die Streitsache ausschließlich vor ein bestimmte? Gericht gewiesen ist oder dem Werthe des Streitge- genstandes nach die Zuständigkeit des Richters über- schreitet. 2. wenn dieselbe der Gattung nach der Gerichtsbarkeit des Richters entzogen ist, an welchen sie gerichtet wer- den sott. d. Die durch Prorogation begründete Zuständigkeit eines Gerichts kann in jeder Lage der Sache wieder aufgehoben werden, wenn beide Parteien übereinstimmend darauf antragen. Da allen diesen Sätzen ganz bestimmte Proceßgesetze, nämlich: dem Satz Lit. a. — lex 2. Dig. de jud. V, 1. und lex 15. Dig. de jurisdictione II, 1. dem Satz Lit. b. — c. 29 Cod. de pactis II, 3 und c. 4. Cod. de in jus vocat. dem Satz Life. c. — u. 5. X. 2. 1. u. c. 6 und 7 X. 2. 2. dem Satz Lit. d. — lex 18. Dig. de jurisd. II, 1. zum Grunde liegen, so kann man möglicher Weise der Anficht sein, daß auch diese aus dem römischen und canonischen Recht stammenden Sätze zu antiquiren seien; wie Jemand aber an- ders als auf dem Wege bedauerlicher Begriffsverwirrung zu der Behauptung gelangen kann, daß eben jene Sätze theoreti- fche Sätze seien, ist uns völlig unverständlich, indem dieselben als Bestimmungen des gemeinen Proceßrechts zum Hülssrecht der Ostseeprovinzen und eben daher zum positiven, gegenwärtig in Kraft und Geltung befindlichen Recht der letzteren gehören. 206 Sine gleiche Bewandniß findet hinfichtlich des Art. 69 des Baltischen Projects statt, welcher bestimmt, daß ein Richter wegen Besorgniß der Befangenheit abgelehnt werden könne und daß in diesem Falle die Ablehnung aus allen Gründen statthabe, welche geeignet find, Mißtrauen gegen die Unpartei- lichkeit des Richters zu rechtfertigen. Auch diese Bestimmung soll nach Anficht des Herrn N. N. eine blos theoretische sein und deshalb aus dem Entwurf einer Proceßordnung verbannt werden. Aber auch hier ist es gewiß, daß die fragliche Be- stimmung dem positiven Proceßrecht der Ostseeprovinzen ange- hört, denn sie beruht nicht allein auf gemeinrechtlichen Rechts- quellen (Frag. 9 princ. Dig. 40, 12, c. 36 X 2. 28, c. 18 X 2. 1.), sondern anch auf Rechtsquellen, die in den Ostsee- Provinzen selbst entstanden sind. Conf. Privileg. Sigism. Aug. v. 1561 Art. 18, Instructorium des curl. Proc. I, 5 § 3. Die eben beleuchtete Ansicht Herrn N. N's über den § 18 und den Art. 69 der Baltischen Entwürfe, so wie die Art und Weise, wie stch Herr X. N. über die §§ des Albedinski'schen Entwurfs ausgesprochen, hat uns, wenn auch mit Widersträuben, die Ueberzeugung ausgenöthigt, daß Herr N. N. und dessen Meinungsgenossen der sehr gewagten An- nähme Raum gegeben, als sei Alles, was fie in Bayer's oder Renaud's Lehrbüchern über den gemeinen Civilproceß vorge- sunden haben, nichts als Theorie, und zwar nichts als graue Theorie, die neben der reichsrechtlichen Civilproceßordnung immerhin ein kümmerliches Dasein fristen möge, zur Bereiche- rung der Bestimmungen derselben aber keinen Beitrag lie- fern dürfe. Einer solchen Anschauung gegenüber sehen wir uns in die unbehagliche Lage versetzt, auf Dinge hinweisen zu müssen, die mit gutem Grunde das Prädicat der Selbstverständlichkeit in Anspruch nehmen können. Da es sich aber bei der Aus- einandersetzung zwischen uns und Herrn N. N. überhaupt fast 207 nur um Selbstverständliches oder doch jedenfalls um eine ver­ schiedene Auffassung dessen, das selbstverständlich sei, handelt, so erlauben wir uns daran zu erinnern, daß sich in Lehr- büchern über den gemeinen Civilproceß zwischen dem in Er- örterung gezogenen positiven Rechtsstoff und der theoretischen Behandlung und Gestaltung desselben unterscheiden lasse. Der positive Rechtsstoff besteht in der Summe derjenigen pro- ceßrechtlichen Sätze, die, theils dem römischen und canonischen Rechte angehörend, theils auf deutschen Reichsgesetzen beruhend, theils in gehörig beglaubigtem Gewohnheitsrechte wurzelnd, in ihrer Zusammenfassung den gemeinen deutschen Civilproceß bilden. In jenen Lehrbüchern ist es dagegen Sache der Theorie, die Existenz dieser proceßrechtlichen Sätze aus ihren Quellen nachzuweisen, dieselben unter Benutzung ihrer Entstehungsge- schichte, so wie unter Anwendung grammatischer und logischer Interpretation ihrem wahren Sinne nach zu erläutern, die Wechselbeziehungen, die unter thnett bestehen, aufzuzeigen, sie unter allgemeine Begriffe zu bringen und sie dergestalt zu gruppiren und mit einander zu verknüpfen, daß ste ein abge­ schlossenes, in stch gegliedertes System darstellen. Wie nun! Haben das Baltische Project und der Albe- dinski'sche Entwurf stch etwa auf historische Nachweisungen, oder auf Definitionen, oder aus dogmatische Erläuterungen, oder auf vergleichende Gegenüberstellungen, oder auf belehrende Analysen eingelassen? Ganz gewiß nicht, denn eine unparteiische Prä- fung dieser Entwürfe beweist mit Evidenz, daß dieselben im engen Anschlüsse an die deutschen Proceßordnungen und Pro- ceßentwürfe kein Bedenken getragen haben, ihrem Texte unter Anderem einen großen Theil der zum positiven Rechtsstoff des gemeinen Civilprocesses gehörigen Sätze in unmittelbar praktischer Form und ohne irgend welchen dogmatischen Zu- behör einzuverleiben. Ueber den Werth der einverleibten Rechtssätze kann möglicher Weise gestritten werden, die Be­ 208 hauptung aber, daß diese Rechtssätze, weil sie den Lehrbüchern über den gemeinen Civilproceß zum Gegenstande Wissenschaft- Itcher Erörterung dienen und in denselben erwähnt werden, als theoretische Sätze anzusehen seien, bekundet nicht allein ein ganz unglaubliches Maß von Oberflächlichkeit, sondern erscheint auch in ihrer völligen Nichtigkeit und Unwahrheit, wenn man beachtet, daß die Lehrbücher selbst die fraglichen Rechtssätze durch Allegation mit Gesetzeskraft ausgerüsteter positiver Vorschriften begründen und daß die attegirten Gefetzesvor- schriften wieder in den Oftseeprovinzen als Hülfsrecht recipirt und von der gesetzgebenden Gewalt als rechtsgültige Normen unter den Staatsschutz gestellt worden sind, wie aus der Ca- pitulation der Livländischen Ritterschaft vom 4. Juli 1710 § 10, aus der Landgerichtsordnung vom 1. Febr. 1632 § 29, dem Ritter- und Landrecht I, 15, 6; 32, 1.; Y. 48, 2 und dem Privilegium Sigismund August's vom 28. November 1561 Art. 4 hervorgeht und durch die Praxis in den Provinzen, wie durch die Urteilssprüche des Dirigirenden Senats und des Reichsraths und durch eine Reihe Kaiserlicher Declarationen bestätigt wird. Ad 3. Als Beleg dafür, daß das Baltische Project Be- Stimmungen des Privatrechts ausgenommen, beruft Herr N. N. sich auf Art. 132 des Projects (§ 34 Punkt 11 des Albedin­ ski'schen Entwurfs) und auf die Bestimmungen desselben über den Vollmachtsvertrag, also wahrscheinlich auf die Art. 135 bis 145. — Art. 132 des Projects lautet: Als Proceßbevollmächtigter darf Niemand zugelassen wer- den, dem die persönliche Fähigkeit vor Gericht zu handeln fehlt. Frauen sind nur zuzulassen, wenn sie zu den im Art. 152 bezeichneten Personen gehören und einen Bei­ rath zur Seite haben. Nach Ansicht Herrn N. N's soll diese Vorschrift schon in den Art. 8 und 9 des Privatrechts enthalten sein. Weil indeß 200 in den letzteren in der hier fraglichen Hinsicht nur gesagt ist. daß der Ehemann berechtigt sei, als vermntheter Anwalt und ehelicher Beirath die Gerechtsame der Ehefrau gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten und gegen die Frau begangene Verbrechen und Vergehen gerichtlich zu verfolgen, und daß die Ehefrau ihrer Seits berechtigt sei, in ihren Rechtsangelegen- heiten den Schutz und Beistand des Ehemannes zu verlangen; so kann, wie jeder gleich erkennen wird, von einer Inhalts- gleichheit des Art. 132 des Projects und der Art. 8 und 9 des Privatrechts nicht die Rede sein, indem die letzteren von der Besugniß des Ehemanns zur Vertretung der Frau sprechen, der erstere aber von einem ganz anderen Gegenstände, nämlich davon handelt, daß den Frauen die Uebernahme von Proceß- vollmachten verboten sei und daß sie nur für gewisse Personen kraft vermutheter Vollmacht und dann auch nur unter Hinzu- ziehuug eines männlichen Beiraths vor Gericht handeln könnten. Ebenso unrichtig ist, was Herr N. N. in Bezug auf die Bevollmächtigung zur Führung von Processen sagt. Dieselbe ist allerdings eine bloße Species des Mandats. Allein dieser Species sind nicht wenige rechtliche Momente eigen, die bei dem Mandat oder allgemeinen Vollmachtsvertrage nicht in Be- tracht kommen, weshalb denn auch das Privatrecht, nachdem es in dem Art. 4363 den Begriff und die Erfordernisse des Vollmachtsvertrages angegeben, in der diesem Artikel hinzuge- fügten. Anmerkung ausspricht, daß die Bestimmungen über die Bevollmächtigung von Rechtsbeiständen zur Führung eines Rechtsstreits, desgleichen über die Bevollmächtigung von Schiedsrichtern, in die Civilproceßordnung gehören. Der Vorwurf, den Herr N. N. gegen das Baltische Project in An- laß der Art. 135—145 erhebt, wird aber nicht allein durch die eben erwähnte Anmerkung, sondern auch dadurch völlig aus dem Felde geschlagen, daß die Bestimmungen jener Artikel sich in dem codificirten provinziellen Privatrecht nirgends finden, 210 dennoch aber so nothwendig zur Sache gehören, daß sie auch in die Proceßordnungen anderer Staaten und, wenn auch unter durch die örtlichen Rechtszustände bedingten Abwei- chungen, auch in die Civilproceßordnung des Reichs aufgenom- rnen worden sind. Lieberhaupt ist das ganze Gerede des Herrn N. N. darüber, daß sich in dein Baltischen Project Widerho- lungen der Bestimmungen des Privatrechts finden sollen, durch- aus gehaltlos, denn eine unbefangene Beprüsung der Sache führt zu dem Ergebniß, daß daS Baltische Project, wie z. B. in den Artikeln 93 und 373 (§ 20 und 92 des Albedinski'schen Entwurfs) nur in wenigen Fällen auf das Privatrecht hinge- wiesen, nicht um Bestimmungen des letzteren zu wiederholen, sondern um gegen das Privatrecht Fühlung zu nehmen und den engen Zusammenhang lebendig zu erhalten, in dem der Proceß zu dem Privatrechte steht. Nachdem wir so die eben erörterten drei Einwendungen zurückgewiesen, nachdem wir ferner oben dargethan, daß die Baltische Justizcommission zur Erfüllung des Allerhöchsten Be- fehls vom 1. Juli 1845 verpflichtet gewesen, alle diejenigen Bestimmungen, welche die oben unter den Ziffern 1— 21 und den Buchstaben a—t bezeichneten Proceßmaterien zum Gegen- stände haben, in das Baltische Project einer Proceßordnung für die Ostseeprovinzen ohngeachtet dessen aufzunehmen, daß die reichsrechtliche Civilproceßordnung auf diese Bestimmungen keine Rücksicht genommen, erübrigt uns noch der vorbehaltene Nachweis dessen, daß die Aufnahme eben jener Bestimmungen auch durch ihren Zusammenhang mit dem gesammten provin- ziellen Rechte und durch die Natur der Sache gerechtfertigt werde. Selbst wenn es einst gelingen sollte, eine Proceßordnung zu Stande zu bringen, in welcher nur die formelle Seite des Processes geregelt wird, also eine Proceßordnung, in welcher nur solche Rechtssätze zum Ausdruck gelangen, die die Form 211 und die Ordnung der Handlungen des Richters, der Parteien und dritter im Processe auftretender Personen vorschreiben, so würde eine derartige Proceßordnung doch immer voraus- setzen, daß das von der Form des Verfahrens unabhängige, sogenannte materielle Proceßrecht irgendwo anders, sei es in dem Codex der bürgerlichen Gesetze, sei es in der Gerichtsver- sassung oder in sonst irgend einem Rechtskörper bestimmt sei und im Proceßverfahren für den Richter wie für die Parteien und dritte Personen Geltung habe, denn ohne das materielle Proceßrecht würden die in vorgeschriebener Form und Ordnung vollzogenen Proceßhandlungen völlig bedeutungslos sein. Wer die Richtigkeit dieser Behauptung bezweifelt, den fragen wir, wie die Führung und Entscheidung bürgerlicher Rechtsstreitig- leiten möglich sein soll, wenn es gänzlich fehlt an Vorschriften über die Gerichtsbarkeit, über die Gerichtsstände, über die Be- Hinderung und Ablehnung der Personen des Gerichts, über die gegenseitige Rechtshülfe der Gerichte, über Uebertragung rich- terlicher Handlungen, über die gerichtliche Handlungsfähig- keit der Parteien, über die Bedingungen und Voraussetzungen, unter welchen dritte Personen an einem anhängigen Rechts- streit Theil nehmen können, über die Legitimation zum Pro- cesse, über die Verbindlichkeit zur Bestreitung und Tragung der Proceßkosten, über die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung, über das Armenrecht, über die Berechnung der Fristen, über die gesetzlichen Fristen, über die Gründe, welche die Unter- brechung, beziehungsweise die Wiederaufnahme des Verfahrens begründen, über die Klagehäufung und Klageänderung, über die Grundsätze, welche der Richter bei der Fällung des Ur- theilsspruchs zur Richtschnur zu nehmen hat, über die Beweis- Pflicht, über die Beweismittel in Ansehung ihrer Zulässigkeit und ihrer Beweiskraft, über die Voraussetzungen, unter denen die Erhebung von Rechtsmitteln statthast ist, über die Ursachen, die den Verlust der Rechtsmittel zur Folge haben, :c. IC. und 212 vor Allem über die proceßrechtlichen Folgen, die mit den po- sitiven Handlungen und Unterlassungen der Parteien verknüpft sind, — denn daß alle diese Rechtsmaterien mit der formellen Seite des Processes nichts zu schaffen haben, leuchtet von selbst ein. Sind aber so zur Schlichtung bürgerlicher Rechts- streitigkeiten das materielle Proceßrecht darstellende, d. i. die oben angedeuteten Rechtsmaterien betreffende Bestimmungen schlechterdings nothwendig, so mußte die Baltische Justizcom- Mission sich vor Allem die Frage vorlegen, ob das materielle Proceßrecht etwa in den bereits emanirten Theilen des Pro- vinzialrechts irgend ausreichende Berücksichtigung gefunden habe? Die Antwort konnte nur verneinend ausfallen, denn während dem Ständerecht (Theil II des Provinzialrechts) das materielle Proceßrecht völlig fern liegt, während die im ersten Theil des Provinzialrechts codificirte Behördenverfassung in proceßrechtlicher Hinsicht nur Bestimmungen über die Gerichts- barkeit enthält, diese aber mit der Einführung friedensrichter- licher Institutionen völlig unvereinbar sind, — weist das Privatrecht (Theil III des Provinzialrechts) überall, wo es mit Satzungen des Proceßrechts in Berührung kommt, auf die zu ernanirende provinzielle Proceßordnung hin, z. B. in den Anmerkungen zu den Artikeln 268, 365, 419, 690,1412,1444, 1491, 1503, 1584, 1588, 1612, 2447, 2452, 2562, 3064, 3558, 3617, 3949, 4363, 4593. Bei so bewandter Sachlage blieb der Baltischen Justiz- commisflon nichts übrig, als entweder über das materielle Proceßrecht im Baltischen Project zu schweigen und in diesem Falle den Rechtsuchenden und den Richtern zu überlassen, auch in Zuwnsl diejenigen Satzungen des materiellen Proceßrechts in Anwendung zu bringen, welche in den Ostseeprovinzen bisher auf Grund einheimischer Proceßgesetze oder des in sub- sidium geltenden gemeinen Rechts zur Richtschnur dienten und noch gegenwärtig zur Richtschnur dienen, — oder aber diese _ 213 Satzungen des materiellen Proceßrechts in das Baltische Pro- iect in so weit, als mit der Durchführung der leitenden Grund- sätze der modernen Proceßordnungen verträglich erschien, auf­ zunehmen und sie mit diesen Grundsätzen zu einem harmonisch gegliederten Ganzen zu verschmelzen. Daß die Baltische Ju- stizcommission den zuerst bezeichneten Weg nicht einschlagen durste, versteht sich fast von selbst. Denn einmal handelte es sich ja gerade um eine Codification, in welcher das gesammte, in den Ostseeprovinzen zu beobachtende Proceßrecht ebenso in einem Proceßcodex zusammengefaßt werden sollte, wie das in Bezug auf die privatrechtlichen Normen in dem dritten Theile des Provinzialrechts geschehen ist; sodann mußte nothwendig festgesetzt werden, in wie weit die Durchführung der leitenden Grundsätze der modernen Proceßordnungen das bisherige ma- terielle Proceßrecht der Ostseeprovinzen außer Kraft setze; und endlich walten gerade rücksichtlich dieses materiellen Proeeß« rechts so überaus zahlreiche Kontroversen wie in der Wissen- sckast so in der Praxis ob, daß es im Interesse der Einheit- liebfeit der Rechtspflege schlechterdings nothwendig erschien, in dem entworfenen Codex wenigstens diejenigen Kontroversen, die Verwirrung zu stiften besonders geeignet sind, durch For- mulirung positiver Bestimmungen zu beseitigen. Wenn Herr N. N. auch hiernach zuzugeben genöthigt ist, daß die Baltische Justizcommission in die Notwendigkeit ver­ setzt war, in ihren Entwurf einer Proceßordnung für die Ost- seeprovinzen auch Satzungen des materiellen Proceßrechts auf- zunehmen, so wird er doch vielleicht fragen, weshalb diese Satzungen aus den provinziellen Proceßgesetzen und dem ge- meinen Civilproceß, nicht aber aus der Civilproceßordnung des Reichs geschöpft worden sind. — Um hieraus eine Antwort zu ertheilen, brauche» wir nur darauf zurückzuweisen, was in diesem Aufsatze dargelegt und entwickelt worden ist. Denn wenn wir oben gezeigt haben, daß die proceßrechtlichen Be- 15 214 stimmungen des reichsrechtlichen Civilprocesses durchweg oder doch nahezu durchweg mit dem gesammten Rechtswesen und insbesondere mit dem codisicirten Privatrecht ber Ostseeprovinzen völlig unvereinbar sind, daß außerdem in der Civilproceßord- nung des Reichs jene lange, oben unter den Ziffern 1— 21 angedeutete Reihe mit dem Rechtsleben der Ostseeprovinzen eng verbundener, daselbst fest eingebürgerter und vom Privat- recht als bestehend und geltend vorausgesetzter Proceßinstitute gar keine Berücksichtigung gefunden und daß die Civilproceß- orbmmg des Reichs endlich keine Bestimmungen enthält über sehr viele, oben unter den Buchstaben a —t nur zum Theil bezeichnete Fragen des Proceßrechts, die durch positive Be- stimmungen der einheimischen Proeeßgesetze der Ostseeprovinzen und durch positive Bestimmungen des gemeinen Civilprocesses geregelt sind und durch positive Bestimmungen geregelt sein müssen, um das Proceßrecht zu einer das subjective Meinen und Glauben beherrschenden objectiven Macht zu erheben: so liegt eben in diesen Momenten vorzugsweise der Grund, wes- halb das Baltische Project in so durchgreifender Weise von der Civilproceßordnung des Reichs abweicht und weshalb letz- tere schlechterdings unanwendbar ist ans die Ostseeprovinzen. Hätte die Baltische Iustizcommission den von ihr betre­ tenen Weg nicht eingeschlagen, sondern hätte sie den von Herrn N. N. empfohlenen Weg gewählt, so hätte sie den provinziellen Civilproceß nicht reformirt, sondern denselben vielmehr in einen Complex todter, für die Rechtspflege bedeutungsloser Formen verwandelt, hätte die Continuität des rechtsgeschichtlichen Fa- dens zerstört, der sich durch alle Rechtsinstitutionen der Ostsee- Provinzen hindurchzieht und dieselben mit einander in organi­ scher Weise verbindet, und wäre in Widerspruch getreten mit dem Kaiserlichen Willen, der in dem Allerhöchsten Befehl vom 1. Juli 1845 unzweideutigen Ausdruck gefunden. Schließlich haben wir Herrn N. N. gegenüber noch das 215 Geständniß abzulegen, daß uns der oft erwähnte Aufsatz kei- neswegs in einer vollständigen schriftlichen Übersetzung vor­ gelegen, sondern daß wir denselben nur nach der mündlichen Uebersetzung kennen, die wir einem der russischen Sprache kundigen Freunde verdanken. Die kurzen Notizen, die wir uns bei dieser mündlichen Uebersetzung machten und die allein daher von uns berücksichtigt werden konnten, erschöpfen keineswegs die ganze Summe der Ausstellungen, mit denen Herr N. N. gegen das Baltische Project in die Schranken getreten. Hieraus folgt, daß Herr N. N. fehl greifen würde, wenn er anzunehmen geneigt wäre, daß wir die Stichhaltigkeit der von uns in dem Obigen nicht berücksichtigten Ausstellungen einräumen. 16* V. Vorschläge zur Reform des in Liv-, Est- und Curland geltenden Civilprocefses. Wenn ich im gegenwärtigen Augenblicke die Reform einzelner Theile des in den Ostseeprovinzen geltenden Civil- processes in Vorschlag bringe, so liegt der Einwand nahe, daß der Zeitpunkt dafür schlecht gewählt sei. Ist nicht die Er- kenntniß allgemein durchgedrungen, daß ein den Anforderungen der Gegenwart entsprechender Civilproceß nur auf der Grund- läge der Mündlichkeit möglich ist und ist nicht die Einführung desselben in den Ostseeprovinzen nur noch eine Frage der Zeit? Ich erkenne die Vorzüge des mündlichen Processes unbedingt an, bezweifle auch nicht, daß er, wie überall, so auch hier den schriftlichen Proceß verdrängen werde, — aber wann und wie wird es geschehen? Kann nicht bis dahin, wo es den Pro- vinzen gelingt, eine dem gestimmten Rechtszustande und der in denselben vertretenen Rechtbildung entsprechende Proceßordnung zu erlangen, noch längere Zeit vergehen? Inzwischen werden die Provinzen auf den bestehenden schriftlichen Proceß ange- wiesen bleiben, dessen Schwerfälligkeit in einer Zeit, wo der täglich wachsende Rechtsverkehr auf schnelle Erledigung der Rechtsstreitigkeiten hindrängt, nur zu schmerzlich empfunden wird. Es erscheint mir daher als eine dringende Pflicht gerade im gegenwärtigen Augenblicke aus eine Verbesserung des gel­ 217 tenden Processes hinzuwirken, damit das Land in die Lage versetzt werde, mit Ruhe die Einführung des mündlichen Pro- eesses in einer seinen Bedürfnissen entsprechenden Form ab- warten zu können. Meiner Ueberzengung nach bedarf es aber nur einzelner gewichtiger Verbesserungen des bestehenden Pro- cesses, damit er noch für längere Zeit den Anforderungen des Landes zu genügen im Stande sei. Natürlich kann der an- gedeutete Zweck nur erreicht werden, wenn die nothwendigen Reformen rasch und, wo erforderlich, auch mit Hilfe der Ge- setzgebung durchgeführt werden. Ich habe mich daher bei den nachfolgenden, nach den verschiedenen Rechtsmaterien zu- sammengestellten Reformvorschlägen nicht blos auf solche be» schränkt, bei denen es sich um Verbesserung einer mißbräuchlichen Praxis handelt, sondern auch solche bezeichnet, die eine Abände- rung durch die Gesetzgebung erheischen. 1. Die Fristen. Sehr kurze Fristen geben keineswegs die Gewähr für eine schnelle Beendigung der Processe, da sie unvermeidlich Fristerstreckungen zur Folge haben. Zu lange Fristen, d. h. Fristen von einer solchen Dauer, wie sie von der Natur der vorzunehmenden Handlung nicht gefordert wird, sind aber im Interesse der Beschleunigung der Processe unbedingt zu ver- meiden. Im Allgemeinen lassen stch die in den verschiedenen Rechtsgebieten der Ostseeprovinzen üblichen Fristen als sachent- sprechend bezeichnen. Die Dauer derselben beträgt im ordent- lichen Verfahren in der Regel 8, 10 und 14 Tage für den Schriftwechsel und 14 Tage, 3 und 4 Wochen für die Be- weisantretnng. Die letzteren sind stets sofort peremtorisch, während die elfteren, im Falle sie nicht beobachtet worden, zweimal wiederholt werden müssen. Nur die in Curland nach Landrecht üblichen Frist von 4 Wochen für den Schriftenwechsel mnß als eine unverhältuißmäßig lange bezeichnet werden, 218 zumal ste mit den zweimaligen Wiederholungen auf drei Mo- nate ausgedehnt werden kann. Sie ließe stch ohne Nachtheil auf die Dauer der in den Städten Curlands geltenden Fristen von 14 Tagen herabsetzen. Eine solche Verkürzung wäre um so unbedenklicher, als die curländischen Statuten (§§ 17 und 27) die Beobachtung der Frist von 4 Wochen nur für die Anbe- raumung des Citationstermines, so wie des Termines für die Beweisantretung ausdrücklich fordern. Ueberall aber Pflegen diese beiden Fristen durch längere Dauer vor den übrigen Fristen für die Verhandlung des Rechtsstreites ausgezeichnet zu werden. WaS den Grundsatz der Wiederholung der für den Schriftenwechsel anberaumten Fristen betrifft, so wird derselbe zwar von den nenern Proceßordnungen, die nur sofort perem- torische Fristen zulassen, allgemein aufgegeben. In den Ost- seeprovinzen jedoch kann in denjenigen Rechtsgebieten, in denen jede Frist mit einer Verhandlung der Parteien abschließt, von einer Abänderung des Verfahrens in dieser Richtung unbedenklich abgesehen werden, weil die wiederholte Frist sofort den Par- teien zur Kenntniß gebracht und einer übermäßigen Verzögerung der Processe dadurch, daß die Fristen sich unmittelbar an ein- ander schließen, vorgebeugt wird. Anders verhält es sich jedoch in Livland nach Landrecht, wo das Verfahren in Gegenwart der Parteien beseitigt ist. Daselbst setzt die Wiederholung einer Frist in der Regel einen schriftlich einzubringenden Antrag der Gegenpartei und eine schriftlich auszufertigende Verfügung des Richters voraus, welche der säumigen Partei insinuirt werden muß. Bei einem so complicirten Verfahren ist es erklärlich, daß der Zeitverlust bis zur Exportirung der richterlichen Ver­ fügung wegen Erneuerung der Frist meist ein unverhältniß- mäßig größerer ist, als der durch die Frist selbst bedingte. Diesem unnützen Aufwand an Zeit und Kosten läßt sich, — da die Vorschrift, daß die Gerichte schon von amtswegen über den Ablauf der Fristen wachen sollen, erfahrungsmäßig nicht durch­ _ 219 führbar ist, — in wirksamer Weise nur dadurch abhelfen, daß statt der bisher nach der hofgerichtlichen Praxis üblichen Frist von dreimal zehn Tagen sofort peremtorische Fristen von dreißig Tagen, wo nicht kürzere vorgeschrieben sind, anberaumt werden. Eine derartige Zusammenlegung der Fristen ist nach gemeinem Rechte ausdrücklich gestattetl) und nach livländischem Rechte wenigstens für einen Fall speciell vorgeschrieben 2). Aus der Zahl der für besondere Fälle festgestellten Fristen muß noch die für Curland bestehende Frist von einem Jahre für die Introduktion der Appellation 3) hervorgehoben werden, die einer Justizverweigerung nicht unähnlich sieht. Eine In- troductionssrist von 6 Wochen für die Appellationen von den städtischen Untergerichten an den Rath, wie sie in Mitau be- reits besteht, und von 3 Monaten für die Appellationen von den Rüthen und den Oberhauptmannsgerichten an das Ober- Hosgericht würde in allen Fällen vollkommen genügen. iL pie proceßhindernden Einreden. Vor Ausbildung der Eventualmaxime im gemeinen Processe waren die proceßhindernden Einreden, d. h. solche Einreden, durch deren Vorschützen der Beklagte sich von der Verpflichtung zur Einlassung befreite, von großer Bedeutung. Zu denselben gehörten alle dilatorischen 4) unv gewisse perem­ torische 5) Einreden, hinsichtlich deren jedoch in der Theorie keine Einigung der Meinungen zu erzielen war. Indessen 1) 1. 72 D. de jud. 5, 1, 1. 53 § 1 D. de re jnd. 42, 1 und ]. 8 C. quom. et quando 7, 43. 2) Königl. schwed. Verordnung vom 19. April 1692: Terowegen wollen Wir hiermit verordnet und gesetzet haben, daß der Richter in allen Gerichten sowohl auf dem Lande als in Städten sofort auf die erste Vor- ladung .... die Hauptsache zur gerichtlichen Erörterung vornehmen soll. 3) Jnstructorium des citri. Processes. P. I tit I § 45. 4) c. 62 X. de app. 2, 28. 5) c. 1 in VI de L. C. 2, 3. 220 gewann die Ansicht die meiste Verbreitung, nach welcher alle peremtorischen Einreden unter der Voraussetzung proceßhin- dernde Wirkung haben sollten, daß sie sofort liquid vorgeschützt oder ohne Vorzug bewiesen werden könnten. Diese Regel bietet den unverkennbaren Vortheil, daß auf solche Weise durch ein kurzes Präliminarversahren weitläufige Processe von vorne herein abgeschnitten werden können. Sie ist in die Praxis Estlands und in die Statuten Riga's6) übergegangen. In Curland sind die höchst unzweckmäßigen, dem polnischen Pro- cesse entlehnten Grundsätze des Jnstructoriums 7) über die Verhandlung der Einreden in neuerer Zeit dadurch glücklich beseitigt worden, daß die Eventualmaxime des gemeinen Rechtes durch die Praxis in den curländischen Proceß Eingang gefunden hat. Nur das livländische Landrecht huldigt noch immer hin- sichtlich der proceßhindernden Einreden durchaus verwerflichen Grundsätzen. Nach der Praxis *) ist es nämlich gestattet alle peremtorischen Einreden ohne Rückstcht auf ihre Liquidität vor der Einlassung vorzuschützen und dadurch eine abgesonderte Verhandlung derselben, einschließlich eines besonderen Beweis- Verfahrens, herbeizuführen. Diese Praxis, nach welcher statt eines Processes zwei nach einander durchgeführt werden müssen, widerspricht aber einmal der Natur der Sache, weil peremto- riscbe Einreden in den meisten Fällen gar nicht verhandelt werden können, ohne daß die Klagethatsachen, die den Gegen- stand der Einlassung bilden, berührt werden, sodann veranlaßt sie den Beklagten zur Einleitung eines kostspieligen und zeit- raubenden Beweisverfahrens, ohne daß es feststeht, daß der Kläger die behaupteten Klagethatsachen zu beweisen im Stande 6) Stat. Eig. Lib. II c. 17 § 1. 7) Instructorium P. I tit 1 § 19—29 und tit. 5 § 4 und 7, vgl. mit Nixdorff: Regni Poloniae terrarumque Prussiae regalis processus judiciarii compendium, Gedani, 1654, Pars I Sectio II cap. 1 § 4. 8) lieber den Ursprung dieser Praxis vgl. Zeitschrist Band I S. 12 fg. 221 sein werde ®) und endlich führt sie zu einer unendlichen Ver- schleppung der Processe. Um diesem letztern Uebelstande ab- zuhelfen, kommt es nicht selten vor, daß die Landgerichte Liv- lands zum Schlüsse des Exceptionalversahrens, falls der Kläger das in demselben anberaumte Beweisverfahren dazu benutzt hat, die Klagethatsachen zu beweisen, sofort in der Hauptsache selbst erkennen, obgleich eine Einlassung von Seiten des Be- klagten nicht vorliegt. So verwerflich dieses Auskunstsmittel ist, da durch dasselbe stets eine Nullität begründet wird, so liefert es doch den Beweis dafür, wie sehr die Notwendigkeit erkannt wird, dem durch die zweckwidrige Behandlung der pe- remtorifchen Einreden begünstigten Verschlepp der Processe ab­ zuhelfen. Es ist daher dringend zu wünschen, daß im An- schlusse an die in Riga und Estland geltenden Grundsätze auch in Livland nach Landrecht die Bestimmung Eingang fände, daß vlle vor der Einlassung vorgeschützten peremtorischen Einreden, sobald sie nicht sofort liquide sind oder ohne Vorzug bewiesen werden können, jedesmal vom Richter in das Hauptverfahren verwiesen werden müssen. III. Die Einlassung. Nach canonischer Lehre war die Litiscontestation ein formeller Act, durch welchen der Beklagte, nach Beseitigung der etwa vorgeschützten proceßhindernden Einwände, dem Richter constatirte, ob in der Sache selbst noch gestritten werden solle oder nicht. Zu diesem Behuse genügte eine generelle Erklä- rung, durch welche der Beklagte den Anspruch des Klägers negirte10). Was im Einzelnen von den der Klage zu Grunde 9) Daher sagt schon die Glosse zu c. 29 X. de test. 2, 20, v. pu- blicatae: Illud autem stultun reputo, quod aliquis probet perempto- riam exceptionem, antequam sciat, si adversarius probavit inten- tionem suam. 10) c. un. X. de L. C. 2, 5 und c. 54 § 3 X. de elect. 1, 6. 223 gelegten Thatsachen geleugnet oder zugestanden werden sollte, konnte natürlich aus einem so allgemein gehaltenen Widerspruche gegen das Klagerecht nicht entnommen werden. Um zu einer speciellen Erklärung behufs Feststellung des Streitigen und Unstreitigen zu gelangen, mußte der Kläger nach stattgehabter Litiscontestation den faktischen Stoff seiner Klage in einzelne Sätze (Positionen) zerlegen, die der Beklagte unter dem Zwange der Annahme einer confessio für den Fall der Unterlassung zu beantworten hatte H)* Diese Grundsätze gingen in den reichsgerichtlichen Proceß mit der Modisication über, daß die Zerlegung des tatsächlichen Stoffes schon in das Klagelibell verlegt wurde, der sonach artteultrt abzufassen war. Eine andere Gestaltung nahm die Sache in den Parti- cularrechten des nördlichen Deutschlands, insbesondere in dem sächsischen Rechte an, welches vorzugsweise auf die Theorie der damaligen Zeit von Einfluß war. Daselbst hatte sich wesentlich auf der Grundlage der Clementine Saepe ein durchaus verein­ fachter Proceß ausgebildet, in welchem namentlich der formelle Litiscontestationsaet, der bereits von der angeführten Clemen- tine zu den entbehrlichen Solennitäten gezählt wurde, ganz wegfiel und um so mehr wegfallen konnte, als die Absicht des Beklagten das Klagerecht des Klägers bestreiten zu wollen, schon aus der Erklärung des Ersteren über die Klagethatsachen hervorgeht. Die für den canonischen und den Reichsproceß notwendige Formulirung von Positionen konnte leicht dadurch umgangen werden, daß der Beklagte angewiesen wurde die ihm mitgetheilte Klage sofort speciell in Beziehung auf ihren tatsächlichen «toff zu beantworten. Natürlich war eine solche Vorschrift nur dann von Werth, wenn für die Erfüllung der- selben von Seiten des Beklagten ein Zwang vorlag und dieser war dadurch zu erreichen, daß alle vom Beklagten in der Ein­ 11) c. 2 in VI de conf. 2, 9, Durniit.. II, 1 ile posit. § 9. 223 lassung übergangenen Thatsachen, ebenso wie die nicht beant- werteten Positionen, als zugestanden angesehen wurden. In der That hat das sächsische Stecht1 *) die bezeichneten Grund­ sätze über die Einlassung zur Anerkennung gebracht. Das Hauptgewicht in Beziehung auf die Erklärung des Beklagten fällt demnach in den Umstand, daß dem Richter eine möglichst eingehende Kenntniß von dem Streitgegenstande verschafft wer- den soll. Es erhellt übrigens, daß dies nichts der ersten Er- klärung Eigentümliches ist, daß vielmehr dieselbe Forderung an jede Erklärung im ferneren Verlaufe des Processes gestellt werden muß. Wenn man sich das Verhältniß unserer einheimischen Rechtsquellen über den Proceß zu denen im nördlichen Deutsch- land geltenden Particularrechten und der Theorie zu Anfang des 17. Jh. vergegenwärtigt, so kann es keinem Zweifel un- terliegen, daß in den ersteren die zuletzt vorgetragenen Grund- sätze über die Einlassung Aufnahme fanden oder wenigstens stillschweigend als geltend vorausgesetzt wurden. Dafür lassen sich sehr bestimmte Hinweise anführen. Zunächst ist hervorzu- heben, daß die Ausdrücke unserer Quellen: ,der Beklagte solle mit ja oder nein auf die Klage antworten" 13), »ihm sei das directe responde aufzuerlegen" 14), unzweifelhaft darauf hin­ deuten, daß unter der Einlassung nicht der formelle Litiscon- testationsact des canonischen Rechtes, sondern die specielle Er­ 12) Chursächfische Constitutionen vom 21. April 1572 P. I c. X: Damit der General und ungewissen £iti8conteftatirn halben die fachen nicht verlengert, auch allerhand gefahr so darunter gesucht, verhütet werde: So ordenen und constituiren wir, das in den Rechtfertigungen der beklagte uff alle und jede pnnct und stück und derselbigen narration und conclusion ausdrücklich tlerlich in specie und in sonderheit antworten und den Krieg also durch spe- cificatien befestigen, und da solches vom beklagten vorbliebe, das wider ihnen, als einen contumaccm, so den Krieg gantz nicht oder je nicht volkömlich rontestiret, erkant und gesprochen werden sol. 13) Stat. Rig. Lib. II c. 14 § 1. 14) Jnstructorium P. I tit. 1 § 9 und 30. 224 klärung des sächsischen Rechtes über die der Klage zu Grunde liegenden Thatsachen verstanden werden muß. Sodann geht aus den einheimischen Quellen hervor, daß die Folge des un- gehorsamen Ausbleibens des Beklagten stets die poena con- fessi war l5). Es kann aber nicht angenommen werden, daß für das gänzliche Unterlassen der Einlassung und für eine unvollständige, entgegengesetzte Grundsätze, für letztere etwa die Annahme einer negativen Litiscontestation hinsichtlich der über- gangenen Thatsachen, zur Anwendung gekommen wären. Die angeführten, höchst zweckmäßigen Grundsätze über die Einlassung erhielten in Folge einer EntWickelung, die im gemeinen Rechte auf Grund des jüngsten Reichsabschiedes vor sich ging, auch in den Ostseeprovinzen mehrfache Abänderungen, die zu einer entschiedenen Verschlechterung des Processes beigetragen haben. Der jüngste Reichsabschied nahm nämlich den Grundsatz des sächsischen Rechtes hinsichtlich der speciellen Einlassung auf, wich jedoch insofern vom sächsischen Rechte ab, als er festsetzte, daß der Ungehorsam des Beklagten eine Fietion des Geständnisses der Klagethatsachen nicht zur Folge habe, sondern den Kläger zu deren Beweise verbinde. In Folge dessen ent- wickelte sich in der gemeinen Theorie die Lehre von der Fiktion einer negativen Litiscontestation für den Fall des Ungehorsams. Der Zwang zur Erlangung einer speciellen Erklärung fiel damit völlig weg, da die Annahme einer Negation der mit Stillschweigen übergangenen Thatsachen für den Beklagten jedenfalls vorteilhaft war. Nur ganz ausbleiben durfte er mit der Erklärung nicht, wenn er Einreden vorzuschützen hatte, weil diese nach der Eventualmaxime mit der Einlassung zu verbinden sind. Wenn gleich der Grundsatz der Fietion einer negativen Litiscontestation, der von den neuern Proceßordnun- gen allgemein verworfen wird, in den Particularrechten Deutsch­ 15) Vgl. den folgenden Abschnitt. 225 lands vielfach keine Aufnahme fand, so hat er doch in den Ostseeprovinzen, wo der jüngste Reichsabschied keine unmittelbare Geltung hatte, einen ganz unberechtigten Einfluß gewonnen. Zwar hat er in Estland und Riga, abgesehen von einigen Schwankungen in der Praxis, niemals festen Fuß fassen können, dagegen ist er im livländischen Landrecht, so wie im curlan- dischen Land- und Stadtrecht, mit Ausnahme des Falles, wo in Curland ein Contumacialverfahren eingeleitet worden, zur unbedingten Herrschaft gelangt. Der Beklagte, dessen Sache etwa so schlecht steht, daß er der Klage nichts entgegenzustellen vermag, kann es nunmehr dem Gesetze überlassen, statt seiner zu leugnen und ruhig den Schwierigkeiten zusehen, mit denen der Kläger zu kämpfen hat, um alle Klagethatsachen in genügender Weise zu beweisen. In Livland, wo die Eventualmaxime nicht gilt, verliert der ungehorsame Beklagte nicht einmal die Mög- lichkeit seine Einreden vorzuschützen. War mit dem Wegfall der Annahme einer poena confessi gegenüber dem ungehorsamen Beklagten jeder Zwang zur Er- langung einer speciellen Einlassung geschwunden, so lag es nahe, zumal eine entgegenstehende ausdrückliche Vorschrift in den provinciellen Quellen nicht vorhanden war, die generelle Litiscontestation, die im canonischen Rechte ihr Vorbild hatte, zuzulassen. Man übersah dabei freilich, daß das canonische Recht in den Positionen ein Mittel besaß, die Uebelstände der generellen Litiscontestation wieder zu beseitigen, daß aber im pro- vinziellen Rechte, dem dieses Mittel fehlt, dem Richter jede Möglich- fett entzogen ist, einen richtigen Einblick in den Streitgegenstand, der von ihm beurtheilt werden soll, zu gewinnen. Ueberdies läßt sich nicht verkennen, daß es den Parteien bei einer generellen Er- klärung viel leichter fällt von der Wahrheit abzuweichen, als bei der Beantwortung der einzelnen Behauptungen der Fall ist. Die gerügten Mängel dürften die Ueberzeugung feststellen, daß es unerläßlich ist die älteren Grundsätze über die Ein­ 226 lassung, soweit solches bisher noch nicht geschehen, wieder her- zustellen. Nach denselben muß die Einlassung in einer fpe- ciellen Beantwortung der Klagethatsachen bestehen und trifft den ungehorsamen Beklagten in Betreff der nicht speciell ge- leugneten oder der mit Stillschweigen übergangenen Thatsachen, ebenso wie im Falle der gänzlichen Unterlassung der Erklärung, die poena confessi. IV. Das Contumacialverfahren. Für den Fall, daß der Beklagte vorschriftmäßig zum Proeesse geladen worden, demohnerachtet aber ungehorsam ausbleibt, stimmen die Rechtsquellen sämmtlicher Rechtsgebiete darin überein, daß der Beklagte als geständig anzusehen sei und er demnach, vorausgesetzt, daß die vorgebrachten Klage- thatsachen zur Begründung der klägerischen Anträge hinreichen, zu verurtheilen sei 16). Das behufs Feststellung der conturaacia vorgeschriebene Verfahren ist in den einzelnen Rechtsgebieten sehr verschieden ausgebildet, leidet aber nach den Bestimmungen der Quellen an einer so großen Weitschweifigkeit, daß es als ein Glück zu betrachten ist, daß die Praxis dasselbe in den meisten Rechtsgebieten um vieles vereinfacht, namentlich die für diesen Fall ganz ungeeigneten Vermögensstrasen, beseitigt hat. Nur in Curland hat sich das, nachweislich aus dem polnischen Rechte stammende Contumacialverfahren ir) unver- 16) Ueber die Quellen des tibi. Landrechts vgl. Zeitschrift Bd. 1 S. 29 Sinnt. 84. Seitdem das in diesen Quellen vorausgesetzte Verfahren in Gegenwart der Parteien weggefallen ist, hat das ungehorsame Ausbleiben des Beklagten mit der Erklärung nur in dem Falle die poena confessi zur Folge, wenn ihm die Erklärung sub poena confessi et convicti aufgegeben war, vgl. Zeitschrift Bd. I S. 320 fg. Hinsichtlich der übrigen Rechtsge­ biete vgl. Stat. Rig. Lib. II c. 9 § 4—7, Estl. Ritter- und Landrecht B. I tit. 10 § 2, Oberlandgerichts - Constitution vom 7. Juli 1691 § 7 und 8, Obergerichtsordnung für Reval vom Jahre 1757 § 18, Stat. Curl. § 20, Jnstructorium P. 1 tit. 1 § 11—18 und tit. 5 § 6. 17) Nixdoiff 1. c. cap. 2 § 8, Stat. Curl. § 20, Jnstructorium P. I üt 1 § 11—18, tit. 5 § 6. 227 ankert in seiner ganzen Weitschweifigkeit bis auf den heutigen Tag erhalten, so daß es erklärlich ist, daß sich der Kläger nur in seltenen Fällen dazu entschließt dasselbe zu beantragen. Der vorzüglichste Uebelstand besteht darin, daß das beim zweiten Ausbleiben des Beklagten in amissionem causae er­ gangene Urtheil, um in Wirksamkeit zu treten, nochmals, nach Landrecht nach Ablauf von 6 Monaten, bestätigt werden muß, weil der contiimax das Recht hat innerhalb dieser Frist seinen Gegner ad reponeiidum decretum citiren zu lassen und das Contumacialurtheil zu beseitigen. Dieses Benefieium des Be- klagten müßte jedenfalls aufgehoben werden, wenn das Eon- tumacialverfahren für den Kläger einen Werth haben soll. V. Der Schriftenwechsel. Die einheimischen Rechtsquellen setzen die Zahl der zu wechselnden Schriften auf vier fest: die Klage, Erklärung, Re­ plik und Duplik l8). In Livland gestattet die Praxis für den Fall, daß der Beklagte Einreden vorschützt, nach dem Grund- satze reus excipiendo tit actor eine Schrift mehr, um dem ursprünglichen Kläger das letzte Wort zu gestatten. Die nach der Exceptionsschrift gewechselten Schriftsätze heißen in Livland: elisio, salvatio und ulterior elisio. Während in Curland die vier Schriften, ebenso wie nach gemeinem Rechte, vor dem Beweis­ verfahren gewechselt werden, ist in Liv- und Estland das Be- weisverfahren mitten in den Schriftenwechsel hineingeschoben worden. In Folge dessen haben die beiden letzten Schriften: die Replik und Duplik, beziehungsweise die salvatio und ulterior elisio, ihre ursprüngliche Bedeutung, zur Feststellung des Streitgegenstandes zu dienen, völlig eingebüßt und sind 18) Proceßstadga vom 4. Juli 1695 § 4, Stat. Rig. Lib. II c. 12 § 2 und c. 13 § 1, Estl. Ritter- und Landrccht Buch II tit. 20 art. 3, Obergerichtsordnung für Reval v. I. 1757 § 11, Jnstructorium P. I tit. 1 § 30 und 32. 228 zu Deduktionsschriften aus dem geführten Beweise herabgesetzt, in denen neue tatsächliche Behauptungen nicht mehr vorge- bracht werden können. Für die Feststellung des status causae et controversiae dienen demnach in Estland nur die Klage und Erklärung, in Livland außerdem noch, falls Exemtionen vorgeschützt sind, die Elisionsschrist. Diese Zahl von Schriften reicht aber in den meisten Fällen nicht aus, um dem Richter und den Parteien eine klare Einsicht in den Streitgegenstand und den anzutretenden Beweis zu gewähren. Verbindet z. B. der Beklagte in Estland die Einlassung mit peremtorischen Einreden, so bleibt er völlig im Unktaren darüber, ob und wie weit etwa der Kläger die Einreden zuzugestehen geneigt ist und letzterem ist die Möglichkeit entzogen neue Einreden (Repliken) vorzuschützen. In Livland ist freilich diesen Ue- beiständen durch die Elisionsschrift abgeholfen, aber es bleibt die etwa in der Elisionsschrift vorgebrachte neue Einrede (Re- plik) vom Gegner unbeantwortet. Die Folge davon ist, daß alle Behauptungen, über die der Gegner nicht die Möglichkeit gehabt hat sich zu erklären, von demjenigen, der sie aufgestellt hat, in jedem Falle bewiesen werden müssen, ja daß sogar gegen alle Proceßtheorie im Beweisverfahren der Beweis von neuen Einreden (Repliken, Dupliken) zugelassen werden muß, die im vorbereitenden Verfahren gar nicht haben zur Sprache gebracht werden können. Die Uebelstände dieser Einrichtung, wie sie namentlich in Estland in aller Schärfe hervortreten, liegen aus der Hand. Weder der Richter noch die Parteien können sich ein sicheres Urtheil über den Beweissatz oder die Beweislast bilden und während einerseits über neue Behaup- hingen, die erst im Beweisstadium hervortreten, die Möglichkeit der Antretung eines Gegenbeweises geradezu abgeschnitten ist, müssen andererseits ganz unnütze Beweise hinsichtlich solcher Thatsachen angetreten werden, die der Gegner, wenn er über dieselben gehört worden wäre, niemals angestritten hätte. 229 Charakteristisch für den estländischen Proceß ist daher ein unendlich weitschweifiges Beweisverfahren selbst in den unbe- deutendsten Sachen. Bringt man den Zeit- und Kostenauf- wand in Anschlag, der stets mit der Beweiserhebung verbunden ist, so wird man anzuerkennen nicht umhin können, daß eine sachgemäße Fortsetzung des Schriftenwechsels vor dem Beweise bedeutend zu einer zweckmäßigen und raschen Erledigung der Processe beitragen würde. Es ist daher als ein entschiedener Fortschritt anzuerkennen, wenn man in Riga seit neuerer Zeit von dem hergebrachten Schema für das vorbereitende Versah- ren absteht und daselbst, falls erforderlich, noch weitere Schrift- sätze vor dem Beweise gestattet. — Eine allen Anforderungen genügende Regel hinsichtlich des Sch.riftenwechfels stellt das gemeine Recht in consequenter Durchführung des Grundsatzes vom wechselseitigen Gehör in dem Satze aus, daß über jede relevante neue tatsächliche Behauptung der einen Partei die Gegenpartei gehört werden müsse. Ist auf Grund dieser Regel einerseits eine allzu große Ausdehnung des vorbereitenden Verfahrens nicht zu befürchten, weil in den allerfeltensten Fällen nach der Replik noch eine Vertheidigung durch neue Einreden möglich ist, so gewährt sie andererseits den Vortheil, daß das erste Verfahren schon früher abgeschlossen werden kann, z. B. in dem Falle, wenn der Beklagte sich auf eine negative oder gemischte Litiscontestation beschränkt. Gelangt dieser Grundsatz des gemeines Rechtes in den Ostseeprovinzen zur allgemeinen Geltung, so wären die dem Beweise nachfolgenden Schriften nicht mehr als Replik und Duplik, sondern als das, was sie tatsächlich sind, als Deduktionsschriften zu bezeichnen. Einer besonderen Berücksichtigung bedarf noch das in Liv- und Estland vor stattgehabter Einlassung zulässige Zwi- schenverfahren zur Erledigung der dilatorischen und liquiden peremtorischen Einreden. Ueber diese wird jedesmal der Kläger elidendo gehört. Ein weiterer Schristenwechsel aber ist in 16 230 den meisten Fällen durchaus überflüssig, denn sind es dilato- tische Einreden, so ergiebt sich der Grund oder Ungrund der- selben meistens schon aus den Akten, sind es dagegen perem- torische Einreden, so sollen sie bei den ersten Satzschristen liquide gestellt werden19). Ergiebt sich aber aus diesen Schriften, daß die Einreden in Ermangelung des paraten Beweises oder zufolge der Vorschützung von Repliken eine aus- führlichere Untersuchung („altiorem indaginem") erfordern, so sind sie in das Hauptverfahren zu verweisen2°)* Zweck­ mäßig untersagt daher das livländische Landrecht in Beziehung auf die dilatorischen Einreden ein weiteres Verfahren nach der Elision 21), wogegen der in Estland übliche Wechsel eines Memorials und Gegenmemorials nur dazu beiträgt den Proceß nutzlos um Monate zu verlängern. VI. Das Aeweisversahren und die Beweismittel. Dem canonisch-mittelalterlichen Proceß war der Grund- satz der Trennung der Beweise von den Behauptungen, d. h. der Grundsatz, daß die Beweismittel erst nach Beendigung des Schristenwechfels zur Feststellung des Streitgegenstandes in einem besonderen Stadium des Processes und auf einmal vor- gelegt werden sollen, durchaus fremd. Den Parteien war es vielmehr gestattet bei Gelegenheit ihrer einzelnen Vorträge die erforderlichen Beweismittel beizubringen. Bei dem Urkunden- beweise geschah dies regelmäßig, wogegen der Zeugenbeweis, welcher mit mancherlei Umständen verknüpft ist, erst angetreten werden sollte, wenn die gegenteiligen Behauptungen geleugnet waren *'2). Zu diesem BeHufe wurde dem Beweisführer vom 19) Vgl. den Abschnitt II. 20) Stat. Rig. Lib. II c. 17 § 2. 21) Vgl. Zeitschrist Bd. I S. 313 Ann,. 129. 22) X. ut lite non contestata non procedatur ad testium re ceptionem 2, 6. 231 Richter jedesmal eine besondere Frist anberaumt. — Allmählig fand jedoch in den deutschen Gerichten nach dem Vorbilde des sächsischen Particularrechtes die Sitte durch die Praxis Ein- gang, die Behauptungen von dem Beweise derselben zu trennen und die Antretung der letzteren in eine Frist zu ver- weisen, die nach altem Herkommen das Besondere hat, daß ihre Versäumung ipso jure den Verlust des Beweises nach sich zieht. Den äußeren Abschluß erhält seitdem das erste Versahren durch ein Urtheil, das sog. BeweiSinterlocnt, welches zugleich über den Beweissatz und die Beweislast Bestimmung trifft. Die provinzialrechtlichen Quellen schließen sich im We- sentlichen den dargestellten Grundsätzen des mittelalterlich canonischen Processes (in *3). Dadurch aber, daß die Praxis die in den Quellen ursprünglich nur für den Zeugenbeweis eingeführte, nach stattgehabter Litiscontestation anzuberaumende Beweisfrist auch für alle anderen Beweismittel gelten läßt und deren Ausschluß im Falle der Versänmniß dieser Frist fordert, — hat der Grundsatz der Trennung der Behauptungen und Be- weise im Wesentlichen in den Ostseeprovinzen Eingang gefunden. Dabei aber haben sich mehrfache mit diesem Grundsatze un- vereinbare Einrichtungen des älteren Rechtes erhalten, die un- bedingt beseitigt werden müssen. Als die vorzüglichsten Mängel des Beweisverfahrens im gegenwärtigen Processe heben wir folgende hervor: 1) Durch die im vorigen Abschnitte bereits gerügte uuge- uügende Ausbildung des ersten oder vorbereitenden Ver- sahrens nach estländischem Land- und Stadtrecht, so wie nach livländischem Landrecht, ist es den Parteien, insbe- sondere aber dem Richter unmöglich, am Schlüsse desselben 23) Ueber das livl. Landrecht vgl. Zeitschrift Bd. I S. 303 fg. und 335 fg., Oberlandgerichts - Constitution vom 7. Juli 1691 § 6, Stat. Rig. Lib. II c. 19 § 1 und c. 20 § 1, Jnstruktorium P. I tit. 1 § 30 fg. 16* 232 sich ein richtiges Urtheil über den Streitgegenstand und im Zusammenhange hiermit über die jeden Theil treffende Beweislast zu bilden. Es wiederholt sich daher in diesen Rechtsgebieten leider nur zu häufig die Thatsache, daß von den Parteien, deren Gutdünken die Beweisantretung vollständig überlassen bleibt, die Beweislast ganz falsch beurtheilt wird oder daß von ihnen mit vielem Kosten- und Zeitverlust ganz irrelevante Beweise erbracht werden, die der Richter abzuschneiden nicht in der Lage ist. Es braucht nicht ausgeführt zu werden, wie oft gerechtfertigte Ansprüche auf diese Weise verloren gehen. Die Beseitigung dieser Uebelstände kann nur durch eine zweckmäßigere Anord- nung des ersten Verfahrens erreicht werden. In Cnrland und Riga, wo dieses der Fall ist, hat, namentlich in den Städten, auch das gemeinrechtliche Beweisinterlocut Ein- gang gesunden. Obgleich dasselbe die letzte Consequenz des Grundsatzes der Trennung der Beweise von den Be- hanptungen ist, so wollen wir bei den mancherlei dem- selben entgegenstehenden Bedenken die Einführung desselben in den übrigen Rechtsgebieten, vorausgesetzt, daß daselbst unserem Vorschlage gemäß eine zweckmäßigere Anordnung des ersten Verfahrens durchgeführt wird, nicht unbedingt befürworten. Es dürste vielmehr genügen das Beweis- interlocut für diejenigen Fälle, in denen für dasselbe besondere Zweckmäßigkeitsgründe sprechen, zuzulassen, näm- lich für den Fall, daß die Parteien über den Beweissatz oder die Beweislast im Zweifel sind oder unter ihnen darüber Streit entsteht, so wie für den Fall, daß die Parteien nicht durch Rechtsbeistände vertreten sind. Unter diesen Voraussetzungen hat sich das Beweisinterlocut in Riga als sehr praktisch bewährt, woselbst noch der, auch in der Hannoverschen Proceßordnung anerkannte Grundsatz Eingang gefunden hat, daß der Richter in der Appella­ 233 tionsinstanz an das Beweisinterlocut des Unterrichtet nicht gebunden ist. 2) Die Beweisfrist ist überall eine sofort peremtorische, deren Dauer durch Herkommen oder Gesetz festgestellt ist. Dabei wird jedoch eine Erstreckung derselben, wenn zeitig vor ihrem Ablauf aus besonderen Gründen darum gebeten wird, gestattet, ja in einzelnen Rechtsgebieten ist es sogar zulässig in besonderen Fällen die Beweissrist gleich an- fangs auf eine längere, als die regelmäßige Dauer, fest- zustellen*24). Durch diese Einrichtung wird nicht nur den besonderen Umständen, welche die Antretung des Beweises in der vorgeschriebenen Frist unmöglich machen können, vollkommen Rechnung getragen, sondern es wird auch, da dergleichen Erstrecknngen nur causa cognita erfolgen können, einer willkührlichen Protrahirung der Processe vorgebeugt. Neben diesen, dem Bedürfnisse vollkommen genügenden Erstrecknngen der Beweisfrist, ist es jedoch — wenn wir zunächst von der eigentümlichen Ausbildung des Beweisverfahrens in Estland absehen — durch Beibehaltung der dem canonischen Rechte entlehnten Grundsätze über den Additionalbeweis '2d) in die Willkühr der Parteien gestellt, durch den bloßen Vorbehalt des Additionalbeweises, beziehungsweise des Snperadditional- beweises eine mehrfach wiederholte Anberaumung von Bewcisfristen herbeizuführen 2S). Im Proceß des canoni- schen Rechtes, wo Beweisantretuugen im Laufe des ganzen Verfahrens stattfinden konnten, hatte die Zulassung von Additionalbeweisen bis zur Eröffnung der Scrutinien 24) Stat. Rig. Lib. II c. 20 § 12 und 13, Stat. Curl. § 27. 25) C. 15, 49 X. de test. 2, 20 und c. 2 in VI cod. 2, 10. 26) Landgerichtsordnung v. I. 1632 § 20, Justizpunkte v. 22. Sep­ tember 1671 § 8, Stat. Rig. Lib II c. 20 § 9, Jnstruktorium P. I tit. 1 § 39 und 40. 234 über die Zeugenaussagen nichts Bedenkliches und wenn die provinzialrechtlichen Quellen diesen Grundsatz wiederholen, so ist daraus nur ersichtlich, daß ihnen der Grundsatz der Verweisung der Beweise in ein beson- deres Stadium fremd geblieben ist. Nachdem jedoch die Praxis diesen Grundsatz adoptirt hat, hätte sie, ebenso wie im gemeinen Rechte geschehen, die ganze Lehre vom Additionalbeweise ausscheiden müssen, da für die Beibe- Haltung desselben kein reelles Bedürsniß vorliegt und dasselbe nur dazu führt das Beweisstadium zu verfiel- fältigen. Die Dringlichkeit einer Reform in dieser Beziehung ergiebt sich aus der Erwägung, daß in denjenigen Rechtsge- bieten, wo derBeweisund Gegenbeweis successive angetreten wird, gegenwärtig, wenn die Parteien sich beiderseits den Additional- und Superadditionalbeweis vorbehalten, die Anberaumung einer sechsfachen Beweisfrist nothwendig wer- den kann. — Was insbesondere das Beweisverfahren in Estland betrifft, so hat sich daselbst die Sitte ausgebildet, daß der Beweis faktisch erst in dem für den Additional­ beweis anberaumten Termine, dem sog. Beweis- und Gegenbeweis-Schließungstermine angetreten wird, wogegen die Parteien in dem 14 Tage nach Uebergabe der Er- klärung eintretenden Beweistermine nur einen fingirten Beweis einzubringen pflegen. Es versteht sich von selbst, daß diese gesetzliche Frist von 14 Tagen, wenn das in Vorschlag gebrachte vorbereitende Verfahren mit Repliken, Dupliken ic. Eingang findet, wegfallen muß und daß in diesem Falle die Beweisfrist, wie gegenwärtig die Frist für die Beweisschließung, nach stattgehabter Vereinbarung unter den Parteien, durch richterliches Decret oder das Beweisinterlocut peremtorisch festgesetzt werden müßte. 27) c. 2 Clem. de test. 2, 8. 235 3) Die einheimischen Rechtsquellen empfehlen vielfach zur Beschleunigung der Processe das zeitige Beibringen der Urkunden und verordnen namentlich die Quellen des liv- und estländischen Landrechts 2«) in diesem Sinne, daß ultra replicam keine Documente zugelassen werden sollen. Diese Zeitbestimmung erklärt sich aus dem Umstände, daß es damals noch keine für alle Beweismittel gültige pe- remtorifche Beweissrist gab. Wenn aber gegenwärtig, nach Einführung einer solchen, die Praxis in den genannten Rechtsgebieten im Anschlüsse an den Wortlaut der Quellen das Beibringen der Urkunden nach abgelaufener Beweisfrist bei oder gar nach der Replik gestattet, wodurch ein be- sonderes Verfahren behufs Anerkennung derselben noth- wendig werden kann, so beweist dieser Umstand, daß die Praxis den Sinn und Zweck jener Verordnungen völlig außer Acht gelassen hat. Ein Antizipiren des Urkunden- beweises, wie jederzeit gestattet ist, ist häufig sehr zweck- mäßig, ein Nachbringen desselben aber nach Ablauf der perem- torischen Beweisfrist kann durch nichts gerechtfertigt werden. 4) In Cnrland besteht die Eigentümlichkeit, daß die Zeugen­ aussagen nach geschlossenem Beweisverfahren den Parteien nicht mitgetheilt werden dürfen *29) wodurch ihnen die Möglichkeit der Überreichung von Deduktionsschriften im Falle eines Zengcnbeweises abgeschnitten wird. Wie- wohl der Werth solcher Deduktionsschriften problematisch ist, so liegt doch kein Grund vor den Parteien ausnahms- weise beim Zeugenbeweise durch Vorenthaltung der Sern- tinien die Möglichkeit für die Neberreichung derselben abzuschneiden. 28) Hofgerichts-Constitution vom 24. März 1666 § 1 und Oberland- gerichts-Constitution vom 7. Juli 1691 § 4. 29) Stat. Cuii. § 29. 236 In Beziehung auf die Beweismittel ist vor Allem her- vorzuheben, daß nach livlänbischem Landrecht die Praxis in Folge einer unrichtigen Interpretation der Richterregeln die Eidesdelation untersagt30). Es kann jedoch nicht zugestanden werden, daß dadurch unnützen oder falschen Eiden vorgebeugt werde, wie von den Vertretern dieser Praxis behauptet wird. Der erste Grund trifft nicht, weil der beferirte Eid ein sub­ sidiäres Beweismittel ist,, von bem nur in Ermangelung anderer Beweismittel Gebrauch zu machen gestattet ist unb eine Um­ gehung dieses Grunbsatzes um so weniger zu befürchten steht, als ber Beweisführer jedes andere Beweismittel der Eides­ delation vorziehen wird. Der letzte Grund aber beweist offenbar zu viel, weil nach demselben überhaupt alle Eide im Processe beseitigt werden müßten. Dagegen ist nicht zu ver- kennen, daß der Grundsatz des livländischen Landrechts, welches die Eidesdelation ausschließt, schwer aus dem Rechtsleben lastet. Denn bei dem häufigen Vorkommen solcher Fälle, in denen den Parteien alle anderen Beweismittel fehlen, muß die Nichtzu- lassung der Eidesdelation geradezu als Justizverweigerung erscheinen, zumal bas Civilrecht keineswegs ben Grunbsatz auf­ genommen hat, baß Rechtsgeschäfte, bie nicht etwa bnrch Zeugen ober Urkunben bewiesen werben können, klaglos sein sollen. VII. Die Rechtsmittel. Die Rechtsmittel sinb in ben einzelnen Rechtsgebieten ber Ostseeprovinzen so verschiedenartig ausgebildet, daß dieselben vielfach Gelegenheit zu Vergleichungen und Verbesserungen darbieten könnten. Wir wollen uns jedoch nur auf einen Gegenstand beschränken, der unseres Bedünkens am brin- genbsten ber Reform bebarf. Er betrifft bte Rechtsmittel gegen Zwischenbescheid. Es ist bies ein altes Kreuz ber 30) Vgl. Zeitschrift Bd. I S. 330 fg. 237 Proceßtheorie, der es bis in die neueste Zeit nicht gelungen war in dieser Beziehung den Anforderungen an ein schnelles und zugleich gründliches Verfahren zu genügen. Ueberall, wo die Grundsätze des gemeinen Rechtes Eingang gefunden haben, werden gegen alle Decisivdecrete oder wenigstens gegen solche, die in vim definitiviae ergehen31), devolutive Rechtsmittel zugelassen, die den Fortgang des Protestes jedesmal auf län- gere Zeit unterbrechen. Um diesem Uebelstande einigermaßen abzuhelfen wurde in Liv- und Estland zur Zeit der schwedischen Herrschast das Rechtsmittel der Ouerel gegen Zwischenbescheide durch die Gesetzgebung eingeführt, welches, im Vergleiche zu der nur noch gegen Endurtheile zulässigen Appellation, ein in mehrfacher Beziehung vereinfachtes Rechtsmittel ist. Aber die Erfahrung hat gelehrt, daß gerade die Querel, namentlich in der Ausbildung, die sie in Livland erhalten hat, wegen ihrer geringeren Kostspieligkeit ganz vorzugsweise zur Protrahirung der Processe gemißbraucht wird. Erst den neuesten Proceß- Ordnungen in Deutschland ist es gelungen die mit den Rechtsmitteln gegen Zwischenbescheide verbundenen Uebelstände durch ein ebenso zweckmäßiges als einfaches Mittel zu beseitigen. Demselben ist das Verdienst, welches sich die neueren Proceß- ordnnngen um die größere Beschleunigung der Processe erworben haben, nicht zum geringsten Theile zuzuschreiben. Es ist dies das Institut der vorbehaltenen Bernfungen. Da dasselbe keineswegs die Mündlichkeit der Verhandlung zur Voraussetzung hat, sondern auch im schriftlichen Proceß anwendbar erscheint, so können wir nicht umhin dessen Einführung in den Proceß der Ostseeprovinzen auf's Angelegentlichste zu empfehlen. Das Wesen der vorbehaltenen Berufung besteht darin, daß die Be- schwerde gegen den Zwischenbescheid zwar sofort in der gefetz* lichen Frist angemeldet, nicht aber selbständig, sondern nur in 31) Jnstruktorium P. I tit. 1 § 43 und tit. 2 § 46. 238 Verbindung mit dem gegen das Endurtheil eingewandten Rechts- mittel oder mit der nächsten, sofortiger Berufung unterworfenen richterlichen Verfügung, ausgeführt werden darf. Weil es aber Fälle giebt, wo der bloße Vorbehalt der Berufung der Partei einen nachträglich nicht zu verbessernden Nachtheil bringen kann, so wird eine sofortige Berufung ausnahmsweise in einzelnen Fällen zugelassen und zwar in der Regel: 1) gegen Urtheile, durch welche vor stattgehabter Einlassung des Beklagten auf die Hauptsache eine proeeßhindernde Einrede desselben verworfen wird und 2) gegen Urtheile, durch welche aus Leistung eines Schieds- eides oder eines Ergänzungs-, beziehungsweise eines Reini- gungseides erkannt wird. Bei der bisher bestehenden Einrichtung war der vorzüg- lichste Anreiz zu Appellationen gegen Zwischenbescheide, wenn man von der absichtlichen Proceßverzögernng ganz absieht, da­ durch gegeben, daß vor Beendigung des Processes sich in den meisten Fällen nicht voraus bestimmen läßt, in wie weit ein Zwischenbescheid für die Hauptsache selbst von Nachtheil sein kann. Die Parteien machen daher von dem Rechtsmittel häufig nur Gebrauch, um kein Mittel zu verabsäumen, das ihnen möglicherweise Vortheil bringen könnte. Sind die Parteien dagegen in der Lage erst nach Emanirnng des Endurtheils die Berufung auszuführen, so unterbleibt sie in allen den Fällen, wo der befürchtete Nachtheil nicht eingetreten ist. Freilich muß bei Einführung der vorbehaltenen Berufung darauf Bedacht genommen werden, daß die Appellation gegen Endurtheile, die sich in Folge derselben vermehren dürften, den Parteien nicht durch allzu große Kostspieligkeit erschwert werde. Eine solche wird aber nach provinziellem Rechte in der That dadurch herbeigeführt, daß nach einem übereinstimmenden Ge- brauche in allen Rechtsgebieten die Akten der Unterinstanz aus Stempelpapier mundirt der Oberinstanz überreicht werden 239 müssen. Da jedoch für die Erhebung der Stempelsteuer im Proceß ausschließlich das russische Recht maßgebend ist, dasselbe aber ausdrücklich die Beibringung der Originalakten in der Oberinstanz gestattet32), so könnte die Forderung der Bei- bringung von Aktenabschriften in der Appellationsinstanz un- bedenklich fallen gelassen werden. VIII. Die Crttlltion. Während die städtischen Gerichte ihre Urtheile selbst zur Execution bringen oder mit derselben die Polizei beauftra- gen, haben die Gerichte des Landes eine solche Besugniß nicht. Die Urtheile der letztgenannten Gerichte, so wie über- Haupt alle nach Landrecht zu verhandelnden executorischen Ur- künden können vielmehr nur zur Execution gelangen, wenn zuvor ein Mandat der Gonvernements-Regierung exportirt ist. Dieser Grundsatz, von dem eine Ausnahme nur in geringfü­ gigen Sachen zugelassen wird, stammt aus dem § 97 der Gou- vernements-Verordnung vom 7. November 1775 nnd hat sich, trotz der Aufhebung der durch dieselbe eingeführten Statthalter- fchaftsverfassung, bis auf den heutigen Tag erhalten. Da die Exportirung eines solchen Mandates jedoch mit bedeutendem Zeit- und Kostenaufwand verbunden ist, übrigens aber für die Bei- beHaltung dieser auch schon vom neueren russischen Rechte be­ seitigten Einrichtung kaum ein triftiger Grund angeführt wer- den kann, so wäre die Aufhebung derselben dringend zu wünschen. 32) Vwod der Reichsgefehe Bo. X Abth. II Art. 510. (0. Schmidt. VI, Das „dingliche" Miethrecht der modernen Provincialgesehqebung. Der Pacht- oder Mietvertrag im engern Sinn des Worts, die locatio conductio rerum, vermochte seiner Natur nach kein andres Recht des Miethers oder Pächters zu erzeugen als ein obligatorisches. Der Vermiether hatte ihm die zuge­ sagte Wohnung, das zugesagte Grundstück bezw. das Interesse zu leisten. Von einem dinglichen Recht des Miethers an der vermieteten Sache konnte schon um deßwillen nicht die Rede sein, weil ein solches bekanntlich nicht in faciendo zu bestehen vermag, ferner auch weil durch die Existenz des Nießbrauchs und der habitatio für das Bedürsniß nach dieser Seite hin gesorgt war. Dritten Eigentümern der vermieteten Sache wich daher das Recht des Miethers selbstverständlich 1). Unglücklicherweise wurde die letztgenannte Consequenz der obligatorischen Natur des Pachtvertrages durch die Rechts- parömie: «Kauf bricht Miete" ausgedrückt. Diese Fassung trat in Gegensatz zu dem Rechtsbewußtsein, insbesondere der germanischen Völker. Es erschien unbillig, die spätere Dispo- fitton zu Gunsten der früheren desselben Kontrahenten bevor­ zugen zu wollen. Wäre der Rechtssatz von vorn herein so 1) Vgl. 1. 25 § 1 1. 32 Dig. Joe. cond. (19, 2) 1. 59 § 1 Dig. de usufr. (7,1). 241 ausgedrückt worden, wie seine Natur es verlangte, nämlich: „Eigenthum bricht Miethe", so hätte man an demselben wohl ebensowenig Auffallendes gesunden, wie an der allgemein anerkannten Bestimmung, daß der neue Erwerber von Sachen sich nicht um die persönlichen Verbindlichkeiten seines Rechts- Vorgängers zu kümmern habe *). Wie dem auch sei, die Reaction gegen jene angebliche Bevorzugung des Kaufvertrags vor der Miethe hat in dem germanischen Rechtsbewußtsein mannigfache Wurzel geschlagen. Nicht bloß, daß man in die römische Theorie selbst eine ex­ ceptio doli des Miethers gegen den neuen Eigenthümer we- nigstens für den Fall Hineininterpretiren wollte, wenn der letztere sich dem Verkäufer gegenüber zur Ausrechterhaltung des Mietvertrages verbindlich gemacht hatte3") — mehrere deutsche Partieularrechte sind bis zu einer Aushebung des Satzes: „Kauf bricht Miethe" fortgeschritten. Es gehören dahin das Lüneburger Stadtrecht 4) und zum Theil die heutigen Rechte von Preussen 5) und Hamburg 6). Wie aus dem Wortlaut der angezogenen Statuten hervor- geht, beabsichtigen dieselben durchaus nicht den Charakter des von dem Miether erworbenen Rechts als eines persönlichen 2) Weil eben die Obligation an der Person hing. 3) Vgl. Vuchka und Budde Entscheidungen I, S. 54, Urtheil de? Oberapp.-Ger. zu Rostock vom 15. April 1850, Windscheid Pand. II § 330 Anmkg. 12. 4) Vgl. Lüneburger Stadtrecht II, 15. 5) Preuss. Landrecht Thl. I,.Tit. XIX § 5: „Kann aber der Besitz- nehmer überführt werden, daß ihm das zu derselben Sache erlangte persön­ liche Recht des andern zur Zeit der Besitzergreifung schon bekannt gewesen fei: so kann er sich seines durch die Uebergabe entstandenen dinglichen Recht? gegen denselben nicht bedienen" (also offenbar eine Ausdehnung der ex­ ceptio doli). 6) Hamb. Statut II, 9, 13: „Wenn einer sein Hausaus ein oder mehr Jahre verhautet hat, und mittlerweile dasselbige verpfändet, verkaufst oder sonst alieniret, so soll solcher Contract allezeit dem Häurer an feinem habenden Rechte und noch resttrender Zeit unverfänglich sein." 242 aufzuheben. Die einzelnen Bestimmungen des römischen Rechts, welche die obligatorische Natur desselben kennzeichnen, bleiben sämmtlich in Kraft, so die Verpflichtung des Vermiethers, die Reparaturen und Abgaben zu tragen, die Schadensersatzpflicht desselben bei Störungen der Detention 7) u. s. w. Es sollte nur die Verfolgbarkeit des Miethrechts gegen dritte Erwerber gewährleistet werden, somit aus der an bestimmte Personen geknüpften Obligation eine Zustandsobligation entstehen, deren Leistungspflicht in ähnlicher Weise an das Eigenthum eines Grundstücks geknüpft werden, wie dies bei den Reallasten, dem Näherrecht und den Verpflichtungen der Miteigenthümer eines Grundstücks der Fall ist8). Das Hauptkriterium der Ding- lichkeit eines Rechtsanspruchs, die unmittelbare Herrschast über die Sache ohne die erforderliche Intervention dritter Leistender fehlte auch hier. Es lag eine Art von vertragsmäßiger Real- last9) vor, nicht eine Servitut. Allein auch diese Ausdehnung der Befugnisse des Mieth- Inhabers mußte den Creditwerth, die Steuerlast der Grund- stücke bedeutend mindern. Bei der mangelnden Oeffentlichkeit der Miethverträge war kein Käufer davor sicher, daß nicht nach der Eigenthumsübergabe langdauernde Mietverträge den Werth des Neuerworbenen schmälerten. Die Regreßklage gegen den dolosen Verkäufer gab nicht immer Ersatz. Wie früher der Kaufvertrag vor der Miethe, so erschien jetzt diese vor dem Kaufvertrag ungerecht privilegirt, indem dieser Pnblicität zur Erreichung seiner vollen Wirkung voraussetzte, die Miethe aber dessen nicht bedurfte. Es erübrigte zur Herstellung der völligen Ereditsicherheit noch die Eintragung des Mietvertrages in die öffentlichen Gerichtsbücher. 7) Windscheid Band II § 400. 8) Prov.-R. Art. 937, 939 u. A. 9) Prov.-R. Art. 1310. 243 Diesen Schritt machten die Gesetzbücher von Oestreich lu) und Sachsen'Auch sie lassen den alten Miethvertrag fortbestehen und gewähren nur facultativ die Wirkung desselben gegen dritte Erwerber für den Fall der Corroboration des Mietvertrags, ein Erweis, daß dessen eigentliche Natur, wie sie in der Beeinflussung des Willens einer andern Person zu suchen ist, nicht alterirt werden soll. Diesen Gesetzen schließt sich dann die moderne baltische Provincialgesetzgebung 1S1) an, wenn sie in Art. 4045 sagt: »Wenn der Pacht- oder Miethvertrag in die öffentlichen „Gerichts- oder Hypothekenbücher eingetragen wird, so „erhält der Pächter oder Miether dadurch ein dingliches, „auch gegen dritte Personen wirksames Recht." Als Quelle citirt diese Bestimmung nur den Art. 3016, welcher bloß von der Wirkung der Corroboration im Allgemeinen redet und seinerseits „Gewohnheitsrecht" sowie einige miß- verstandene13) Stellen aus den gemeinrechtlichen Rechtsquellen als Belege citirt. In der That vermag sich das neue „dingliche" Recht des Art. 4045 in keiner Weise auf das ältere einheimische Recht zu stützen. Das esthländische Ritter- und Landrecht14) wie das lübische Rechtlö), das livländische Landrecht16) wie die eurländischen Statuten registriren nicht die geringste Ab­ 10) Oesterr. Gesetzbuch § 1095: Wenn ein Bestandvertrag in die öffentlichen Bücher eingetragen ist, so ist das Recht des Bestandnehmers als ein dingliches Recht zu betrachten, welches sich auch der nachfolgende Besitzer auf die noch übrige Zeit gefallen lassen muß. 11) Sachs. Zivilgesetzbuch § 1224. 12) Provincialrecht der OstseegouvernementS Thl. III. 13) Sowohl die 1. 29 Dig. de obl. et act. (44, 7) als die beiden citirten Stellen des canonischen Rechts sprechen von der Anerkennung durch Richter und Gesetz, nicht von einer Verstärkung der Wirkung des Vertrages. 14) Vgl. Esthl. R. u. L. R. B. IV, Tit. 16. 15) Lüb. R. v. 1586 B. III Tit. 8. 16) Hot. u. pag. 169 Landlagh und Not. a pag. 172 L. L. 244 weichung von den römischrechtlichen Grundsätzen über locätio conductio nach dieser Richtung hin und das rigische Stadtrechtl7) wiederholt sogar ausdrücklich die Grundsätze über das Aushören der Miethe dem dritten Erwerber gegenüber, wenn es sagt: »Kaufs gehet vor Miethe: Wo aber der Eigenthümer „dein Heurling das Hauß auf gewisse Zeit vermischet »und verkaufet?, ehe die Zeit umb ist; so muß zwar der »Einwohner dem Käuffer weichen, aber der Verkaufter ist »Ihme allen Schaden zu erstatten flichtig« . . . Die Abweichung das Art. 4045 kann daher bloß auf die rno- derne Legislation zurückgeführt werden. Es liegt nahe, aus jener verstärkten Wirkung der Corroboration und der Ausdehnung des Gebiets derselben, welche sich in unserer modernen Codification an den verfchie- densten Orten fühlbar macht, auch diesen Satz abzuleiten. Während die Corroboration, aus der Auflassung entsprungen, in älterer Zeit nur da erforderlich schien, wo für den Credit wesentlichere Operationen mit Immobilien insbesondere Eigen- thumsübertragungen und Pfandrechtsbestellungen 18) vor sich gingen, strebt das neue Gesetzbuch nicht nur darauf hin, alle dinglichen Rechte an Immobilien erst mit der Eintragung in die Gerichtsbücher entstehen zu lassen 19), sondern es bekleidet sogar mehrere rein persönliche Verträge mit einer Wirkung auch dritten Personen gegenüber, sobald die Corroboration derselben erfolgt. Dahin gehört der Ehevertrag laut Art. 38, die Real- last laut Art. 1310, das Vorkaufsrecht laut Art. 3959 u. a. m. Durch diese Eintragung wird das neue Rechtsverhältniß selbst- verständlich an sich noch kein dingliches, wie sich aus dem Beispiel des Ehevertrages deutlich erkennen läßt, wo es ja an dem 17) 33. III Tit. 12 Art. 2. Vgl. auch v. Bunge, Liv. und EM Privatrecht § 214 am Ende. 18) v. Bunge Liv- und Estl. Priv.-R. § 119 Not. a und b. 19) Provgstzbuch Art. 1262, 1310, 1503 u. a. m. 245 »Ding« als Object des dinglichen Rechts ebenso fehlen würde, wie an einem concreten dinglichen Recht überhaupt. Nur da würde durch die Corroboration aus einem obligatorischen wirk- lich ein Sachenrecht werden, wo die Eigenschaft der Versolg- barkeit gegen Dritte das einzige Requisit gewesen war, welches zur Dinglichkeit des Rechts gefehlt hatte, wo somit die Herr- schaft über die Sache bereits in der Tendenz des Rechtes lag (wie bei dinglichen Rechtsgeschäften vor der Eintragung der- selben), wenn auch nur zeitweilig, nur kraft Willenserklärung des bisherigen dominus ao). Der Miethvertrag war aber an sich wohl qualificirt, ein dingliches Recht zu verschaffen, wenn er die absolute Wirkung dieser Rechte erhielt. Er war von vorn herein auf die Ver- schaffung des Gebrauchs einer Sache gerichtet, Fruchtgenuß und Nutznießung'") fielen dem Miether zu und bloß darin war die obligatorische Wirkung seines Rechts erkennbar, daß es einerseits ausschließlich aus dem Willen des Vermiethers ent- sprang und mit demselben endigte, so wie daß andrerseits dritte Personen keine originäre Verpflichtung hatten, die Rechte des Miethers zu achten, daß er keine Jnterdicte anstellen konnte, keinen Besitz erwarb 2a). Beiden Mängeln wird durch die Cor- roboration des Miethcontracts abgeholfen. Nicht bloß, wie das österreichische Gesetzbuch 23) sich ausdrückt, gegen den nachfol­ 20) v. Ziehbart, die Realexecution und die Obligation mit besonderer Rücksicht auf die Miethe, 1866, versucht, von der angegebenen Ausdehnung des CorroborationSgebicts ausgehend, für die moderne Legislation einen neuen Begriff von dinglichen Rechten zu gewinnen, je nach ihrer Wirkung auf Dritte. Derselbe müßte die römischen Zustandsobligationen ebenso wie die germanischen Reallasten seiner neuen Classification unterwerfen, wofür der Nachweis der legislatorischen Aenderungen der Neuzeit doch nicht genügend erbracht scheint. 21) Vgl. Prob. R.- Art. 4053. 22) Vgl. Provgstzbuch Art. 4053 a. E. „Der Miether wird jedoch bloßer Inhaber, nicht Besitzer". 23) Vgl. Oest. Gesetzbuch Art. 1095 und 1121. 17 246 genden Besitzer, sondern überhaupt gegen dritte Personen, also auch gegen den Besitzstörenden, läßt Art. 4045 das neue Recht wirken und abweichend von der Fassung der verwandten Particularrechte wird dasselbe sogar besonders als ein ding- liches bezeichnet. Die Bezugnahme auf Art. 3016, bez. w. Art. 3004, in welchen ausdrücklich die Corroboration als Erzeugerin aller dinglichen Rechte an Immobilien aufgeführt wird, läßt keinen Zweifel über die Tendenz des Art. 4045. Derselbe will ein wahres dingliches Recht constituiren. Welches dingliche Recht liegt nun aber hier vor? Die bekannten jura in re aliena, wie sie die römische und germa- nische Rechtsbildung geschassen hat, erschöpfen den Begriff des Sachenrechts schon um deßwillen nicht, weil sie bloß verschiedene Gradeder Ausübung sonst nur dem Eigentümer zuständiger Befugnisse involviren, innerhalb welcher somit neue Zwischen- stufen, neue Gradationen jederzeit durch das Bedurfniß erzeugt werden können. So bildet das Grundzinsrecht, das Lehnrecht, der Erbpfandbesitz unsres Provincialrechts immer wieder eine neue Proportion der Rechte des Eigenthümers zu denen des dinglich Berechtigten. Es vermag somit sehr wohl in dem ding- lichen Miethrecht eine eigne Rechtsgattung geschaffen zu werden. Von den vorhandenen Arten der Sachenrechte ist es bloß die Servitut und aus den äußerlich ähnlichen Gebieten des Obligationenrechts nur die Reallast, welche mit der neuen Rechtsschöpfung in Vergleichung gezogen zu werden braucht. Denn Pfandrecht, Emphyteufe, Grundzinsrecht, Erbpfandbesitz bieten theils durch die Ausdehnung ihrer Befugnisse, theils durch die Eigentümlichkeiten ihrer Anwendung soviel charak- teristische Unterschiede von dem Miethrecht, daß von einer Re- lation zwischen denselben nicht wohl die Rede sein kann. Nur die Servitut und die Reallast bilden so allgemeine Kategorien, daß neue Elaborate der Legislation innerhalb derselben Raum zu finden vermögen. 247 Von der Reallast kann nun hier, abgesehen von der spe- cifischen geschichtlichen Entstehungsart des Instituts, nicht die Rede sein, weil sich der Character der sich jährlich wiederho- lenden Leistung, sowie der Tendenz ewigerM) Dauer in dem Miethrecht nicht findet. Aus den Servituten, so ähnlich einzelne Arten derselben, wie der Nießbrauch und das Wohnuugsrecht dem Miethrecht werden, unterscheiden sich aber beide genannten Gattungen durch die Ausdehnung der Verpflichtungen des Ser- vitutberechtigten 26), durch die Unentgeltlichkeit und das Woh- nungsrecht noch insbesondere durch seine Unverjährbarkeit prägnant von dem Miethrecht. Ueberhaupt dürste dieses letztere auch unter die allgemeine Definition der Dienstbarkeiten in Art. 1089 um deßwillen nicht passen, weil die Servitut stets den einseitigen Vortheil des Berechtigten voraussetzt, die Miethe aber ein zweiseitiges Rechtsgeschäft bleibt, welches dem Miether bestimmte Verpflichtungen, wie Miethzinszahlung 27) u. f. w. ausladet und an diese Bedingungen die Weiterexistenz des Rechts knüpft28). Es bleibt uns daher nur übrig, in dem Mieth- recht ein neues, servitutähnliches, mit der Resolutivbedingung der jährlichen Miethzinszahlung an den Grundstückseigen- thümer verknüpftes Recht an dem Grundstücke, gerichtet auf Benutzung des Grundstücks oder des darauf befindlichen Hauses, der Wohnung u. f. w. zu bestimmten, in dem Vertrage fixir- ten Zwecken, zu sehen. Die Grundsätze deS gewöhnlichen 24) Vgl. Provgstzbuch Art. 1297: Reallast ist die auf einem Grund- stück ruhende dauernde Verpflichtung zur ewig wiederkehrenden Entrichtung bestimmter Leistungen in Geld, Naturalien oder Diensten. 25) Provgstzbuch Art. 1247 ff. 26) Provgstzbuch Art. 1241, 1242, 1249 u. v. a. 27) Provgstzbuch Art. 4069. 28) Auch dadurch daß die Servitut an dem Grundstück, bei dem Wieder- erstehen des zerstörten Hauses auflebend, das Miethrecht im engern Sinn aber nur an dem Hause selbst, mit dessen Existenz es lebt und stirbt, besteht, ist der Unterschied gewahrt. 17* 248 Mietvertrages selbst sind selbstverständlich, da ja dieser letztere in seiner vom Provincialrecht gegebenen Form den Gegenstand des Art. 4045 bildet, so consequent wie möglich aus das Recht dieses Artikels anzuwenden. Hält man aber auch die Grundsätze des Pacht- und Mieth- Vertrages selbst soweit wie denkbar fest, so entstehen doch in der Praxis mehrfache Schwierigkeiten, deren Hebung hier ver- sucht werden soll. Es sind insbesondere nachstehende Fragen, welche Zweifel zu erregen geeignet scheinen. 1) Das dingliche Miethrecht vermag sich nicht wie der per- sönliche Miethvertrag auf Rechte zu beziehen, sowenig wie auf bewegliche Sachen 29), weil zu der Entstehung des ersteren die Eintragung in die Hypothekenbücher erfor- derlich ist, diese letzteren aber Immobilien voraussetzen. Aus demselben Grunde muß der Vermiether, abweichend von der Bestimmung des Art. 4029, stets Eigenthümer des Immobil? sein, da nur ein solcher dasselbe zu be- lasten berechtigt ist. 2) Die Weiterübertragung des dinglichen Miethrechts ist, da dasselbe nicht, gleich einer Servitut, an den persönlichen Vortheil des Berechtigten gebunden erscheint, unter den- selben Bedingungen zulässig, wie die Cession der Miethe überhaupt, oder wie die bloße Aftervermiethung, d. h. die Cession der Ausübung, also in Liv- und Esthland unter Genehmigung des dominus, in Curland auch ohne solche30). 3) Von den Endigungsgründen der Miethe und Pacht sind die Kündigung (für den Fall mangelnder Zeitbestimmung), der Ablauf der etwa ausdrücklich festgesetzten Miethzeit31), 29) Während der gewöhnliche Miethvertrag beide umfassen kann (Provgshbuch Art. 4026). 30) Provgshbuch Art. 4029. 31) Provgshbuch Art. 4104. 249 der Untergang der «Sache32), die Consolidation33), die Klage wegen Säumigkeit in der Miethzinszahlung 34), das eigne Bedürfniß 3^), die Reparaturbedürftigkeit 36), die Klage wegen Säumigkeit in der Einräumung und im Repariren37) u. s. w. auch für das neue Miethrecht Endigungsgründe geblieben, d. h. sie berechtigen zu der Klage aus Deletion des Jngrossats und im Executions- stadium zu der Exmission des etwa widerspenstigen Insassen. 4) In hohem Grade fraglich erscheint aber insbesondere eine Frage, welche auf die neue Schöpfung zugleich am meisten die Augen der Practiker zu ziehen geeignet er- scheint, die Stellung des neuen Miethrechts zu den an- dem dinglichen Rechten an derselben Sache, insbesondere zu den früher bestellten Pfandrechten. Zu den Servi- tuten stellt sich das Verhältniß einfach. Da dieselben mit Ausnahme des Nießbrauchs 38) die bestimmte Richtung der Ausübung des Eigenthums, welche ihnen gewährt ist, nicht auszufüllen pflegen, sondern auch die Einräumung des gleichen Rechts an dritte Personen, insoweit keine Collision eintritt, gestatten 39), so kann das Miethrecht, auch später bestellt, mit ihnen vereint existiren. Nur das Wohnungsrecht und der Usussruct machen eine Ausnahme, elfteres wegen seiner inhaltlichen Gleichheit mit der Miethe, letzterer, weil er seiner Natur nach den unum- schränkten, eigenthumsähnlichen Gebrauch der Sache 32) Art. 410* 33) Art. 41# 34) Art. 4116. 35) Art. 4117. 36) Art. 4122. 37) Art. 4121. 38) Art. 1199 und 1208 und 1242. 39) Provgshbuch Art. 1110. 250 involvirt. Ein diesen beiden Rechten gegenüber consti- tuirtes dingliches Miethrecht an derselben Sache würde somit garnicht zur Existenz gelangen. Die ausgedehnteren Rechte an fremder Sache, Erbpfand- besitz, Pfandbesitz, Erbpacht, Grundzinsrecht können um deß- willen mit einer später entstehenden Miethe nicht in Collision gerathen, weil der dominus rei zu einer dinglichen Belastung in den genannten Fällen garnicht berechtigt erscheint40). Das bereits früher entstandene Miethrecht aber kann natürlich durch eine spätere Verfügung des Eigentümers ebenso wenig tangirt werden, wie durch eine Veräußerung desselben. Es erübrigt noch das Pfandrecht4 Es leuchtet auf den ersten Blick ein, welche practische Tragweite, bei der Häu- figkeit der Hypotheken und der Unumgänglichkeit derselben für den Realcredit die Frage besitzt, ob der ältere Pfandgläubiger sich die Constituirung und Wirkung dinglicher Miethrechte an dem ihm verpfändeten Hause oder Grundstücke gefallen lassen muß, welche den Nutzungswerth des letzteren, wenn auch nicht für den Eigenthümer zu schmälern, so doch jedenfalls zu mobi- lisiren und dadurch der Controlle des Pfandrechts zu entziehen geeignet erscheinen. Man vergegenwärtige sich nur den Fall, wo ein Psandfchuldner den ganzen Miethraum des von ihm verpfändeten Grundstücks auf eine Reihe von Jahren in der genannten dinglichen Weise vermiethet und sich den Zins gleichfalls auf eine längere Frist praenumeriren läßt. Sowohl der zeitweilige Nutzungswerth als insbesondere der Verkaufs- Werth des Grundstücks für den Fall der ordnungsmäßigen gewöhnlichen Subhastation leidet in einer s^r die Interessen 40) Art. 947 v. E., 1517, 1561, 4133. 41) Hier ist nur von der Hypothek selbst die Rede, da der Pfand besitz an Immobilien nach dem einheimischen Privatrecht dem Eigenthümer gar nicht die Möglichkeit einer späteren dinglichen Belastung gewährt. Vgl. oben Not. 40. 251 des Pfandgläubigers höchst empfindlichen Weise. Es liegt hier dieselbe Collision vor, wie sie nur, in materiell weit geringeren Werthen, für den Fall der Collision des Pfandrechts mit später constituirten Servituten auftritt. Aus den ersten Blick erscheint diejenige Lösung der Frage am natürlichsten, wornach das spätere Recht einfach dem frü- Heren zu weichen hat, in Collision mit diesem garnicht zur Entstehung zu gelangen vermag. Qui prior tempore potior jure 42). Der Art. 3016 des Provineialgesetzbuchs sagt daher am Schluß: »Ebensowenig werden durch die Corroboration früher in „die öffentlichen Bücher eingetragene Rechte dritter Per- Jonen irgend beeinträchtigt 43) " Hiernach wäre die Corroboration des Mietvertrags eine dem Pfandgläubiger gegenüber völlig wesenlose gewesen. Trotz derselben erlischt der Miethvertrag einfach auf den Protest des vorhergehenden Pfandgläubigers hin. Allein durch eine derartige Anschauung, die auch in mehrere Entscheidungen der deutschen Gerichte44) übergegangen ist und unter unseren Practikern gleichfalls viel vertreten ist, würde das Recht des Eigentümers in wesentlicher Weise ge- schädigt. Es ist nie behauptet worden, daß die Freiheit des dominus eines verpfändeten Grundstücks, Servituten u. s. w. an demselben zu constituiren, durch die Verpfändung ausgehoben wird. Und doch gelangte man zu einer derartigen Confequenz. Kann der Eigentümer eines Ritterguts keine Feldwegsser- vitut mehr einräumen, weil auf feinem Grundstück eine Hy­ 42) C. 4 Cod. qui pot. in pign. (VIII, 18). 43) Hierher gehört auch Art. 1439, welcher übrigens ausdrücklich nicht die Nichtigkeit der neuen Belastung, sondern nur die relative Unwirksamkeit derselben dem altern Pfandgläubiger gegenüber constatirt, wie sie erst bei dem AuSbot zur Erscheinung treten kann. Vgl. weiter unten S. 254 ff. 44) Seuss. Archiv Bd. VI, 16. 252 pothek ruht? Darf er seinem Nachbarn nicht mehr gestatten, sein Vieh durch eine zu dem Gut gehörige Strecke zur Tränke zu treiben, weil er eine geringe Pfandschuld auf dasselbe gelegt? Die Gegner antworten, bei solchen, den Werth der Hy- pothek nicht wesentlich vermindernden Belastungen würde ja offenbar das Recht des Pfandgläubigers nicht tangirt. Hier kommen wir aber gerade auf die Verwechslung, welche ihrer Anschauung zu Grunde liegt, die Verwechslung einer bloßen Jnteressencollision mit einer Rechtscollision. Das Recht des Pfandgläubigers, in sich die Befugnisse des Ver- kaufs, der Retention, der dinglichen Klage, gerichtet auf den Verkauf der Sache46), schließend, wird durch das Recht eines Andern, in dem Grundstück zu wohnen, an sich nicht verletzt. Logisch ist sehr wohl Pfandrecht und Miethrecht an derselben Sache vereint ausübbar. Denn ein Recht aus einen bestimmten Verkaufswerth der verpfändeten Sache besitzt der Pfandgläubiger gar nicht, was schon daraus hervorgeht, daß er die Deteriora- turnen und casuellen Verschlechterungen des Psandobjects zu ertragen hat46). Bloß der Verkaufswerth der Sache kann aber durch die dingliche Belastung derselben geschmälert werden. Das Interesse des Pfandgläubigers ist somit wesentlich bei derartigen Minderungen dieses Werths, sei es durch Deterio- ration, sei es durch Belastung betheiligt. Sein Recht aber ist unangefochten. Es lassen sich ja sogar Fälle denken, in welchen selbst die Jnteressencollision factifch nicht stattfindet; Manches verwüstete Gut, manches unbewohnbare Haus, kann grade durch einen dinglichen Mieth- oder Pachtvertrag in den Stand gesetzt werden, eine bedeutendere Revenue zu sichern und da­ 45) Arndts Pandekten § 375 ff. 46) Provgstzbuch Art. 1478 ff. In Livland verliert für den Fall casuellen Untergangs der Faustpfandgläubiger nicht bloß sein Pfand, sondern sogar seine Forderung. Art. 1481. 253 durch auch den Anforderungen des Psandgläubigers gerecht zu werden 47). Eine rechtliche Unmöglichkeit, dingliche Miethrechte an bereits verpfändeten Grundstücken zu constituiren, ist somit nicht nachweisbar.' Man muß daher dem Eigenthümer diese Be- sugniß schon um deßwillen zugestehen, weil eine Beschränkung desselben nicht ohne besonderen Erweis derselben angenommen werden darf. Die Forderung einer besonderen Zustimmung der früheren Hypothekarien zur Erzeugung des neuen dinglichen Rechts ist allerdings durch Specialgesetz48) für Servituten eingeführt worden, in keiner Weife aber für andere dingliche Rechte zu erweisen, so wünschenswerth eine Ausdehnung auf legislativem Wege auch auf diese erscheint. Man hat sich auf andrem Wege zu Helsen versucht. Das dingliche Miethrecht soll demnach, unbeschadet der Unkenntniß der früheren Pfandgläubiger, entstehen und trotz Verkaufs des vermieteten Grundstücks an dritte Personen ruhig weiter existiren. Aber die öffentliche Versteigerung sott dasselbe wenigstens in sofern zur Erlöschung bringen, als es mit den Rechten der vorstehenden Pfandgläubiger collidirt. Auch hier herrscht dieselbe Verwechslung zwischen Recht und Interesse. Mit dem Recht der Hypothekarien collidirt das Miethrecht schon um deßwillen nicht, weil jenes ja durch den Verkauf an der fubhastirten Sache erlischt und sich in ein Pfandrecht an dem Kaufpreise verwandelt4 ̂ ), das Miethrecht aber, wenn 47) Aus diesem Grunde ist daher auch der Art. 1439 des Prov.« Rechts, welcher die Werthverminderung des verpfändeten Grundstücks be- spricht, nicht aus das Miethrecht anzuwenden, da bei der Gegenseitigkeit dieses Vertrages erst im Ausbottermin zu conftatiren ist, ob der Werth der Sache durch die Vermiethung gesunken ist oder nicht. 48) Provgstzbuch Art. 1260. 49) Etwas Andres ist es natürlich, wenn auf legislativem Wege die Vernichtung der Dinglichkeit durch die gerichtliche Versteigerung decretirt wird. Vgl. Oesterr. Gefetzbuch § 1121. 254 überhaupt, nur an der Sache weiter existiren kann. Ein Mieth- recht an den hyperochis ist undenkbar. Wie ließe sich ferner der Fall construiren, wenn das Miethrecht nur theilweise die Interessen der Pfandgläubiger bei der Subhastation schädigt? Wenn das durch die Existenz des Miethrechts verminderte An- gebot nur einen Rubel weniger beträgt, als die Summe der vorstehenden Hypotheken? Erlischt in diesem Fall das ganze Mieth- recht, das ja seinem Wesen nach untheilbar 31) ist, oder nicht? Die Erlöschung des Miethrechts durch die Subhastation ist um so weniger haltbar, als sich nicht der geringste Gesetzes- Punkt ausfinden läßt, durch welchen dieselbe gestützt werden kann. Ja eine solche würde die Bildung eines derartigen Rechts, wie sie der Art. 4045 grade jedem neuen Erwerber gegenüber aufrechterhält, in der Praxis fast ganz illusorisch machen. Der Verkauf der Sache (ohne Unterscheidung des vor Gericht oder nicht vor Gericht vor sich gehenden), ist ja grade das Hauptkennzeichen des dinglichen Mietvertrags gegenüber dem rein persönlichen52). Sott denn aber wirklich, um ber ausgeführten Unzuträg­ lichkeit zu entgehen, bie weit größere statuirt unb bem dominus rei gestattet werben, burch bie beliebige Werthverrninberung ber verpfänbeten Sache bie früheren Pfanbrechte illusorisch zu machen? Mit Nichten. Die Construction bes Satzes erscheint bem Unterzeichneten nur als eine anbere. Jede bingliche Belastung ber Sache enthält bekanntlich eine Art von Veräußerung 63). Es muß baher eine Belastung 50) Provgstzbuch Art. 1434. 51) Wie regelmäßig alle dinglichen Recht-Servituten (Provgstzbuch Art. 1098.) 52) Für Reallasten ist das Weiterbestehen derselben nach der Subhasta- tion sogar ausdrücklich ausgesprochen in Art. 3967. 53) Dies ist in den römischen Quellen häufig ausgesprochen, z. B. bei dem Veräußerungsverbot der res litigiosa. Vgl. Dig. de litig. (44, 6), Arndts Pand. § 57. 255 der verpfändeten Sache ebenso gestattet werden, wie eine theil- weise Veräußerung des Eigenthums derselben, aber ebenso wie bei dieser nur cum onere suo. Die längere oder kürzere Zeit dauernde Alienation eines Theils der im Eigenthum liegenden Befugnisse, wie die Alienation des Eigenthums an einem Realtheil der Sache, sie nehmen naturgemäß die Lasten mit sich, die sie im Ganzen mitgetragen. Mit einem Wort, das Pfandrecht hastet an dem neuen Recht54). Dem Pfandgläubiger war die im Eigenthum befindliche Sache, ganz so wie zur Zeit der Constituirung der Hypothek die Befugnisse des Pfandschuldners an ihr standen, verpfändet worden. Er kann gegen eine Theilung dieser Befugnisse so wenig einwenden, wie gegen eine Veräußerung der Sache, aber sein Pfandrecht lastet auf dem Theil weiter, wie es auf dem Ganzen gelastet. Eine Ausnahme tritt nur ein, wenn er seine Zustimmung zu der Veräußerung, bezw. Belastung ausdrücklich gegeben hatte, da in diesem Fall nach Art. 1425, c des Provgesetzbuchs ein stillschweigender Verzicht des Creditors auf seine Hypothek ge- sehen wird. Kommt nun das dem Pfandgläubiger verpfändete Grund- stück zum öffentlichen Ausbot, so theilt das Miethrecht dessen Schicksal. Es genießt nur in sofern einen Vorzug, als kraft des Rechts der excussio realis 55) der Inhaber des Mieth- rechts verlangen kann, daß der Versteigerer seine Befriedigung zuerst aus dem Object suche, welches der Disposition des eigentlichen Schuldners unterworfen ist. Eventuell erstreckt sich aber der Ausbot auch auf das Miethrecht, das seinem Werths nach, wie jedes andre Recht, vom Bieter geschätzt und dessen 54) In der Art, wie der Art. 1362 auch für das Nießbrauchs- und Wohnungsrecht Verpfändungen zuläßt (das Verkaussrecht involvirend). 55) Vgl. Provgstzbuch 1445. Hier trifft übrigens das Recht der excussio realis und personalis zusammen. 256 hyperocha dem Miether überantwortet Werden müssen 56). Prac- tisch unterscheidet sich daher diese Construction von der Theorie jener, welche durch die Subhastation das Miethrecht erloschen sehen wollen, nur dadurch, daß hier der Miether durch Aus- Zahlung des bei dem Ausbot nicht erreichten Schuldresiduums sich wie jeder Pfandschuldnerä7) von der Versteigerung seines Rechts befreien kann, sowie durch die genaue Trennung der beiden Meistbotsummen, deren zweite hier nicht als Aequivalent für das Grundstück, sondern für das dem Miether zustehende Recht an demselben erscheint. Einen Anklang an die hier versuchte Lösung der Differenz zwischen Psandgläubigern und anderen dinglich Berechtigten enthält auch schon das in Seuffert's Archiv VI, Nr. 16 mit* getheilte Urtheil am 'Schluß, wenn auch die vorhergehende Motivirung sich mehr der ersten hier mitgetheilten Anschauung anzuschließen scheint58). Erst durch die Erhaltung des Miethrechts nach Art. 4045 auch gegenüber dem Pfandrecht hat die Dinglichkeit desselben seine Probe bestanden. So wenig es nun auch im Interesse der modernen Gesetzgebung und des Hypothekencredits liegen kann, durch die Einführung neuer jura in re aliena den Grundstückswerth herabzusetzen, so hat doch dem directen Ausspruch des Art. 4045 keine andre Consequenz entnommen werden können als die hier gezogene. 56) Zur besseren Constatirung der beiden Ausbotpreise wäre eine Tren­ nung in den Ausbotbedingungen, sowie im Ausbot selbst wünschenswerth. 57) Provgstzbuch Art. 1451. 58) In dem bei Seusf. XIV M 214 mitgetheilten Fall wird sogar ausdrücklich, ganz der hier vertretenen Anschauung entsprechend, verlangt, daß der versteigernde Pfandgläubiger sich entscheide, ob er das später consti- Wirte dingliche Recht mitübertragen, also als Separatrecht erlöschen lassen will, widrigenfalls dasselbe von dem neuen Erwerber übernommen werden muß. Mag. C. Crdmaun. VII. Existirt nach heutigem Provinciellen Recht noch eine Znjurienklage ans Abbitte? Eine Criminalinjurienklage auf Abbitte existirt unzweisel- Haft nicht mehr, da dieselbe, im Strafgesetzbuch von 1857 noch erwähnt, in das Strafgesetzbuch von 1866 nicht übergegangen ist. Demnach fällt die gestellte Frage mit der anderen zusammen, ob es nach provinciellem Recht ein Civilinjurienklage auf Ab- bitte giebt. Diese letztere Frage wird von Praktikern bisweilen be- jaht, und zwar im Hinblick auf den Art. 4560 des Prov. Cod. Bd. III, welcher lautet: »Für Ehrenkränkungen — Injurien — kann der Belei­ digte, — abgesehen von den strafrechtlichen Folgen — nur eine Genugthuung durch Widerspruch oder Abbitte verlangen, eine Geldentschädigung — deren Betrag dem richterlichen Ermessen anheimgestellt ist — blos dann, wenn durch die Injurie ihm ein wirklicher Schade ge- wirkt, oder ein Gewinn entzogen worden." Es wird nämlich behauptet, daß in diesen Worten des Gesetzes die Abbitte und der Widerruf offenbar anerkannt würden und weiter argumentirt, daß das bezogene anerkennende Gesetz eben Civilgesetz sei, die Klage auf Abbitte daher auch nur als Civilklage gemeint sein könne. 258 Der Grund, weshalb die Bekenner dieser Ansicht beson- deres Gewicht auf die Tragweite derselben legen, liegt darin, daß sie den Mangel einer Civilinjurienklage nach Abschaffung der actio aestimatoria lebhaft empfinden, indem nur eine solche, nicht aber die Criminalklage ihnen die Möglichkeit gewährt — mit Hülfe der Eidesdelation — Klagen wegen Injurien, die unter vier Augen stattfanden, mit einiger Aussicht auf Erfolg zu erheben. In dem Folgenden soll die UnHaltbarkeit dieser Ansicht dargethan werden. Die Quellen des älteren curländischen Rechts bieten kei- nerlei Anhaltspunkte zur Beurtheilung der vorliegenden Frage, namentlich gilt das von der lakonischen Kürze des § 218 der Stat. Curl. Es mußte demnach auf die subsidiären Bestimmungen des gemeinen Rechts recurrirt werden. Jedoch läßt auch dieses die Frage bekanntlich unentschieden. Wenigstens ist die- selbe stets controvers geblieben, indem ein Theil der Lehrer des gemeinen Rechts, in der Abbitte eine Privatgenugthuung sehend, die auf dieselbe gerichtete Klage der actio aestimatoria an die Seite stellte, ein anderer von einer wahren Criminal- strafe, ein dritter endlich von sogenannten gemischten Strafen spricht. Der letztere Begriff ist um so unfruchtbarer als derselbe keinen Anhaltspunkt dafür bietet, ob diese »gemischten" Strafen criminaliter oder auf dem Wege des Civilprocesses zu ver- hängen seien. Dagegen scheint das piltensche Recht schon in älterer Zeit die Klage auf Abbitte als Criminalklage behandelt zu haben. Es heißt nämlich in den Piltenschen Statuten Th. V tit. 16 § 4 (dieselbe Stelle, welche offenbar als Quelle zum Art. 4560 des Prov. Cod. Bd. III allegirt werden sollte, da der in Wirklichkeit allegirte Th. II tit. 16 §§ 1—4 von »Straßen- 259 Freiheit", also einem gar nicht hierhergehörigen Gegenstande handelt) folgendermaßen: »Und wofern er sie (d. h. die Jnjurienklage) allein auf ein gewiß Gelt, ohn Widerruffen setzet, und daraus Er- kenntniß erfolget, davon ist kein Appellation zuläßig." Wenn es nun in dem »Brief der Königlichen Commission die Piltenfchen Landesgesetze betreffend", gegeben in Hasenpoth den 9ten Mai 1517 im § 13 heißt: »in causis criminalibus honoremque tangentibus libera cuique sit ad S. R. M. appellatio" so dürfte der Schluß nicht all zu gewagt erscheinen, daß, da bei der bloßen actio aestimatoria die Appellation für unstatthaft, dieselbe aber für zulässig erklärt wird sobald die aestimatoria mit der Klage auf Widerruf cumulirt wurde, diese letztere Klage für eine Criminalklage galt. Was aber für den Widerruf, mußte in noch höherem Grade für die Abbitte gelten. So weit die Zeit vor der Covifikation. Der Band I des Prov. Cod. Art. 1462 spricht allerdings von einer Civilinjurienklage. Dies kann jedoch nicht releviren da 1845 unzweifelhaft die actio injuriarum aestimatoria noch statthaft war. Aus dem Vorstehenden dürste sich ergeben, daß man historisch keine Veranlassung hat anzunehmen, daß der Art. 4560 des Prov. Cod. Bd. III eine Civilinjurienklage aus Ab- bitte kenne. Greift diese Annahme trotzdem Platz, so muß man den ausreichenden Grund in diesem Artikel selbst zu finden glauben. Um nun aber vor allen Dingen festzustellen in welchem Geiste an die Interpretation des Art. qn. wird gegangen wer- den müssen, scheint es dienlich das Nachstehende in Erwägung zu ziehen. > 260 Gäbe es eine Civilinjurienklage, so könnte man sich die- selbe nur als obligatio ex delicto denken, aus welcher für den Jnjuriirten ein Forderungsrecht gegen den Injurianten originirt. Bei der actio injuriarum aestimatoria bestand dieses Forterungsrecht in einem Geldanspruch, dessen Befriedigung für den condemnirten Injurianten den Charakter der Privat- strafe hatte. Wäre die Abbitte eine Privatstrafe in diesem Sinne, so wäre sie eben zu leisten, weil der Jnjuriirte durch die Begehung der Injurie ein Forderungsrecht auf Leistung derselben erworben hätte. Da nun aber der Art. 2907 des Prov. Cod. Bd. III als Forderungsrechte nur Rechte auf solche Handlungen anerkennt, die einen Vermögenswerth haben, die Abbitte aber einen Vermögenswerth nicht hat, und selbst mit­ telbar nicht zu haben braucht, so müßte man, wäre in dem Art. 4560 des Prov. Cod. Bd. III die Anerkennung einer Civilinjurienklage auf Abbitte u. s. w. zu sehen, eine Anti- nomie annehmen — was unzweifelhaft nur im äußersten Fall geschehen dürfte. Gestatten die Worte des Art. 4560 eine Interpretation, durch welche die Annahme einer Antinomie vermieden wird? Unserer Ansicht nach muß diese Frage bejaht werden. Der allegirte Art. 4560 ist nämlich offenbar im Hinblick auf die Art. 2086 und 62 des Strafgesetzbuchs von 1857, welches zur Zeit der Abfassung des Prov. Cod. in Kraft war, redigirt worden. Der Art. 2086 setzt im ersten Absatz fest, daß der Injuriant einer Arreststrase auf eine Zeit von 7 Tagen bis zu drei Monaten unterliege und fährt sodann in einem neuen Absatz fort: »und überdieß ist er verpflichtet in Grundlage der im Art. 62 festgesetzten Vorschriften demselben Abbitte zu thun, falls aber der Beleidigte es wünscht, demselben 261 auch das in den Civilgesetzen festgesetzte Sühngeld für die Kränkung zu bezahlen." Art. 62 des Strafgesetzbuchs aber setzt fest, daß auf gleiche Weise wie die Kirchenbuße und die Vermögens- confiscation, mit einigen Correktionsstrafen verbunden werde unter anderem auch die Festsetzung einer an den Beleidigten zu leistenden Abbitte. Liegt es nun nicht nahe genug anzunehmen, daß die Verfasser des Prov. Cod. Bd. III in dem Art. 4560 der Abbitte blos deshalb erwähnen, weil sie betonen wollten, daß wenn sie anch die Klage auf ein Sühngeld, deren das Straf« gesetzbuch erwähnt, aushöben, damit dennoch nnalterirt bleiben solle was das Strafgesetzbuch, allerdings in einem Athem mit dem Sühngelde, über die Abbitte verordnet? Solchenfalls könnte man sagen, daß Art. 4560 der Abbitte wohl erwähnt, jedoch dabei derselben ihren criminellen Charakter nicht habe nehmen wollen. Auch darf hiergegen nicht eingewandt werden, daß es im Art. 4560 heißt »abgesehen von den strafrechtlichen Folgen" kann eine Genugthuung durch Abbitte verlangt werden, woraus hervorgehen solle, daß die Abbitte eben nicht unter die straf- rechtlichen Folgen gerechnet werde. Wie nämlich gezeigt wor- den ist, scheidet der Art. 2086 des Strafgesetzbuchs schon in seiner Fassung die rein strafrechtlichen Folgen einerseits von Abbitte und Sühngeld andererseits, und bezeichnet der Art. 62 die Abbitte nicht als eine Criminal- oder Correktionsstrase — die beiden einzigen Kategorien von eigentlichen Strafen, welche auch das Strafgesetzbuch von 1857 (Art. 18) kennt — wie denn auch bei der Aufzählung der Criminal- und Correktions- strafen, Art. 19 und 34 ibidem, die Abbitte nicht erwähnt wird; sondern Art. 62 nennt die Festsetzung derselben als eine der mit der Verhängung einer Correktionsstrase bisweilen verbundenen Folgen. 18 262 Ist dem aber so, so erscheint es durchaus nicht gezwungen den Art. 4560 dahin zu interpretiren, daß derselbe präciser lauten sollte: »abgesehen von den rein strafrechtlichen Folgen", welchensalls alle Schwierigkeiten augenscheinlich wegfallen. Sieht man sich den Art. 4560 von diesem Gesichtpunkte aus an, so folgt aus demselben nicht sowohl, daß eine Civil- klage aus Abbitte geschaffen werden sollte, sondern vielmehr nur daß die Abbitte, wie sie in Grundlage des Straf- gesetzbuchs bisher bestanden hatte, auch weiter be- stehen bleiben solle — nämlich als eine wirkl iche, wenn auch nicht zu den regelmäßigen Criminal-Strafen gehörige, Strafe. Nachdem nun das Strafgesetzbuch von 1866, hierin dem Beispiel der meisten modernen Strafgesetzgebungen folgend, die, wie schon öfter und überzeugend von Anderen nachgewiesen worden, unzweckmäßige und ungerechte Strafe auf Abbitte aus- gehoben hatte, ist die Criminalklage aus Abbitte natürlich auch weggefallen. Somit kann heutzutage in den Ostseeprovinzen Rußland's auf keine Weise auf Abbitte geklagt werden. / Hätte nun wirklich, was jedoch nicht zugegeben werden kann, in Grund des Prov. Codex Bd. III Art. 4560 jemals eine Civilklage auf Abbitte bestanden, so wäre sie doch durch das Strafgesetzbuch von 1866 als das spätere Gesetz ausge- hoben worden; denn hätte eine solche Civilklage existirt, so wäre sie auf Privatstrafe gegangen: — was als öffentliche Strafe ausgehoben worden ist, kann aber als Privatstrafe nicht bestehen bleiben, weil dadurch des Gesetzgebers Wille, welche die Abbitte als solche verworfen hatte, gleichviel auf welchem Wege der Injuriant zur Ableistung derselben adstrin- girt werde, umgangen worden wäre. So gelangt man denn zu dem Resultat, daß in unseren Provinzen nur Criminalinjurienklagen dem Jnjurnrten zu 263 Gebote stehen, selbstverständlich wenn nicht ein Schadensersatz- ansprnch concurrirt. Daß dieses Resultat das allein wün- schenswerthe ist, braucht, nachdem das Verwerfliche der Privat- strafe so oft dargethan worden, nicht erst begründet zu werden, Oberhosgerichtsadvoeat I. Ichiemann. 18* VIII. Präjudicien der Rigaschen Stadtgerichte aus dem Gebiete des Civil- und des Handelsrechts. (Schluß.) 49) Haftung des Miethers eines zur Lagerung von Waaren bestimmten Speichers für den angeblich durch über- mäßige Belastung herbeigeführten Einsturz desselben. (Art. 4048 u. 4049 des Prov.-Rechts Th. 3.) Kläger hatten dem Beklagten einen über einem Keller be- findlichen Speicherraum vermiethet, welchen Beklagter mit Vor- wissen der Kläger zur Lagerung von Eisen benutzte. Als der die Diele des Speicherraums tragende Gewölbebogen zusam- menbrach und durch das Einstürzen der Diele mit dem daraus lagernden Eisen mehrere in dem unter dem Speicherraum be- legenen Keller ausbewahrte Fässer Wein zertrümmert wurden, forderten Kläger vom Beklagten den Ersatz des ihnen dadurch geursachten Schadens, indem fie behaupteten, der Einsturz sei durch Ueberlastung des Lagerraumes von dem Beklagten verschul- det worden. Dieser hätte nämlich auf einem Flächenraume von einem Quadratfaden circa 100 S.-Pfd. Eisen stanzen ge­ stapelt, welche Last nach dem Gutachten Sachverständiger, auf einen so kleinen Räume vertheilt, kein Gewölbe zu tragen im Stande sei. Das Vogteigericht erkannte hieraus am 18. März 1869 sub M 27 wie folgt: 265 „Bei der Ermittelung, ob die angestellte Klage genügend substantiirt sei, ist davon auszugehen, daß die Gesetze überall, wo sie von dem Einstürze von Gebäuden (ruina) reden, die dadurch geursachten Vermögensnachtheile zur Kategorie des zufälligen Schadens rechnen. cf. 1.1 § 4 Dig. de oblig. et action. 44,7 zu Art. 3438 und Art. 3746 des Prov.-Rechts Th. 3. 1. 5 § 4 Dig. commodati 13,6 zu Art. 3745 a. a. O. Da nun aber nach Art. 4048 a. a. O. die Contrahenten des Mietvertrages für den rein zufälligen Schaden einander nicht zu haften haben, so bedarf es zur Begründung des An- spruchs der Kläger auf Ersatz des ihnen durch den Einsturz des vom Beklagten in Miethe genommenen Speichers erstan- denen Vermögensverlustes der Anführung, resp. des Nachweises gewisser dem Beklagten zur Last fallender tatsächlicher Mo­ mente, aus welchen der Causalzusammenhang zwischen der Art und Weise der Benutzung des in Rede stehenden MiethobjecteS Seitens des Beklagten und dem beschädigenden Ereignisse noth- wendig hervorgeht." „Es würde nun der Beklagte allerdings dann schon er- satzpflichtig erscheinen, wenn klägerischerseits behauptet und nö- thigensalls constatirt wäre, daß ihm die Kläger die Belastung des fraglichen Speichers nur bis auf ein bestimmtes, der Trag- fähigkeit der Speicherdiele entsprechendes Gewicht gestattet und er dieses Maß überschritten hätte, oder daß ihm überhaupt untersagt worden Eisen in demselben zu stapeln, denn in sol- chen Fällen erklären die Gesetze den Miether für ersatzpflichtig, nicht schon weil er das schädigende Ereigniß hätte voraus- sehen können, sondern allein aus dem Grunde, weil er durch die vertragswidrige Benutzung des Miethobjects den Ein- tritt des schädlichen Zufalls überhaupt möglich gemacht habe." cf. Art. 4083 a. a. O. und dessen Quellen: 1.30 § 2,1.11 § 1 und 4, 1.12. Dig. locati 19, 2, sowie Art. 4085 a. a. O. 266 „Daß nun einschränkende Bedingungen in der oben an- gegebenen Weise an den zwischen den Parteien geschlossenen Miethvertrag geknüpft gewesen, ist von den Klägern nicht be- hauptet worden; es ist vielmehr .... wahrscheinlich gemacht worden, daß mit Vorwissen und Genehmigung der Kläger der von ihnen in Miethe vergebene Speicher zu dem fraglichen Zwecke benutzt worden ist. Erscheint mithin die Annahme ge- rechtfertigt, daß der Beklagte zur Stapelung von Eisenwaaren in dem qu. Speicher überhaupt befugt gewesen ist, so kann es sich hier lediglich noch um die Erörterung der Frage handeln, ob der Einsturz dieses Speichers in Folge einer dem Beklagten zur Last fallenden Überlastung desselben eingetreten sei." „Kläger stellen die Behauptung ans, daß der Speicher- einsturz in Folge dessen Platz gegriffen, daß Beklagter auf einen Flächenraum von etwa einem Quadratfaden circa 100 S.-Psd. Eisenstangen gestapelt habe, welche Last, auf einen so kleinen Flächenraum vertheilt, kein Gewölbe zu tragen im Stande sei. Will man nun, der Intention der Kläger entsprechend, anneh- men, daß dieser angebliche Erfahrungssatz dem Beklagten oder dessen Stellvertreter im Miethbesitze in ihrer Eigenschaft als Eisenhändler nicht unbekannt sein durfte und daß ein Zuwi- derhandeln wider denselben, sei es aus Unwissenheit oder Leicht- sinn, unter den Begriff der dem Beklagten zuzurechnenden culpa falle (cf. Art. 3294 und 3296 a. a. O.), so lag es doch jedenfalls, nachdem beklagterseits wider die Asserten der Kläger Widerspruch erhoben worden, den Klägern ob, die Rich- tigkeit jenes angeblichen Erfahrungssatzes, sowie die Uebertre- tung desselben im concreten Falle in Erweis zu setzen. Die- ser Beweis ist aber weder in seinen einzelnen Momenten, noch auch in der angegebenen Richtung als erbracht anzusehen".... (Dies wird sodann näher ausgeführt.) „Wenn daher der Nachweis, daß die Ursache des libel- lirten Schadens eine vom Beklagten zu vertretende culpa 267 gewesen, nicht erbracht ist und somit dahingestellt bleiben muß, ob nicht die Kläger selbst, als Hauswirth und Vermiether des eingestürzten Speichers, sei es durch sorgsamere Prüfung der Tragfähigkeit der von dem Einstürze betroffenen Balken­ lagen und Mauergewölbe, sei es durch rechtzeitige Limitirung des von dem Eisenhändler in den fraglichen Speicher einzu- nehmenden Eisenquantums, die Gefahr des Einsturzes hätten beseitigen können, so haben Kläger mit ihrer Klage zurück- gewiesen werden müssen." Auf klägerische Appellation wurde diese Entscheidung durch Appellationsurtheil vom 2. Juli 1869 M 4719 bei dem Bemerken bestätigt, daß den unterrichterlichen Entschei- dungsgründen nur in allen Stücken beigetreten werden könne. 50) Der Anspruch des Pachters auf Erlaß des Pachtzinses wird, sofern die übrigen Voraussetzungen desselben vorliegen, nicht dadurch ausgeschlossen, daß der den- selben begründende Unfall durch die Schuld eines Dritten hervorgerufen worden ist. (Art. 4075 und 4076 des Prov.-Rechts Th. 3.) Wir entnehmen den Entscheidungsgründen eines Erkennt- nisses der I. Section des Landvogteigerichts vom 19. Juni 1869 M 108: „Ein Erlaß des Pachtzinses soll nach Art. 4075 1. c. dann eintreten, wenn die gepachtete Sache wegen eines Ereig- nisses, welches vom Pachter weder veranlaßt noch verschuldet war, nicht genutzt werden konnte; insbesondere, wenn bei einer Landpachtung der Pachter durch außerordentliche Ereignisse ei- nen bedeutenden Verlust an den Früchten erlitten hat. Unter den hier in Betracht kommenden Ereignissen führt die allegirte Gesetzesstelle die Ueberschwemmnng ausdrücklich an; daß aber der Anspruch des Klägers auf einen Pachtnachlaß deshalb cessire, weil die stattgehabte Ueberschwemmung durch einen Damm­ 268 oder Brückenbau Seitens des Cassa-Collegiums entstanden war, ist nicht richtig. Der Art. 4075 cifc. stellt in Übereinstim­ mung mit den gemeinrechtlichen Quellen für die Remission des Pachtgeldes die Voraussetzung hin, daß der Pachter an der Perception der Früchte durch ein von ihm nicht verschul- detes, außerordentliches Ereigniß verhindert worden ist, welche Voraussetzung — wie im Art. 4076 noch speciell her­ vorgehoben wird — dort fehlt, wo der Pachter den Verlust der Früchte durch Anwendung gehöriger Sorgfalt abwenden konnte oder wo dieser Verlust von der natürlichen schlechten Beschaffenheit der gepachteten Sache herrührt oder endlich in, nach dem regelmäßigen Lauf der Dinge, gewöhnlichen Zufäl- len seinen Grund hat. Der Pachter kann hiernach z. B. keine Ansprüche wider den Verpächter erheben, wenn eine Ueber- schwemmung durch die von ihm unterlassene Reparatur von Schleusen oder Dämmen veranlaßt worden oder wenn das Pachtgrundstück in Folge seiner Lage al l jährl ich wieder- kehrenden Überschwemmungen ausgesetzt ist, fal ls nicht etwa der Verpächter diesen Umstand argl ist ig verschwiegen hat. Fal ls aber ein vom Pachter nicht verschuldetes, außeror- deutl iches Ereigniß vorl iegt, so kommt darauf, ob dasselbe den Wirkungen der Naturkräfte oder etwa dritten Personen zuzuschreiben ist, weiter nichts an, sondern es hat der Verpächter den entsprechenden Er- laß des Pachtzinses zu gewähren und es steht ihm nur zu wegen des durch den Ausfal l am Pachtzinse erl i t tenen Schadens den Drit ten auf Ersatz zu be- langen, sofern diesem ein schuldvol les Verhalten beigemessen werden kann. Es folgt dieser Grundsatz dar- aus, daß der Art. 4075 cit. schlechtweg von „Überschwem­ mung" und „Feuer" spricht, ohne irgend wie einen Unterschied hinsichtlich der Fälle zu statuiren, wo die Überschwemmung fahr- lässiger Weise von dritten Personen herbeigeführt oder das 269 Feuer von dritten Personen angelegt worden ist, und daß ebenso im Art. 4076 dt., welcher die näheren Voraussetzun- gen der Anwendbarkeit des Art. 4075 angiebt, eine derartige Ausnahme nicht erwähnt, sondern nur verlangt wird, „daß der Schaden unabwendbar" sei. Hierbei ist aus 1. 15 § 2 Dig. locati XIX, 2 Bezug genommen, welche den allgemeinen Satz ausspricht: oinnem vim, cui resisti non potest, domi­ num colono praestare debere *). 51) Zur Auslegung des zweiten Absatzes des Art. 4116 des Prov.-Rechts Th. 3. In den Motiven eines Querelbescheides des Rigaschen Raths vom 3. Oktober 1866 M 9645 kommt hierüber vor: „Der Art. 4116 1. c. giebt dem Bermiether das Recht, einseitig die Aufhebung des Contracts zu verlangen, wenn der Miethzins nicht in dem vertragsmäßigen oder gesetzlichen Ter- min erlegt wird. Derselbe Artikel sagt weiter, daß die Ver- säumuiß gutgemacht werden könne, wenn die Zahlung ange- boten werde, ehe auf die Lösung des Verhältnisses geklagt wor- den sei ... . Wenn nun das Gesetz bestimmt, daß die Ver- säumniß durch Anerbieten der Nachzahlung wieder gutgemacht werden könne, so kann unter einem solchen mit dieser Rechts- Wirksamkeit ausgestatteten Anerbieten nicht ein blo-ßes Ver- sprechen, zahlen zu wollen und zu werden, verstanden werden, sondern vielmehr ein Bringen und ein Anerbie- teil der zu zahlenden Summe selbst, da nur hierdurch die wirklich beabsichtigte Erfüllung des Contracts und die purga- tio morae dargelegt wird (vgl. Art. 3313 1. c.). Daß Queru­ lantin dies gethan habe und daß die Empfangnahme der osfe- ritten Summe verweigert worden sei, ist von ihr nicht be- hauptet worden; ein bloßes Sagen, sie wolle bezahlen, kann *) Vgl. Seufsert, Pandekten § 330, Holzschuher, Theorie und Kasuistik, 3. Aufl. III, S. 875. 270 aber zur Aufhebung des durch die im Termine unterbliebene Zahlung begründeten Rechts nicht hinreichend erscheinen." 52) Inwiefern kann der Miether die Räumungsklage des Vermiethers wegen unterbliebener Miethzahlung durch die Einrede des nicht erfüllten Vertrages oder der Compensation abwehren? (Art. 3213, 3552 und 4116 des Prov.-Rechts Th. I.) Nachdem früher schon in Entscheidungen der Untergerichte, sowie auch der Appellations-Jnstanz (vgl. namentlich das App.- Erk. des Rigaschen Raths vom 23. November 1866 M 11292) wiederholt ausgesprochen worden war, daß der Miether sich der von dem Vermiether wegen unterlassener Entrichtung des Miethzinses im Termin aus Grund des Art. 4116 des Prov.- Rechts Th. 3 angestellten Klage auf Auflösung des Miethver- träges und Räumung des Miethlocales gegenüber auf Ge- genforderungen an den Vermiether, welche ihm aus einem anderen Rechtsverhältnisse zustehen, nur dann mit Erfolg berufen könne, wenn in Betreff derselben alle für die Compensation gesetzlich geforderten Voraussetzungen und namentlich die der Liquidität vorlägen, während illiquide Gegenansprüche ad separatum zu verweisen seien, ist neuer- dings auch mehrfach die Frage Gegenstand der Beurtheilung der städtischen Gerichte gewesen, wie es sich mit den Gegen- forderungen ex eadem causa verhalte und ob namentlich der Räumungsklage die Einrede des nicht erfül l ten Ver- träges entgegenstehe, wenn diese z. B. darauf gestützt wird, daß die vermiethete Sache mit Mängeln behaftet oder dem Miether nicht al les dasjenige übergeben worden sei, was er nach dem Vertrage habe erhalten müssen. So machte in einem Falle der Beklagte, welcher von der Klägerin ein Budeulocal nebst mehreren dazu gehörigen Räum- lichkeiten vom 20. October 1868 ab gemiethet, die am 20. April 271 1869 zu pränumerixende Miethquote aber nichf entrichtet hatte, wider die von der Klägerin unter Berufung auf den Art. 4116 des Prov.-Rechts Th. 3 angestellte Räumungsklage einrede- weise geltend: die ihm vermietheten Localitäten seien ihm am 20. October 1868 dem Vertrage zuwider in durchaus Mangel- haftem und den zu erwartenden Gebrauch unmöglich machen* dem Zustande überwiesen worden, wodurch er genöthigt gewe­ sen sei, sie für eigene Rechnung in Stand setzen zu lassen. Außerdem habe er wegen der schlechten Beschaffenheit des Back- osens 3 Wochen lang kein Brod backen können und durch die Feuchtigkeit des Budenlocals einen namhaften Verlust an sei- nen Vorräthen erlitten. Da ihm auf solche Weise ein Scha- den von mindestens 75 Rbl. erwachsen sei, so halte er sich unter Hinweisung auf die Art. 3213. 4053. 4054. 4058 und 4059 1. c. für berechtigt, die von ihm am 20. April 1869 zu entrichten gewesene Miethquote so lange zurückzuhalten, bis Klägerin ihre Verpflichtungen ihm gegenüber erfüllt und den geursachten Schaden ersetzt haben werde. Die I. Section des Landvogteigerichts erkannte hieraus, nachdem Klägerin die behauptete Mangelhaftigkeit der vermietheten Localitäten in Abrede gestellt hatte, am 5. August 1869 sub M 137 wie folgt: „Nach dem vom Beklagten allegirten Art. 3213 1. c. hat der aus einem zweiseitigen Vertrage Klagende entweder gehö- rige Erfüllung des Vertrages anzubieten oder zu beweisen, daß er seinerseits den Vertrag erfüllt habe, widrigenfalls ihm die Einrede des nicht erfüllten Vertrages entgegensteht. Ver- mittelst dieser Einrede vermag namentlich auch der Miether die ihm obliegende Leistung so lange zu verweigern, bis der Vermiether die Übergabe des Pachtobjectes bewirkt hat. Ist diese aber erfolgt und es wird von dem Miether nur eine ge- wisse Fehlerhaftigkeit der vermietheten Sache behauptet, so kann, wenn die Verweigerung der Annahme der letzteren unterlassen 272 und auch die gesetzlich statthafte Auflösung des Vertragsver- hältnisses (Art. 41221. c.) nicht in Anspruch genommen wurde, — der Miether seinerseits nur eine Entschädigungsforde- rung geltend machen oder eine Herabsetzung seiner Ge- genleistung verlangen (Art. 4059 u. 4060 1. c.), nicht aber unter dem Vorwande der Retention alle Gegenleistung verwei- gern, weil er durch den fortgesetzten Besitz nnd Genuß des Miethobjectes sich auf Kosten des Vermiethers unbillig berei- chern würde und die in dem Art. 3213 1. c. gewährte Befug- niß eines Kontrahenten, bei einem zweiseitigen Vertrage bis zu seiner Befriedigung seine Leistung noch zurückzuhalten, wo es sich um eine Geldzahlung handelt, als ein wahres Reten­ tionsrecht gar nicht betrachten läßt." „Da nun Beklagter den Empfang der vermietheten Lo- calitäten zugestanden und nur die fehlerhafte Beschaffenheit der- selben behauptet hat, so kann er sich auf den Art. 3213 1. c. zu seiner Verteidigung nicht berufen, sondern lediglich Scha- denersatz auf Grund des Art. 4059 1. c. beanspruchen. Die fragliche Entschädigungsforderung kann nun nach Art. 3547 1. e. freilich auch im Wege der Compensation gegen die klägerische Miethsorderung geltend gemacht werden, verausgesetzt, daß die im Art. 3546 1. c. angegebenen allgemeinen Erfordernisse für die Zuläfsigkeit der Compensation vorliegen. Da aber nach Art. 3546 u. 3552 1. c. die Aufrechnung von Gegenforderung gen des Schuldners wider den Willen des Gläubigers nur ge- fchehen darf, sofern dieselben liquid, d. h. so beschaffen sind, daß ihre Feststellung keine unbillige Verzögerung für den kla- genden Gläubiger mit sich führt, da ferner die Miethsorderung der Klägerin auf einem guarentigiirten Dokumente beruht, in dessen § 2 ausdrücklich die Entrichtung baarer Zahlung des Miethzinses stipulirt ist, und da klägerischerseits die Existenz der vom Beklagten behaupteten Mängel vollständig in Abrede gestellt worden ist, so kann Beklagter nicht für berechtigt er­ 273 achtet werden, die vertragsmäßige baare Miethzahlung unter Vorschützung ihm zustehender gänzlich illiquider Gegenansprüche zu verweigern, sondern war es seine Sache, diese Gegenansprü- che, nachdem er seine contractliche Leistung bewerkstelligt hatte, im Wege Rechtens auszuführen. Mit der Unterlassung der Miethzahlung im Fälligkeitstermin hat sich daher Beklagter einer Versäumniß schuldig gemacht, welche die Klägerin nach Art. 4116 1. c zum einseitigen Rücktritte von dem Mieth- vertrage berechtigt und ist deshalb Beklagter, unter Verweisung seiner angeblichen Entschädigungsansvüche ad separatum, Al vernrtheilen gewesen, binnen 14 Tagen bei Vermeidung Hilfe Rechtens die gemietheten Localitäten zu räumen und die rück- ständige Miethe bis zum Räumungstage nebst den erweis- lichen Proceßkosten der Klägerin zu bezahlen." Vorstehendes Erkenntnis? wurde auf beklagtische Appella- tion in dem App.-Erk. des Rigaschen Raths vom 19. Novbr. 1869 M 8255 unter Verweisung auf die Entscheidungsgründe der Unterinstanz lediglich bestätigt. Vollkommen übereinstimmend mit der in Obigem darge- legten Auffassung wurde übrigens von der I . Section des Landvogteigerichts auch in Fällen erkannt, wo der Klage keine gnarentigiirte Urkunde zu Grunde lag, sondern der Be- klagte den Abschluß des Mietvertrages selbst zugestand, und zwar in einem Erkenntniß vom 12. August 1869 und in einem Erkenntniß vom 20. November 1869 M 222, von denen erste- res durch Appellationsurtheil vom 26. November 1869 M 8418 oberrichterlich unter Billigung der obigen Motivirung bestätigt wurde, letzteres aber in Rechtskrast überging. Desgleichen hat das Vogteigericht wiederholt z. B. in Erkenntnissen vom 11. Januar 1868 M 3, vom 11. November 1868 M 95, sich dahin ausgesprochen, daß die von dem Ver- miether aus Grund des Art. 4116 cit . angestel l te 274 Räumungsklage durch i l l iquide Gegenforderungen des Miethers nicht el idirt werden kann, gleichviel ob dieselben aus dem Mietverträge selbst oder aus anderen Rechtsverhältnissen entspringen, sondern daß solche Gegenansprüche von dem Miether besonders auszusüh- ren sind. Abweichend von dieser in den vorhin angeführten Prä- judicateu ausgesprochenen Ansicht wurde jedoch in der Ap- pellationsinstanz folgender Fall beurtheilt. Der wegen des für 2 Termine rückständigen Pachtzinses auf Räumung und Pachtzahlung belangte Pachter eines länd- lichen Grundstückes hatte eingewandt, Kläger habe unter dem Vorwande die betreffenden Räumlichkeiten besichtigen zu wol- len, sich von ihm sämmtliche Schlüssel zu den Wohn- und Wirtschaftsgebäuden ausliefern lassen, dieselben aber nicht wiederum zurückgegeben, sondern diese Gebäude einem Ande- ren verpachtet, so daß Beklagtem nur drei Zimmer, ein Theil eines Pferdestalles und ein Theil eines Kuhstalles zur Be- nutzung verblieben seien. Beklagter könne sich also zur Be- zahluug der ganzen Pachtsumme nicht für verpflichtet erachten. Die II. Section des Landvogteigerichts hielt in dem Erkenntnisse vom 16. Januar 1869 M 7 diese Thatsachen, da sie den Beklagten gemäß Art. 4054 des Prov.-Rechts Th. 3 zwar zu einer Schadenersatzforderung berechtigten, diese aber ihrer Existenz, wie ihrem Betrage nach vollkommen illiquid sei, nicht für geeignet, den Anspruch des Klägers aus Zahlung der fälligen Pachtquoten und Aufhebung des Vertrages zu zerstö- ren und verwies den Beklagten, welchen es im Uebrigen auf Grund des Art. 4116 cit. zur Räumung des Pachtobjectes verurtheilte, dieserhalb zur besonderen Ausführung. Auf be- klagtische Appellation wurde aber dieses Erkenntniß oberrich- terl ich am 30. Apri l 1869 sub M 3147 aufgehoben 275 und dem Kläger der Beweis dessen, „daß er dem Beklagten die nach Maßgabe des Vertrages ihm zu überlassenden Räum- lichkeiten auch wirklich eingeräumt habe", dem Beklagten aber der Beweis des angeblich erlittenen Schadens aufgegeben. Die Entscheidungsgründe lauten, so weit sie hier von Interesse sind, wie folgt: „Die Berechtigung des VerPachters zur Forderung des vollen Betrages des verabredeten Pachtzinses ist nur dann begründet, wenn er die ihm obliegende Verpflichtung (Art. 4053 und 4058 1. c.) zur Einräumung der verpachteten Sache mit allem Zubehör seinerseits erfüllt hat. Die Forderung aus den Pachtzins wird daher, ganz oder zum Theil, aufgehoben, wenn von Seiten des Verpächters dieser Verpflichtung nicht nachge- kommen ist. Der Art. 4075 1. c. sagt ausdrücklich: die Ver­ bindlichkeit zur Entrichtung des Pachtzinses fällt ganz oder zum Theil hinweg, wenn die Sache wegen eines Ereignisses, wel- ches von dem Pachter weder veranlaßt, noch verschuldet war, nicht genutzt werden konnte, und rechnet zu solchen Ereignissen namentlich den Fall, wo die Nutzung der Sache in ihren we- sentlichen Theilen geschmälert wird." „Das Maß, bis zu welchem bei der Art gestörter Pacht- nutzung die Verbindlichkeit zur Entrichtung des Pachtzinses in Wegfall kommt., richtet sich selbstverständlich nach dem Um- fange des Interesse, welches der Pachter an der Vollständig- feit der dem anderen Theile obliegenden Gebrauchseinräumung hatte. Denn der Verpächter ist dem Pachter zum Schadens- ersatz verpflichtet, insoweit der Pachter an dem Genüsse der verflichteten Sache durch des Verpächters Schuld gestört wird (Art. 4054 1. c.). Mit Rücksicht hierauf kann bei unvollstän- diger Erfüllung eines Pachtcontractes Seitens des Verpächters, resp. bei Nichteinräumung eines Theiles der verpachteten Sa­ che, eine Verbindlichkeit des Pachters zur Entrichtung des Pacht- zinses auch nur bis zu dem Maße statuirt werden, als nicht 276 der Betrag des eontractlich stipulirten Pachtzinses durch den Schaden ausgewogen wird, welcher in Folge der Unvollstän- digkeit der Contraetersüllung für den Pachter erwachsen ist. Vollständig befreit von der Verbindlichkeit zur Pachtzinsent­ richtung kann dagegen der Pachter nur dann erscheinen, wenn daraus, daß der Pachter den Pachtcontract nicht gehörig er- füllt hat, für den Pachter ein, die Pachtzinsforderung des Ver- Pachters aufwiegender Schaden erwachsen ist." „Diesen, der Pachtzinsforderung des Verpächters im Falle unvollständiger Einräumung des Pachtobjects gegenüberstehen- den Schadenstandsanspruch kann der Pachter, da durch denselben das Maß der dem Verpächter zustehenden Pachtzins- fordernng modif icirt wird, durch die Einrede des nicht vollständig erfül l ten Vertrages zur Geltung brin- gen. Wendet nämlich der Pachter gegen die Klage ein, daß auf Seiten des Verpächters eine unvollständige Contracts- erfüllung vorliege, so kann diese Einrede für den Pachter doch nur dann den Effect vollständiger oder theilweifer Befreiung von der Verbindlichkeit zur Pachtzinszahlung haben, wenn der Umfang des aus der UnVollständigkeit der Contractserfüllung erwachsenden Schadens angegeben und nachgewiesen wird. — Den Pachter, wenn ihm das Pachtobject nicht seinem ganzen Umfange nach eingeräumt worden ist, unter Verweisung seiner Schadensersatzforderung zur separaten Klage, für schuldig zu erachten, den vollen Betrag des stipulirten Pachtzinses zu be- zahlen, — entspricht nicht der Bestimmung des Art. 4075 1. c., wonach in solchem Falle die Verbindlichkeit zur Entrichtung des Pachtzinses, ganz oder zum Theil, wegfällt. Wird nun aber der Umfang, bis zu welchem in einem solchen Falle die fragliche Verbindlichkeit in Wegfall kommt, durch das Interesse des Pachters an der unterbliebenen Leistung des Verpächters, d. h. durch den Schaden desselben, bestimmt, so kann der Scha- denstandsanspruck, welchen der durch unvollständige Contracts- 277 erfüllung Seitens des Verpächters beschädigte Pachter gegen die Pachtzinsforderung des Elfteren vorschützt, um so weniger zur separaten Action verwiesen werden, als dieselbe ein zur Substantiirung der Einrede des nicht vollständig erfüllten Eon- tractes gehöriges Moment ist und datier in demselben Pro­ teste erledigt werden muß, in welchem diese Einrede gebraucht worden ist." „In dem vorliegenden Falle enthält die von dem Be- klagten vorgeschützte Einrede der unvollständigen Contracts- erfüllung zunächst die Erklärung, daß Kläger, der Verpächter, den größten Theil der Wirtschaftsgebäude des mit allem Zu- behör verpachteten Höschens S. dem Pachter vorenthalten habe. Da durch diese Erklärung ein Theil des Klagegrundes in Ab- rede gestellt wird, so muß dem Kläger aufgegeben werden zu beweisen (Art. 3213 1. c.), daß er seinerseits Alles erfüllt habe, wozu er contractlich verbunden war. Gelingt dem Kläger die- ser Beweis, so ist durch denselben die Einrede des Beklagten vernichtet und die hierauf gegründete Weigerung zur Bezah- lung der stipulirten Pachtquote hat allen Grund verloren. Gelingt dieser Beweis dagegen dem Kläger nicht, so folgt dar- aus nach Art. 4075 1. c., daß Kläger den vollen Betrag deS stipulirten Pachtzinses zu fordern nicht berechtigt ist. Ebenso- wenig hat aber auch Beklagter, welcher sich einen Theil der ihm zugesagten Leistungen hat bieten lassen, nun das Recht, die ihm dafür obliegende Gegenleistung vollständig zu versagen. Es tritt daher die Notwendigkeit der Feststellung des aus der UnVollständigkeit der klägerischen Leistung für Beklagten er- wachfenen Schadens und der Aufrechnung des bezüglichen Schadensbetrages gegen den Betrag des stipulirten Pachtzinses ein und ist daher mit Rücksicht auf dasjenige, was der Be- klagte nächst der Erklärung, daß ihm Kläger einen Theil der verpachteten Räumlichkeiten vorenthalten habe, zur Substan- tiirung seiner Einrede vorgebracht hat, das weitere Verfahren 19 278 zu regeln. Dieses Versahren besteht in der Hinweisung aus den Schaden, welchen Beklagter dadurch erlitten hat, daß ihm ver- pachtete Räumlichkeiten nicht zur Nutzung überlassen worden sind, daß er in Folge dessen namentlich nicht die für den landwirt­ schaftlichen Betrieb erforderliche Anzahl von Vieh zu halten und das gepachtete Höfchen in der gehörigen Weise zu verwerthen im Stande gewesen sei ... . Daher ist dem Beklagten für den Fall, daß Kläger nicht nachzuweisen im Stande sein sollte, die ihm laut Pachtcontract obliegenden Leistungen vollständig erfüllt zn haben, aufzugeben, seine Schadensansprüche vorbehaltener- maßen auszuführen und den Umfang derselben zu beweisen." „Indem D. judex a quo die Schadensersatzforderung des Beklagten nicht für geeignet hält, dem Ansprüche des Klägers auf Zahlung der fälligen Pachtquote entgegengesetzt zu werden, hat derselbe sich hierzu durch die Erwägung bestimmen lassen, daß die qu. Schadenstandssorderung illiquid dastehe. Es ist jedoch von dem Unterrichter übersehen worden, daß die Pacht- zinsforderung, wegen deren Nichtentrichtung er den Beklagten zur Räumung verurthei l t hat, nicht minder i l l iquid ist. Denn indem Beklagter in Abrede stellt, daß Kläger seinerseits dasjenige geleistet habe, wofür derselbe den Pachtzins fordert, nöthigt er denselben zu dem Nachweise des Gegentheils, und so lange ein solcher Beweis von dem Kläger nicht geführt wor- den ist, kann Kläger den vollen Betrag des stipulirten Pacht- zinses nicht fordern, mithin auch wegen Nichterlegnng des vol- len Pachtzinses die Aushebung des Pachtverhältnisses nicht be- anspruchen .... Es ist daher unter Abänderung des unter­ richterlichen Erkenntnisses beiden Theilen der Beweis, dem Be- klagten insbesondere der Beweis des von ihm behaupteten Schadens, aufzugeben und von dem Ergebnisse der Beweis- sührung die Rechtfertigkeit des Klageanspruches abhängig zu machen gewesen." 279 53) Der Verpächter darf einseitig die Aufhebung des Ver- träges aus Grund des Art. 4118 des Prov.-Rechts Th. 3 verlangen, wenn der Pachter die vertragsmäßig von ihm zu besorgende Versicherung der verpachteten Gebäude gegen Feuersgefahr unterläßt. Der obige Rechtssatz wurde übereinstimmend in dem Erl. der I. Section des Landvogteigerichts vom 10. Septbr. 1868 M 199 und dem dasselbe bestätigenden App.-Erk. des Riga- scheu Rathes vom 21. März 1869 M 2140 ausgespro­ chen. Die einschlägigen Motive des letzteren entwickeln den- selben folgendermaßen: „Appellant hat gegen die Entscheidung des ersten Rich- ters eingewendet, daß der Art. 4118 nur von dem Falle spricht, daß durch ordnungs- oder contractwidrigen Gebrauch der Pacht- gegenständ „verdorben werde", daß aber die unterlassene Versicherung von Gebäuden jedenfalls nicht als ordnungs- oder contractwidriger Gebrauch bezeichnet, noch weniger durch jene Unterlassung die Gebäude „verdorben" werden können. Nach gewöhnlichem Sprachgebrauche dürste man nun das Un- terlassen einer Vorsichtsmaßregel beim Gebrauch eines Gegen- standes allerdings kaum mit dem Ausdruck „verderben" bezeich- nen: man denkt bei diesen Worten zunächst an eine posit ive Handlung, durch welche das bezügliche Object in eine schlech- tere Beschaffenheit gegen früher versetzt wird." „Um aber entscheiden zu können, ob bei der Anwendung des vorliegenden Gesetzes der stricte Wortlaut desselben den Ausschlag zu geben hat oder ob nicht ein Hinausgehen über die erste Be- beutung des Ausdrucks geboten ist, wird es nöthig sein, ans den Ursprung und den Zweck der Bestimmung näher einzugehen. Als Quelle des Art. 4118 1. c. ist unter anderen aufgeführt die 1. 3. Cod. IV, 65 und heißt eS hier, daß der Verpächter eines Grundstücks vor Ablauf der Pachtzeit den Contract lösen darf, wenn der Pachter schlecht mit dem Pachtobjeete umge­ 280 gangen ist (si male in re locata versatus est). Im fr. 25 § 3 Dig. XIX, 2 heißt es ferner, daß der Pachter stets in Gemäßheit der Pachtvereinbarung handeln solle und unter Ande­ rem für die Erhaltung der Gutsgebäude sorgen müsse (ufc vil- las incorruptas habeat), und endlich in fr. 11 § 2 eocl., daß der Pachter dafür zu sorgen hat, daß er in keiner Beziehung das Recht der Sache (jus rei), noch die Sache selbst (corpus rei) deteriorire oder deterioriren lasse." „Wenn schon die in diesen Stellen gebrauchten Ausdrücke (male in re verBari, deterius facere), welche viel allgemei­ nerer Natur sind, als das deutsche „verderben", — darauf hinweisen, daß die im Art. 4118 1. c. gebrauchte Wendung nicht in der engsten Bedeutung aufzufassen sei, so erhellt das noch deutlicher, wenn man den Zweck des Gesetzes iu's Auge saßt. Der Zweck des Art. 4118 ist aber zweifellos der, den Verpächter vor Schaden zu schützen. Da der Verpächter, als Eigenthümer, ein Interesse an dem Bestände der Sache hat und daran, daß dieselbe einmal möglichst unversehrt in seinen Besitz zurück gelange, so wird ihm gewissermaßen eine Eon- trole über die Art und Weise eingeräumt, wie der Pachter mit der Sache umgeht. Selbstverständlich darf er aber von diesem Recht der Controle, resp. der Einsprache, nur dann Gebrauch machen, wenn ihm selbst aus dem Verhalten des Pachters ein Schade droht. Erstreckt sich z. B. ein etwaniger Mißbrauch der letzteren nur auf die Früchte und Nutzungen der Sa- che, so wird das Interesse des Eigenthümers nicht tangirt und ein einseitiger Rücktritt desselben vom Contracte wäre unmotivirt. Ebensowenig würde eine Lösung des Contracts geboten erschei- scheinen, wenn die Deterioration zwar die Sache selbst trifft, aber unerheblich oder leicht zu heben ist. Hier wäre der Ver- Pachter genügend durch das Mittel der Schadenstandsklage ge­ schützt, da der Pachter omnem diligentiam zu prästiren und jeden culposen Schaden zu ersetzen hat. Ist aber das Der- 281 halten des Pachters ein derartiges, daß dem Pachtobjecte eine nachhaltige, beträchliche Schädigung erwächst, oder wird das- selbe durch Schuld des Pachters in einen Zustand versetzt, wo ihm Verfall oder Untergang droht, dann kann es dem Eigen- thümer nicht zugemuthet werden, bis zum Ablauf der Pacht- zeit zu warten, um dann eine, möglicherweise effectlose Scha- denstandsklage anzustellen, sondern muß demselben zur Wahrung feines Interesses gestattet sein, das Vertragsverhältniß zu lösen." „Ob aber das schädigende Verhalten des Pach- ters in einer Handlung desselben oder in einer bloßen Unterlassung besteht, das kann keinen Un- terschied bewirken. Es ist im Effect jedenfalls dasselbe, ob der Pachter die ihm übergebenen Grundstücke, Häuser ic. durch positives Eingreifen deteriorirt oder die zu ihrem Be- stände notwendigen Maßnahmen — Eultur, Remonte — ver­ absäumt und kann hierbei einzig in Betracht kommen, ob das Verhalten des Pachters, durch welches der Eigentümer gefähr- det wird, jenem zur Schuld anzurechnen ist oder nicht." „Um diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall anzu- wenden, so ist nicht zu bezweifeln, daß der Pachter durch das Unterlassen der ihm contractlich obliegenden Versicherung der Gebäude sich eines nicht geringen Grades von Nachlässigkeit schuldig gemacht hat. Durch die Versicherung werden aller- dings die Gebäude nicht dem Untergange entrückt; es ist aber für den Fall des Unterganges der Ersatz derselben gesichert. Aus diesem Grunde ist auch ein Haus, wenn es versichert ist, entschieden von größerem Werthe, als wenn es nicht versichert ist, — was sich daraus ableiten läßt, daß im ersteren Falle mehr Kosten auf dasselbe verwendet sind, als im letzteren Falle, daß es im ersteren Falle mithin ein größeres Capital repräfentirt." „So treffen denn für den vorliegenden Fall die dem Art. 4118 zu Grunde liegenden Bedingungen zu: Appellant hat dnrch das Unterlassen der Versicherung mit Hintansetzung der 282 contractlichen Abmachung das Pachtobject in einen Zustand versetzt, durch welchen das Interesse des Verpächters wesentlich gefährdet worden ist: das Pachtobject ist wenn auch nicht birect „verdorben", so jebenfalls in seinem Werthe im Vergleich zum ordnungsmäßigen Zustande herabgesetzt worden und das muß dem Sinne des Gesetzes nach genügen, um einen einseitigen Rücktritt des Verpächters vom Vertrage zu rechtfertigen." Victor Zwiugmaun. .